Titel: Unser Antifaschismus
Datum: 1926
Bemerkungen: Originaltitel: "Il nostro antifascismo", publiziert in Culmine Nr. 16, 1926. Deutsche Übersetzung in: A Corps Perdu Nr. 2, 2009.

Die antifaschistische „Armee“ wächst erschreckend an. Sie schwillt an wie eine trübe Schlammflut, die all die Überreste des Sturmes mit sich reißt, all den Ausschuss des diktatorischen Regimes (Sala, Fasciolo, Bazzi, Rossi, Rocca[1]), diesen düsteren Haufen von Abenteurern.

Ricciotti Garibaldi, Raimondo Sala und andere berühmte, etwas verhülltere Personen (wozu auch die Brüder Ezio und Peppino Garibaldi gezählt werden sollten, und sei es nur, um dieses Geschlecht von Verrätern nicht zu leugnen, die der Sohn des seit kurzer Zeit verschwundenen Helden der beiden Welten[2] so gut zeugte) sind dabei, den selben schändlichen Verrat über uns ergehen zu lassen, den sie so gut unter dem roten Hemd verhüllten.

Wer kann uns schließlich versichern, dass morgen nicht irgendein Ex-Faschist, trotz der lächerlichen Maßnahmen, die der Infantilismus des Duce lancierte, zurückkehrt, um den Rängen der Totenköpfe wieder beizutreten, um sich noch einmal in den Dienst des Juge Iscariote [Mussolini] zu stellen? Können wir unser Vertrauen eines Tages einem Massimo Rocca[3] zurückgeben, aufgrund der schlichten Tatsache, dass er die am meisten anklagenden Texte gegen den Führer der Schwarzhemden geschrieben hat?

Können wir wieder Vertrauen aufbauen gegenüber so viel verkörperter Schändlichkeit? Gegenüber Menschen, die geboren sind, um zu verraten, uns genauso wie die Faschisten? Gegenüber Menschen die den Auftragsmördern halfen ihre Waffen zu schleifen? Ich glaube nicht!

Unser Leidensweg ist sehr schwer gewesen, zu oft haben wir unser Vertrauen schon in die Hände des erst besten Abenteurers gelegt, als dass wir noch einmal dieselben Fehler begehen und erneut falschen Idolen vertrauen würden.

Wir müssen diese Elendigen weit von uns stoßen. Diese Alchemisten der Aufrichtigkeit anderer sind einzig der faulsten Affären würdig; diese Schurken, die noch immer im Blut der Opfer baden, einem Blut, das sie entlang des Weges, den sie begingen, im Überfluss vergossen haben.

Wir müssen uns selbst bleiben – ohne die rote Tscheka und ohne die schwarze Tscheka, ohne Fasciolo und ohne Rossi, und ohne die pseudo-revolutionäre Politikerbande – uns selbst sein, Anarchisten aus Überzeugung, Anarchisten in Überzeugung, Anarchisten mit Überzeugung.

Was die anderen betrifft: Genauso gut wie sie sich heute in dem Schmelztiegel aller Niederträchtigkeit ergötzen können und sie sich heute selbst als Antifaschisten bezeichnen, um sich einen größeren Anteil vom Erbe zu sichern, wenn der Faschismus stirbt, können sie morgen, wenn sie endlich am Hebel sitzen, ihrerseits eine andere faschistische Politik führen.

Wir können sie nicht davon abhalten, sich Antifaschisten zu nennen. Dass sie sich erregen, dass sie sich küssen, dass sie sich Lieben, und dass sie sich umschlingen, gewiss, aber nur unter sich. Ohne uns mit diesem Wort anzustecken oder zu imitieren: Antifaschismus, ein Wort, das für uns einen Sinn enthält, der revolutionärer, erhabener und aufständischer ist.

Mit ihnen – genauso wie mit den Faschisten – wird es niemals eine Versöhnung geben können. Auf gleiche Weise wie die Heerscharen des Totenkopfes von heute, sind sie gestern (ja, sie, die heutigen Antifaschisten, die Opponenten und politischen Flüchtlinge, sie, die in dem übel riechenden Sumpf der vorhergehenden Periode vor sich hin gelebt haben) Zuhälter gewesen, sie lebten in den Kulissen des Viminale[4] oder in den Kammern des Parlaments, während sie das Regime und seine Schandtaten guthießen oder unterstützten.

Wir müssen fern von ihnen bleiben und gleichermaßen jeglichen Kontakt mit irgendwelchen Abenteurern verweigern, denn sie können von einem Moment auf den anderen zu den schlimmsten unserer hinterhältigen Gegner werden, zu den abscheulichsten Giftspeiern, wie Schlangen, die kommen, um sich in unserem Schoße zu nesteln und uns anschließend mit ihrem tödlichen Biss verwunden.

Unsere Tatkraft, eine überschwängliche Lebenskraft, eine endlose Hartnäckigkeit, äußerster Heldenmut und eine Aufopferung die sich jenseits des Ruhms erhebt, sind das uneinnehmbare Fundament, worauf wir zählen können, ohne irgendetwas oder irgendjemanden zu benötigen, um die letzte Schlacht zu liefern, die wir gegen den Faschismus aufgenommen haben.

Lasst uns dem Plebs – wovon wir der rebellierende Teil sind – den Mut und das Vertrauen geben, lasst uns aus Eisen sein, vor unserem Bewusstsein als Akraten, lasst uns keinen Daumenbreit von dem Fundament unserer Ideen zurückweichen und die schönsten Siege werden unser eifriges Agitationswerk krönen.

Frei, ohne den unflätigen Spott von unreinen Kontakten, stets auf der Hut bleibend vor dem Faschismus und vor dem Gelegenheits-Anti-Faschismus.

[1] Es handelt sich um Ex-Faschisten, einer abscheulicher als der Andere, die aufgrund von internen Meinungsverschiedenheiten in Mussolinis Regime im Exil endeten. Raimondo Sala und Massimo Rocca waren beispielsweise Mitglieder von Italia Libera (monarchistische und nationalistische Strömung) bevor sie ins Exil mussten. Bazzi und Rossi, zwei Ex-Mitglieder der Parti Fasciste, befanden sich bereits in Frankreich im Exil: Ihr Name wurde berühmt, als sie im März 1926 in Paris von Mingrino angegriffen wurden, einem Ex-Abgeordneten der Sozialisten und dem Begründer der Arditi del Popolo, der von faschistischen Diensten manipuliert wurde.

[2] Giuseppe Garibaldi (1807-1882) wird aufgrund seines bewaffneten Beitrags zur Wiedervereinigung Italiens, offiziell als einer der Väter der Nation betrachtet. Er bekam den Beinamen „Held der zwei Welten“, für seine Kämpfe in Europa sowie auch in Südamerika (Brasilien, Uruguay, Argentinien). Sein vierter Sohn, Riciotti (1894-1924), endete, nachdem er am Kopf der gariballdistischen Legionen in Frankreich (1870) und in Griechenland (1897, 1912) gekämpft hat, damit, dem Faschismus beizutreten. Einer der hier angemerkten Söhne von Ricotto, Peppino Garribaldi (1879-1950), war Söldner für zahlreiche Armeen (Britisches Weltreich gegen die südafrikanischen Buren 1903, Venezuela, Französisch-Guayana, Mexiko gegen den Diktator Diaz 1910, Frankreich gegen die Deutschen 1914/15 und darauf Italien gegen Österreich 1915/18) bevor er 1922 sehr konfuse Handlungen gegen Mussolini unternahm, vorallem mit der Unterstützung von Freimaurern.

[3] Massimo Rocca (1884-1973) ist ein gutes Beispiel dieser, von Di Giovanni verschmähten Personen. Nachdem er in anarchistischen Publikationen geschrieben hat, schloss er sich den Sozialisten um die Tageszeitschrift Avanti! an, worauf er Position für die Teilnahme Italiens am Krieg („Interventionismus“) ergreift. Rocco wechselt folglich zu der Zeitschrift die von Mussolini errichtet wurde (Popolo d’Italia), bevor er fortfährt, indem er einer der Gründer von Mouvement Fasciste (1919) und darauf der Parti Fasciste (1921) wird. 1923 gründet er in interner Opposition zum Faschismus die sogenannte „revisionistische“ Strömung, die sich den „Unbeugsamen“ entgegenstellt. 1924 wird er aus der Parti Fasciste ausgeschlossen, muss sein Abgeordnetenmandat abtreten und nach Frankreich flüchten.

[4] Viminale: italienischer Präsidentenpalast