Titel: Über Einsamkeit
AutorIn: Gross, Otto
Datum: 1920
Quelle: Gescannt aus: Otto Gross, Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe, Edition Nautilus 2000: Drei Aufsätze über den inneren Konflikt, 2. Aufsatz.
Bemerkungen: Abgeglichen mit der Erstveröffentlichung in Abhandlungen aus dem Gebiete der Sexualforschung. Band II, Heft 3; A. Marcus & E. Webers, Bonn 1920. In der Veröffentlichung von Ed. Nautilus wurde der Sperrdruck im Original nicht beachtet, hier wird der Sperrdruck des Originals kursiv wiedergegeben.

Im folgenden ist ein populäres »Kosmos«-Referat, welches mir eben zur Verfügung steht, im Wortlaut wiedergegeben; es bezieht sich auf Forschungsergebnisse eines Kinderarztes Prof. Ibrahim, die mir gerade für unsere Probleme entscheidend scheinen.

»In einer alten Chronik steht eine seltsame Geschichte. Friedrich II., der romantische Hohenstaufenkaiser, warf die Frage auf, in welcher Weise sich Kinder miteinander verständigen würden, die niemals ein gesprochenes Wort gehört hätten. Er ließ zur Lösung dieser Frage eine Anzahl verwaister Säuglinge von Ammen aufziehen mit dem Befehl, sie zwar mit allem bestens zu versorgen, aber niemals ein Wort oder eine Liebkosung an sie zu richten. Des Kaisers Frage blieb ungelöst; die Kinder starben. Sie konnten, sagt die Chronik, nicht leben ohne den Beifall und die Gebärden, die freundlichen Mienen und Liebkosungen ihrer Wärterinnen; deshalb nennt man die Lieder, die das Weib dem Kinde an der Wiege singt, den Ammenzauber.«

An der Wahrheit dieser Geschichte kann man zweifeln; ihre Wahrhaftigkeit ist durch die moderne Wissenschaft erwiesen. Ohne Liebe kann ein Kind nicht leben.

Mehr als ehedem müssen in diesen Kriegszeiten Tausende von Müttern ihren Berufspflichten nachgehen und ihre Kinder selbst im zartesten Alter fremder Obhut überlassen. Die verwaisten Säuglinge aufzunehmen, haben sich zahlreiche Horte, Heime und Krippen geöffnet. Die Mehrzahl von ihnen wird einwandfrei geleitet. Sie stehen unter ärztlicher Aufsicht, sind mit allen technischen und hygienischen Einrichtungen der Säuglingspflege ausgestattet, mit Nahrungsmitteln versorgt, von einem geschulten Personal bedient. Und dennoch gedeihen, namentlich bei längerem Aufenthalt, die Kinder in diesen großen Anstalten nicht annähernd so sicher und kräftig wie in mütterlicher Obhut, mag diese auch an Reichtum der Mittel weit hinter jenen zurückstehen. Selbst in der Einzelpflege einer fremden Frau, der sogenannten Ziehmutter, ist das Ergebnis der Kinderzucht bei sonst einwandfreier Versorgung besser, als es bis vor wenigen Jahren in den öffentlichen Anstalten gewesen ist. In diesen verfielen die Kinder fast durchweg einem schleichenden Siechtum, das man als Hospitalkrankheit, Hospitalismus, bezeichnete und das sich bei längerer Anstaltspflege im Nachlassen des Appetits und damit des Wachstums und im Auftreten von Verdauungsstörungen und nervösen Erscheinungen wie Unruhe und Schlaflosigkeit, Neigung zu Katarrhen und Drüsenerkrankungen äußert. Der Hospitalismus war bis vor kurzem die Seuche der Säuglingsheime wie einst der Hospitalbrand in den Wundlazaretten und das Wochenbettfieber in den Geburtsanstalten. Alle Verbesserungen der Pflege, aller Reichtum der Ausstattung, alle zeitgemäße Bekämpfung der Ansteckung wurde des unheimlichen Leidens nicht Herr, bis die gründliche Erforschung des Übels als überraschende Ursache fand: Mangel an Liebe! Die Kinder gehen, wie sich einer der führenden Erforscher des Hospitalismus ausdrückt, an seelischem Hungertode zugrunde, der kindliche Instinkt nach Mutterliebe bleibt unbefriedigt und das Seelchen stirbt dahin. Die zahllosen psychischen und körperlichen Anregungen zu Essen und Bewegung, Wachen und Schlaf, die das glückliche Kind in den Armen der liebenden Mutter empfängt, das Lächeln und Lieben, das Singen und Wiegen, das Aufgehobenwerden von der Mutter nach dem ersten Wimmerlaut der Nacht und das süße Wiederversinken in Träume unter der Flüstermelodie der Hüterin, die Befriedigung, die das Kind empfindet, auf den ersten Schrei nach Nahrung zu gewohnter Stunde an die nährende Brust gelegt zu werden und die halb bewußt-unbewußte erste Wollust des Daseins, saugend am warmen Busen der Mutter zu liegen, all diese traumhaften, kaum empfundenen und doch dem Kinde nötigen Wonnen des ersten Lebens, fehlen dem Kinde der Anstalt. Ihm fehlt der Ammenzauber. Kümmerhaft lebt es im Schatten des Schicksals liebeentbehrend dahin ... Der Mensch ist keine Maschine, die man mit Öl und Kohle speist und nach einem Fahrplan laufen läßt. Ein Pflänzlein ist das neugeborene Kind, das mit Liebe gehegt und gepflegt sein will und das den Sonnenschein beglückten Blickes und die Wärme des liebenden Armes verlangt.

Wie eine schöngeistige ethische Forschung hört es sich an; Naturgesetz ist es, bewiesen duch den wissenschaftlichen Versuch. In der Einzelpflege gelingt es fast ohne Schwierigkeit, ein Kind ohne Muttermilch hochzuziehen. In Tausenden von Fällen ist diese Notwendigkeit eingetreten und überwunden worden. Raubt man dagegen einem Anstaltskind neben der Mutter auch noch dieses köstlichste Gut, das sie dem Kinde nächst dem Leben zu spenden hat, die Milch, die aus dem Borne ihres Busens ihm zufließt, so krankt das Kind nicht nur an jenem Hunger an Liebe, sondern geht rettungslos zugrunde. Bis vor wenigen Jahren ist es in keinem einzigen Fall gelungen, einen Säugling in einer Anstalt mit Fremdmilch allein am Leben zu erhalten. Es gelang erst, nachdem man in allerneuester Zeit als Ursache des Hospitalismus den Mangel an Liebe erkannte und in den Säuglingsanstalten die schematische Massenpflege durch individuelle Einzelwartung ersetzte. Damit war der Weg zur Überwindung des Hospitalismus und zugleich zur allgemeinen Reform der Säuglingspflege gewiesen: jedem Kinde eine Mutter! Ammenzauber in die nüchternen Räume der Anstaltstrachten und Soxlethkocher! Je eine Pflegerin erhält eine beschränkte Anzahl von Säuglingen, die sie, wie eine Mutter ihre Kinder, in ihren Eigenheiten kennen lernen und dementsprechend individuell liebevoll behandeln muß. »Je mehr wir«, sagt Professor Ibrahim in einer kürzlich gehaltenen akademischen Antrittsrede, der die Unterlagen zu diesem Aufsatz entnommen sind, »uns bewußt bleiben, daß wir im Säuglingsheim den Kindern die Mutter ersetzen sollen und je höher wir den Begriff der Mutter einzuschätzen gelernt haben, je bessere Erfolge werden wir erzielen, je weniger wird schließlich von dem Schreckgespenst des Hospitalismus übrigbleiben. Durch diese Wandlung in der Auffassung über Säuglingspflege, die sich in den letzten 20 Jahren vollzogen hat, sind die Heime, die noch im vorigen Jahrhundert mehr Totenstätten denn Pflegestätten für das Leben waren, zu Quellen der Säuglingsgesundheit und damit der Volkskraft geworden.«

Der Wert, der den Ergebnissen Ibrahims für unsere Probleme zukommt, beruht zu einem großen Teil in der Beweiskraft der vorgeführten Tatsachen für die Richtigkeit psychoanalytischer Lehren.

Vor allem ist durch sie ein Fundamentalsatz S. Freuds bestätigt, der mehr als irgendeiner dem Zweifel und Angriff ausgesetzt gewesen ist: der psychoanalytische Lehrsatz von der Existenz und vitalen Intensität der Sexualität bereits im aller-frühesten Kindesalter.

Sie bestätigen ferner unsere Definition der ersten, ursprünglichsten, autochthonen Sexualität des Kindes als Trieb nach Kontakt in jedem Sinne, im physischen wie im psychischen.

Sie eröffnen uns endlich einen besonders klärenden Einblick in die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der großen Triebverschränkungen und ihrer wesentlichen Bindungen zu Gegensatzpaaren der souveränen inneren Konflikte in ihren typischen, von einem menschheitfassend gemeinsamen Schicksal geprägten Wesenszügen.

Ich habe mehrfach hervorgehoben, daß mir der Ursprung der neurotischen Angst und der pathogenen Konflikte in der Vereinsamung des Kindes gegeben erscheint. Jetzt, in der Kenntnis des konkreten Tatsachenmaterials durch Ibrahim, schauen wir unmittelbar die furchtbare Bedeutung der infantilen Einsamkeit. Die ganze, wirkliche Vereinsamung ist für das Kind letal. Die Angst vor der Einsamkeit ist echte, begründete Todesangst.

Die Liebe aber oder doch die Geste des Kontaktes erhält das Kind in keinem Fall bedingungslos: Das absolute kindliche Kontaktbedürfnis wird von der Umgebung als Zwangsmittel der Erziehung verwendet und die Erlösung von der Einsamkeit, die Herstellung des Kontaktes wird an die Bedingung des Gehorsams, der Anpassung, des Verzichtes auf eigenen Willen und eigene Art gebunden. Das ist der konsequente und schreckliche Herrschaftsantritt der Autorität über das einzelne Leben.

Die Absolutheit des Kontaktbedürfnisses im Kinde macht die Erfüllung jeder für die Gewährung von Kontakt gestellten Bedingung unvermeidlich; sie ist identisch mit der Unfähigkeit des Kindesalters zum Widerstand gegen Suggestionen, der infantilen Suggestibilität [1] und wirkt als Prädisposition zum pathogenen inneren Konflikt, der aus der Unvereinbarkeit des Wesensfremden mit dem Eigenen hervorwächst. An seinem Anfang steht die Unwiderstehlichkeit des äußeren Zwanges durch die vollkommene Unmöglichkeit des Verzichtens auf Liebe.

So wird im Kinde das Bewußtsein der völligen Ohnmacht geschaffen und eine nicht mehr schwindende Erinnerung daran, daß diese Ohnmacht von der Beziehung abhängig war und dem Kontaktbedürfnis der Größe nach proportional.

Der »Lebensplan« im Sinne Alfred Adlers, nach dem sich die Entwicklung des Neurotikers und des neurotischen Persönlichkeitsanteiles in jedem Menschen gestaltet, läßt sich nunmehr in seinen prinzipiellen Wesenszügen auf einen Ablauf typischer Erinnerung und Folgerung im Unbewußten reduzieren. Die Orientierung des Erwachsenen zum Gegenstand der Liebe überhaupt und insbesondere zum anderen Geschlecht konzentriert sich um das Sicherungsmotiv: nicht noch einmal, wie damals in der Kindheit, die eigene Individualität um der Beziehung willen und durch ein Übermaß von eigenem Liebesbedürfnis gefährden zu lassen.

Das Minderwertigkeitsgefühl, das solche Sicherungstendenzen weckt und hochpeitscht, ist das Bewußtsein des Seelenzustandes, der aus der Einsamkeitsangst des Kindes unmittelbar hervorgeht, also der Assoziation von Liebesbedürfnis und Unterwerfungsbereitschaft, als Ohnmacht und Erniedrigung. Mit dieser Selbstwahrnehmung der Entpersönlichung und Selbstanpassung als Minderwertigkeit ist eigentlich bereits die Korrektur und Überkorrektur begonnen; sie ist die erste in der Reihe der »Sicherungen«, wie sie Adler zeichnet, und führt im weiteren Ablauf überkompensierender Entwicklung zur Assoziation von Liebe und Furcht und weiterhin zur Triebverschränkung von Liebe und Haß, von Sexualität und Vergewaltigung.

Seitdem wir die ans Leben rührende Gewalt der Alternative »Einsamkeit oder Persönlichkeitsopfer« zu ermessen instand gesetzt sind, vermögen wir die Triebverschränkung von Liebe und Haß zurückzuführen auf ein psychisches Trauma, entstanden durch den Geist der bestehenden Ordnung, an Quantität und Extensität adäquat ihrer alles Empfinden durchsetzenden und gestaltenden Allherrschaft, die uns das Elend menschlicher Beziehungen, wie wir sie um uns herum sehen, fast schon aus kosmischer Polarität mann-weiblicher Urprinzipien heraus zu erklären verleitet hätte.

Fragen wir uns zuletzt noch nach prophylaktischen Möglichkeiten, so kommen wir zur Forderung eines umgestaltenden neuen Erziehungsprinzipes. Dem Kind muß Liebe absolut bedingungslos gegeben werden, befreit von jedem, auch nur scheinbaren Zusammenhang mit Forderungen welcher Art auch immer, als reines Bejahen der Individualität um ihres Eigenwertes willen und jeder keimenden Eigenart. [2]

Daß dieser Forderung, so unaufgebbar sie auch für die Zukunft sei, einstweilen keine Hoffnung auf Erfüllung zukommt, ist wohl selbstverständlich. Denn sie ist unvereinbar mit dem Prinzip der Autorität, in der Familie sowohl als außerhalb. —

[1] Siehe meine Arbeit »Über psychopathische Minderwertigkeiten«.

[2] Das Drachentöterepos der Sudanneger, die herrliche Dan-auda-Dichtung, zeigt einen Knaben, der scheinbar durch ein Erziehungsprinzip des absoluten Gewährenlassens grotesk verdorben, in Wirklichkeit dadurch vor Einsamkeit und Ohnmacht und Minderwertigkeitsgefühl bewahrt, als Retter und Befreier berufen wird. — Dan-auda-Dichtung siehe bei Leo Frobenius »Und Afrika sprach«.