Titel: Wege aus dem Ghetto: Die anarchistische Bewegung und das Projekt A
AutorIn: Stowasser, Horst
Datum: 1990
Quelle: Entnommen am 13.04.2016 von https://www.anarchismus.at/texte-anarchismus/kommuneprojekte/6130-horst-stowasser-die-anarchistische-bewegung-und-das-projekt-a
Bemerkungen: Originaltext: Unkorrigierter Vorabdruck aus: Rolf Cantzen (Hrg.).: „Anarchismus - Was heißt das heute“. Als Broschüre erschienen im An-Archia-Verlag 1990.

    Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht - die anarchistische Bewegung in Deutschland

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    Das Projekt A - erste Schritte auf der terra incognita

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Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht - die anarchistische Bewegung in Deutschland

I

Wie reagiert der Durchschnittsanarchist, wenn jemand mit anderem Stallgeruch lobende Worte für ein libertäres Projekt findet? Zum Beispiel ein Handwerksmeister aus der CDU-Mittelstandsvereinigung.

Er ärgert sich und fragt sich verstört, was er wohl falsch gemacht habe. Warum eigentlich?

Sind Anarchisten nicht seit jeher stolz darauf gewesen, daß ihre Ideen menschenfreundlich, ihre Denkweise einfach, ihre Vorgehensweisen direkt und ihre Absichten positiv seien? Die Ideen von gegenseitiger Hilfe, Selbstorganisation, direkter Aktion und Akratie zum Beispiel. Warum dann, um alles in der Welt, sollten solcherart positive anarchistische Essentials nur Beifall bei Anarchisten finden? Ist es verdächtig, wenn anarchistische Modelle auch außerhalb ihrer eigenen Grenzen Anklang finden? Es scheint fast so.

Stigmatisiert durch jahrzehntelange Isolation, abgestumpft durch das bittersüße Gift des Randgruppen-Schmollwinkels und die Pose des ausgrenzenden Besserwissers scheint es nachgerade zur Tugend geworden zu sein, den richtigen Kurs in direkter Proportionalität zur Ablehnung durch „die anderen“ zu finden. Und, was noch schlimmer ist: offenbar haben die Anarchisten darüber fast vollständig jene Phasen ihrer eigenen Geschichte und Identität verdrängt, als sie im gleichen Herztakt mit ihrer sozialen Umgebung wirkten. Jene seltenen, doch überaus wichtigen Augenblicke, in denen sie es schafften, aus dem Schattendasein herauszutreten, und ihre Utopien mitten ins reale Leben zu pflanzen. Ereignisse wie die spanische Revolution, die argentinischen Revolten oder der Aufstand in der Ukraine werden zwar immer wieder gerne bemüht, aber zumeist leider eher im Sinne einer rituellen und gebetsmühlenhaften Zitierung. Ihr eigentlicher Charakter, ihre Voraussetzungen und Dynamik werden dabei fast schamhaft ausgeblendet.

Das Interesse am Plakativen der vergangenen Glorie rangiert dabei oft höher als die Frage nach der Bedeutung solcher Erfahrungen für unsere Realität hier und heute: Propaganda statt Paradigma.

Um es auf den Punkt zu bringen: In zeitgenössischen anarchistischen Kreisen ist es hierzulande in der Regel allemal beliebter, sich an heroische und nebulöse Klischees zu schmiegen, als ernsthaft (und folgerichtig auch mühselig) die Lehren jener verwirklichten Utopien auf unsere heutige Situation anzuwenden.

Es genügt eben nicht, immer und immer wieder zu sagen, daß Anarchie möglich sei, und daß es vor 50 Jahren schon einmal gelang, erste, großartige Ansätze im Maßstab einer modernen Massengesellschaft zu verwirklichen. Unabhängig von den Defiziten und Widersprüchen jeder Revolutionen muß auch immer wieder der Versuch gewagt werden, hinter den glänzenden Bildern deren alltägliche, banale und unspektakuläre Strickmuster ans Tageslicht zu holen und zu erkennen. Ihre Mikrostruktur sozusagen. Geschieht dies nicht, wird die anarchistische Bewegung eine Kirche von frommen Mythen und verkommt zu einem Traditionsverein im selbstgestrickten Ghetto.

Diese öde Perspektive mag manche Anarchisten nicht erschrecken - jene, die sich im Ghetto bereits eingerichtet haben und denen der Sektencharakter der Bewegung geistige Bequemlichkeit verspricht. Alle anderen aber, für die der Reiz anarchistischer Ideen nicht in bloßer philosophischer Gedankenübung oder dem gelegentlichen pathetischprovokanten Gestus liegt sondern in der Herausforderung, die Utopie auch tatsächlich zu verwirklichen, muß dieser Zustand alarmieren.

Jene Anarchisten, denen die Praxis über den Gestus geht (und zu denen auch ich mich zähle), haben sich in den letzten Jahren zweifellos vermehrt. Beginnend mit selbstkritischen Analysen (etwa auf den internationalen Treffen in Venedig, Melbourne, Chicago, Frankfurt oder Seoul), über die Artikulation ihres Unbehagens und die Entwicklung neuer Ideen, haben sie inzwischen den Weg ins Praktische gefunden. Weltweit, mit munter wachsender Tendenz und nimmermüder Phantasie, werden unkonventionelle Ideen experimentiert. Projekte und richtungsweisende Modelle sind die ersten Gehversuche auf einem langen Weg.

Ihnen allen ist eines gemein: Raus aus dem Ghetto, rein ins reale Leben - Anarchie zum Anfassen vor der Haustür - nachvollziehbare Wege - einfache Zugänglichkeit für jedermann und jedefrau.

„Anarchie ist machbar, Frau Nachbar!“ verkündete einer jener spritzig-lockeren Slogans der 80er Jahre aus der Anarchoszene. Richtig gedacht, keck gesagt - nur: wo und wann hat die Bewegung hierfür jener „Frau Nachbar“ jemals einen Weg gezeigt, einen Zugang geschaffen, ein Modell angeboten?

II

Die Suche nach Modellen, die solcherart lebendige Anarchismen in den sozialen Alltag pflanzen könnten, begann selbst im bundesdeutschen Nachkriegsanarchismus schon relativ früh. Zaghaft zunächst, und daher neben dem Mainstream-Anarchismus mit seinen zyklischen Debatten, Gründungsversuchen und Aktionen recht unspektakulär, begann sich Ende der 70er Jahre das Unbehagen breitzumachen. Daß es hauptsächlich Protagonisten eben jenes Debatten-, Gründungs- und Aktionsanarchismus waren, die dieses Unbehagen empfanden, artikulierten und umsetzten, sollte zu denken geben. Ihnen allen war aufgefallen, daß „die Bewegung“ sich in den knapp 10 Jahren seit ihrer Wiedergeburt im Getöse und Gefolge der Studentenbewegung im Kreise zu drehen schien. Sie waren entsetzt angesichts der Perspektivlosigkeit des neuen Anarchismus und hilflos gegenüber der Tatsache, daß diese Bewegung zwar fest mit beiden Beinen in der Welt plakativer politischer Scheinrealitäten stand, aber kaum mit einer kleinen Zehe in der realen sozialen Welt dieses Landes. Schon um 1980 herum mußten wir in verschiedenen Studien unseres Dokumentationszentrums [1] darauf hinweisen, daß die bundesdeutschen Anarchisten einen „papiernen Wasserkopf“ geboren hatten - Symptom für ihre Perspektivarmut, wenn man beispielsweise den über 500 verschiedenen Zeitungen, die sie nach 1945 ins Leben riefen, die wenigen lebendigen Experimente entgegensetzte, die sie jemals gewagt hatten. Zugleich auch ein Symptom ihrer Isoliertheit, wenn weiter festgestellt wurde, daß von diesen 500 Zeitungen ganze drei jemals ernsthaft versucht hatten, für Nicht-Anarchisten zu schreiben, also für jene berühmte „Frau Nachbar“, für die Anarchie angeblich machbar sein sollte...

Dieses Unbehagen an der eigenen Bewegung war keineswegs homogen und nahm verschiedene Wege: Von der Resignation, über veränderte Schwerpunkte in der jeweiligen Praxis oder kritischer Theoriebildung bis hin zu großen Entwürfen. Es handelte sich weder um eine zeitgleiche Strömung, noch kam sie zu gleichen praktischen und theoretischen Ergebnissen. Gleich war ihnen jedoch der Versuch, diese ihre Bewegung ohne falsche Vasallentreue kritisch unter die Lupe zu nehmen und nach neuen, zeitgemäßen Formen des Anarchismus für hier und heute zu suchen. Dabei fiel fast allen die punktuelle Blindheit der meisten Anarchos für ihre eigenen Unzulänglichkeiten auf. Was an Perspektiven und konkreten Modellen fehlte, wurde nur zu oft mit flotten Sprüchen und „kämpferischer Arroganz“ wettgemacht, und wo es an praktikablen Antworten auf soziale Probleme mangelte, wurden die periodisch wiederkehrenden punktuellen Kämpfe in dieser Republik mit ihren kurzlebigen Erfolgen zum Fetisch erhoben. Jede Oma, die ihr sperrmüllreifes Sofa in ein besetztes Haus abschob, wurde zum Beweis für die „Verankerung in den Massen“ hochgejubelt und jedes besetzte Fleckchen Erde, das die Polizei - aus welchen Gründen auch immer - nicht sogleich räumte, avancierte unversehens zum Modell einer befreiten Gesellschaft. Mir sind junge Anarchisten untergekommen, die ernsthaft behaupteten, daß die Scheiben, die sie bei der Deutschen Bank eingeschmissen hatten, eine ernste Bedrohung des Imperialismus darstellten. Und mit einer Mischung aus Traurigkeit und Ratlosigkeit muß ich an jene Kommunardin in einem norddeutschen Dorf zurückdenken, die, nach fünf Jahren Existenz ihres anarchistischen Großprojektes alldort, stolz und mit glänzenden Augen berichtete, daß sie heute zum ersten Mal von einer Frau aus dem Dorf beim Einkaufen gegrüßt worden war. Sie wertete dies allen Ernstes als Beweis für die „Volkstümlichkeit“ ihrer Kommune.

Selbstüberschätzung ist eine Folge von Realitätsverlust, und Realitätsverlust bringt eingeschränkte Wahrnehmung hervor, was wiederum zu Selbstüberschätzung führt und einen wunderschönen Teufelskreis hervorbringt, in dem eine Bewegung sich leicht selber zu Tode laufen kann. Die vermehrten Anzeichen der Sektenwerdung sind dann meist der Beginn einer schleichenden Agonie.

In unseren liberalen Demokratien gehört es geradezu zur Strategie des Systems, solcherart infizierten Bewegungen ihr eigenes Ghetto als bequemes Plätzchen zu offerieren. Es scheint, als befände sich ein beträchtlicher Teil der anarchistischen Bewegung auf dem besten Wege, sich in diesem Ghetto häuslich einzurichten. Dabei ist es übrigens ein verhängnisvoller Fehler zu glauben, man könne den Grenzen des Ghettos und dem Zustand des Sektierertums schon allein dadurch entfliehen, daß man sich möglichst militant gibt. Es gibt auch Sekten, die strotzen nur so vor Militanz, und für Leute, die noch immer den revolutionären Habitus mit tatsächlicher revolutionärer Veränderung verwechseln, haben die klugen Lenker unserer staatlich-kapitalistischen MegaMaschine noch allemal ein ruhiges Örtchen, das man ihnen getrost als Ghetto überlassen kann. Notfalls darf es auch ein ganzer Stadtteil sein.

III

Dabei waren es gerade die verpaßten Chancen, die die kritischen Anarchisten inspirierten: Was hätte nicht alles aus Ansätzen wie Wyhl, den Berliner Häuserkämpfen, Wackersdorf, Gorleben, der Hamburger Hafenstraße und... und... werden können?! Hier gab es wirklich vielversprechende Ansätze, die - gemessen an dem eingangs genannten Ziel, die Utopie tatsächlich zu verwirklichen - allesamt gescheitert sind. Entweder waren diese Kämpfe zu sehr auf den jeweiligen tagespolitischen Anlaß fixiert und brachen mit deren Wegfall oder „Befriedung“ in sich zusammen, oder aber ihre Protagonisten gefielen sich zu sehr in ihrer provozierenden Attitüde, womit sie Außenstehenden von vornherein jeden Zugang zu ihrer gelebten Utopie verbauten. Jedem, der sich nicht den jeweiligen Sprachen, Moden und Riten anpassen wollte, wurde unmißverständlich signalisiert: „Ey, Alter, verpiß' Dich, das ist unser Ghetto!“

Das ist umso bedauerlicher, als hier natürlich die Chance vertan wurde, eine Synthese zwischen den Bewegungen herzustellen, die sich spontan an sozialen Konflikten entzündeten (siehe oben) und jenen, die, langfristig angelegt, kontinuierliche Basisarbeit leisteten. Sie hätten sich gewiß hervorragend gegenseitig befruchten können, wären nur der Wille und die nötige Toleranz vorhanden gewesen: Die Spontaneität, die frische Militanz der Empörung und der zeitweilige Zulauf aus den Kreisen der betroffenen Menschen wären eine ideale Medizin gegen die schleichende Schlafkrankheit mancher Basisinitiativen oder die Tendenz zur Beschaulichkeit, Perspektivarmut und Verökonomisierung etlicher Alternativprojekte gewesen. Andererseits hätten zahlreiche Kommunen, Gruppen, selbstverwaltete Initiativen und Betriebe zu den punktuellen und spektakulären Kämpfen Elemente beisteuern können, die diesen in tragischer Dimension fehlten: soziale Basis, technisch-finanzielle Infrastruktur und vor allem die Erfahrung des Alltäglichen. Letzteres klingt banal, ist aber umso wichtiger. Gemeint ist das schwierige Unterfangen, die drei wesentlichen Bereiche „Politik“ (soziale Konflikte, offensive Utopien), „Ökonomie“ (Produktion und Reproduktion, Geldverdienen, Finanzierung der Projekte) und „Privatheil“ (Lebensformen, Spaß, Freiheit, Glück, Utopie im Alltag) gleichberechtigt nebeneinander in eine emanzipatorische Praxis einzubeziehen.

IV

Dieser Punkt hat es in sich, und in der kritischen Analyse der Anarchisten der 80er Jahre nimmt er eine zentrale Stellung ein: Wie kommt es denn, daß - um es auf eine griffige Formel zu bringen - in dieser Bewegung „zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht nicht viel los“ ist? Hier punktuelle Kämpfe, dort papierner Wasserkopf, hier die Hierarchie der Militanzriten, dort die Betulichkeit der Denker.

Einerseits: Das Re-agieren. Wir parieren Attacken und reparieren schlimme Zustände. Wir führen Kämpfe, damit nicht noch mehr Atomkraftwerke gebaut, noch mehr Häuser abgerissen, noch mehr Freiheiten weggenommen werden. Das ewige Hinterherlaufen hinter Ereignissen, deren Inhalt, Rhythmus und Qualität stets die Gegner diktieren. Kämpfe also, die in ihrer Struktur defensiv und in ihrer Qualität beschränkt bleiben müssen und bei denen die utopische Zielsetzung allenfalls das fünfte Rad am Wagen ist und folglich nur zu oft auf der Strecke bleibt. Kurz: Kämpfe, die tendenziell nicht auf eine neue Gesellschaft zielen, sondern darauf, daß die alte Gesellschaft nicht noch schlimmer wird.

Andererseits: Der Schmollwinkel. Wir denken. Wir analysieren. Voraus und zurück, in die Kreuz und in die Quer. Wir haben die richtige Antwort parat und die korrekte Analyse ausgearbeitet und sowieso schon immer alles vorher und besser gewußt. Im Elfenbeinturm (und sei dieser auch nur ein schmuddeliges Hinterzimmer) läßt sich ungestört und weltfremd träumen. Heraus kommen Unmengen von Papier. Das Tragikomische daran ist, daß niemand unsere Weisheiten zur Kenntnis nehmen will. Unsere Plattformen, Analysen und Flugblätter bleiben solange Makulatur, wie wir unsere Utopien nicht im realen Alltag vorleben und zugänglich machen; unsere Bücher bleiben solange Ladenhüter, wie wir es nicht schaffen, die Menschen durch unsere Praxis so neugierig zu machen, daß sie sie uns aus den Händen reißen.

Dieses Dilemma hat mehr mit jener unseligen Aufteilung des Lebens in „Politik“, „Ökonomie“ und „Privatheit“ zu tun, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Eine Bewegung, die im Wesentlichen außer Zoff und Philosophie nicht viel zu bieten hat [2], ist auf Dauer nicht attraktiv. Weder für uns, noch für die Menschen, die wir ansprechen wollen. Und es wäre borniert, anzunehmen, daß wir Utopien ohne Menschen aufbauen könnten oder gar gegen sie. Solche Ansichten führen entweder in die totale, gesellschaftlich sterile Isolierung oder ins weltanschaulich verbrämte Massaker an Andersdenkenden. Die anarchistische Bewegung sollte indes bessere Alternativen haben, als zwischen Aussteigerparadies und Pol Pot zu wählen.

Wir müssen uns die unbequeme Frage schon ernsthaft stellen: Jene großen Bewegungen wie Wyhl oder Wackersdorf, der Kampf gegen die Pershings und die Startbahn West, die Welt der Hausbesetzer und Jugendrevolten - wieso sind sie alle so sang- und klanglos untergegangen, nachdem der Anlaß nicht mehr aktuell war? Waren hier nicht tausende Berührungspunkte zwischen „Anarchos“ und „Normalos“ gegeben? Machte nicht der Rentner im Lodenmantel, der „Pflastersteine gegen die Bullen“ schmiß, überall im linken Info-Blätterwald Furore? Wo ist er geblieben?

Kein intelligenter, normaler Mensch macht in einer solchen Bewegung länger als ein paar Jahre mit, es sei denn, er findet die löbliche Ausnahme in diesem jammervollen Spektrum oder er verfügt über den Willen und den Langmut eines Märtyrers. Diese Bewegung ist kein Ort, an dem man leicht heimisch werden könnte, ohne absonderlich oder exotisch werden zu müssen. Sie bietet einem in der Regel nichts, außer einer schönen Idee und der Reinheit gelegentlicher Empörung. Anders gesagt: Es ist kaum eine Bewegung, die mir (und anderen) im Alltag Antworten, Wege, Waffen gibt, geschweige denn Strukturen, in denen ich (und andere) gerne leben würden - so frei und glücklich, wie in einer solchen Gesellschaft eben möglich. [3]

Diese Bewegung hat es schlicht versäumt, zwischen ihren beiden Polen „Schreibtisch“ und „Straßenschlacht“ eine lebendige libertäre Alltagskultur aufzubauen, die neben politischem Anspruch auch Wärme, neben korrekten Analysen auch Hilfe und neben berechtigter Militanz auch Geborgenheit bietet.

V

In den vergangenen zwanzig Jahren sind zigtausende durch anarchistische Strukturen gewandert. „Die Bewegung“ hat wohl 80% davon verdaut und wieder ausgeschieden. Zwischen 17 und 25 ist es für viele eine Weile, chic und attraktiv, Anarchist zu sein. Aber wer hält es schon aus, 10, 20 Jahre seines Lebens damit zu verbringen, nach dem nächsten konfliktträchtigen sozialen Thema Ausschau zu halten und sich ansonsten einmal wöchentlich mit Gleichgesinnten in einem verschwiegenen Insider-Lokal zu treffen - eben weil man gleichgesinnt ist...? Das ist auf Dauer ein langweiliger und inhaltsleerer Grund, und so gehen die meisten wieder, wenn sie sich ausgetobt haben. Viele in dem Moment, wo sie Familie oder Kinder haben oder plötzlich merken, daß sie älter werden und ihren Beruf oder den Rentenanspruch vergessen haben (wobei oftmals die radikalsten Lederjackenanarchos in kürzester Frist zu den angepaßtesten Krawattenträgern werden).

Dieser schnelle Generationswechsel von Menschen, die periodisch durch die anarchistische Bewegung geschleust werden, belegt eindrucksvoll, daß sie allenfalls in der Lage ist, eine politische, aber keine soziale Heimat zu bieten. Er zeigt drastisch, daß alle diejenigen, die sich nicht mit der Sekte und ihren Riten anfreunden können, auf Dauer ausgestoßen werden.

Untermauert wird diese These von den Ergebnissen, die die intensive Debatte um die Aussteiger aus den Anarcho-Gruppen in den letzten Jahren geliefert hat. [4] Interessanterweise haben nämlich längst nicht alle dieser sogenannten „Ex-Genossen“ ihre libertären Utopien auf den Misthaufen geworfen. Überraschend viele von ihnen fühlen sich nach wie vor als Anarchisten und nicht wenige versuchen auch (viele tatsächlich zum ersten Mal!), ihre Utopien in der sie umgebenden Gesellschaft zu leben. Nur eben nicht innerhalb „der Bewegung“, für die sie im Rückblick oftmals sehr wenig schmeichelhafte Worte übrig haben. „Was sollte ich auf Dauer in so einem Kindergarten?“, fragte mich einmal eine Handwerkerin, die es vorzog, in einem selbstverwalteten Projekt zu leben, in dem das große A auf schwarzem Leder nicht zum gruppenkonformen Sozialverhalten gehörte. Sie traf den Nagel auf den Kopf.

Dieser Fluktuationszyklus gibt mit schöner Regelmäßigkeit die Impulse, die dafür verantwortlich sind, daß die anarchistische Bewegung sich überwiegend im Kreise dreht. Alle zwei bis vier Jahre erleben wir Organisationsdebatten und -versuche, Wertekrisen und Standortbestimmungen, die mit immer wieder neuer Frische so ablaufen, als sei in den letzten zwanzig Jahren nichts passiert - als hätte man keine Lernprozesse gemacht, keine Erfahrungen gesammelt und keine Fort- und Rückschritte gemacht. Kein Wunder, denn alle zwei bis vier Jahre gibt es eine neue Generation, die mit entwaffnender Unschuld fragt: „Wäre es nicht eine tolle Idee, wenn wir uns organisierten?“ „Warum schaffen wir dieses System nicht einfach mit Waffengewalt ab?“ „Wieso machen wir keine anarchistische Tageszeitung?“ ... und dergleichen mehr, was dann alles wieder mit Vehemenz diskutiert, teilweise ausprobiert und schließlich aufgegeben wird.

VI

Diejenigen, die auf diese und andere Schwächen ihrer eigenen Bewegung in den letzten zehn Jahren zunächst zaghaft, dann entschlossener hinwiesen, haben in der Regel versucht, die besagte Lücke zwischen „Schreibtisch und Straßenschlacht“ zu schließen. Ihr Anliegen war dabei nicht, zugunsten ihrer Konzepte etwa für die Reduzierung der punktuellen Kämpfe einerseits oder der agitatorisch-theoretischen Aktivitäten andererseits zu plädieren. Sie wollten diese durchaus wichtigen Pole keineswegs abschaffen, sondern eher eine Verbindung zwischen ihnen herstellen, indem sie das Vakuum zwischen beiden mit dem Wichtigsten zu füllen versuchten, was eine Bewegung, die diesen Namen verdient, ausmacht: lebendige, funktionierende Modelle in der realen, sozialen Umwelt.

Der Schwerpunkt ihrer Bemühungen lag dabei wohl eher in der Praxis, wenngleich es hier und da auch Beiträge zu einer entsprechenden Theoriebildung gab. Beides - theoretische Debatte und praktische Ansätze - fanden übrigens weltweit statt. Sie führten schließlich in den 80er Jahren zu einer Tendenz in der anarchistischen Bewegung, die von Mexiko bis Australien, von Schweden bis Uruguay reichte, und die ich an anderer Stelle als „frischer Wind im Anarchismus“ bezeichnet habe. [5] Man sollte sie ganz bewußt nicht als eine neue Schule, Fraktion oder Richtung deuten, denn es handelt sich in der Tat nicht um grundlegend neue Aspekte. Eher um ein gründliches Durchlüften des vermieften anarchistischen Wohnzimmers, um im Bild zu bleiben. Weder sind die theoretischen Postulate neu - sie lassen sich etwa bei Nettlau, Malatesta, Voltairine de Cleyre, Landauer, Tarrida del Mármol oder auch Durruti nachweisen [6] - noch sind die praktischen Ansätze sonderlich originell. Sie sind lediglich zeitgemäß und versuchen, sich vom rituellen Habitus ebenso zu befreien, wie von den überholten historischen Vorbildern, von denen die Mythen übrigblieben, die Inhalte verlorengingen und die konkreten Schritte heute so nicht mehr nachvollziehbar sind. Überdies bläst der „frische Wind“ quer durch alle klassischen anarchistischen Lager, und erfaßt ebenso Syndikalisten wie Kollektivisten, Anarchokommunisten wie Mutualisten, Föderalisten wie Spontaneisten.

Im Grunde geht es um die simple Frage: Wie können wir anarchistische Utopien in ersten, kleinen Schritten verwirklichen, den Menschen in funktionierenden Modellen nahebringen und gleichzeitig verhindern, daß sie verflachen und sozial steril werden? Wie ist es im Gegenteil möglich, daß solche Modelle wachsen, wuchern, Menschen ermutigen und staatliche Strukturen zermürben indem sie libertäre Strukturen aufbauen? Mit einem Wort: Wie können wir libertäre Modelle schaffen, die gleichzeitig paradigmatischen Charakter haben, attraktive soziale Lebensformen ermöglichen und im positiven Sinne subversiv sind?

Zweifellos eine ehrgeizige Zielsetzung, aber keineswegs neu. Die Parallele zu der Periode, als sich die anarchistische Bewegung auf das soziale Feld der Arbeitswelt besann und den Anarchosyndikalismus als praktisch-pragmatische Variante gebar, drängt sich geradezu auf. Auf dem anarchistischen Weltkongress in Amsterdam 1908 wurde die Frage diskutiert, ob man im Rahmen anarchistischer Gewerkschaften nicht sehr wohl gleichzeitig soziale Verbesserungen hier und heute, revolutionäre Veränderungen der Gesellschaft und den Aufbau einer libertären Alltagskultur betreiben könne. Natürlich gab es auch damals Stimmen, die dies für puren Reformismus, für den Anfang vom Ende der anarchistischen Lehre hielten. Für sie waren Gewerkschaften per se schlecht, und andere als die existierenden konnten sie sich einfach nicht vorstellen. Und es fehlte auch nicht der superradikale Heißsporn, der Malatesta erschießen wollte, weil er ihn für einen „Verräter“ hielt.

In Wirklichkeit war der Anarchosyndikalismus der Anfang für die erste und bislang einzige Verwirklichung einer an-archischen Gesellschaft in großem Maßstab.

Die Strukturen, die hinter diesem Erfolg steckten, müssen uns heute keine Mysterien und Geheimnisse bleiben. Wir brauchen nur ein wenig an dem Lack der schwarzroten Mythen zu kratzen.

VII

Die Lehren, die wir beispielsweise aus der spanischen Revolution ziehen können, sind einfach, fast schon banal: Es gibt keine anarchistische Utopie im Ghetto. Es darf keine Rivalität geben zwischen den „kleinen Schritten“ und den „großen Ereignissen“, zwischen notwendiger Militanz und wünschenswerter Friedfertigkeit. Revolution und Radikalität sind keine Fragen der äußeren Erscheinungsformen (>Phänotyp<), sondern der Inhalte und Ziele (>Genotyp<).

Die Schaffung libertärer Kulturen, Tugenden und Strukturen darf nicht auf den fiktiven „Tag nach der Revolution“ verschoben werden, sie muß hier und heute beginnen. Das Ziel - Freiheit - muß in den Mitteln anwesend sein. Keine noch so geniale Theorie oder schöne Utopie verwirklicht sich von alleine, Kraft ihrer Stringenz oder dem Gesetz der Geschichte: sie muß aufgebaut und den Menschen nahegebracht werden. Menschen bringt man eine Utopie kaum nahe, indem man sie ständig vorbetet, sondern vor allem, indem man sie vorlebt - notfalls „stückweise“ und in kleinen Ansätzen. Anarchistische Modelle müssen deshalb so angelegt sein, daß auch Außenstehende Zugang zu ihnen finden und in ihnen die Angst vor dem „Prinzip Staatlichkeit“ verlieren. Das betrifft sowohl den „real existierenden Staat“, als auch den „Staat im Kopf“ bei uns allen. Anarchisten dürfen deshalb nicht davor zurückschrecken, auch die kleine, schmutzige, banale Alltagsrealität wahrzunehmen und in ihr zu wirken. Der „tägliche Kleinkram“ und der „große utopische Entwurf“ sind keine Widersprüche, sondern Spannungsfelder einer Dialektik, zwischen denen eine neue, libertäre Gesellschaft geboren wird.

So mancher Junganarcho, der von der heroischen spanischen Revolution träumt, wird sich wundern zu erkennen, daß diese Revolution nicht 1936 begann, sondern 40 Jahre zuvor, und daß die glorreiche CNT in der Zwischenzeit sich nicht zu schade war, ihre Finger eben auch im unspektakulären alltäglichen Kleinkram schmutzig zu machen. Mit Handlungen, von denen jede einzelne, für sich betrachtet und aus dem revolutionären Gesamtzusammenhang gerissen, glatt als reformistisch einzustufen wäre. Und noch überraschter wäre er vielleicht, wenn er feststellen müßte, daß das „Strickmuster“ dieser Revolution auf solch einfachen Erkenntnissen beruhte, wie sie eben aufgezählt wurden.

Auf eben diesen Erkenntnissen bauen auch die vielfältigen Ansätze auf, die den „frischen Wind“ in den heutigen Anarchismus blasen. Beiden ist gleich, daß sie zwar das Risiko eingehen, mit revolutionären und reformistischen äußeren Formen in ein und derselben Brust zu leben, dafür haben sie aber den unbestreitbaren Vorteil, daß sie tatsächlich funktionieren. Nicht nur im Hirn, sondern auch in der Wirklichkeit. Auf dem Papier werden natürlich die Vertreter der reinen Lehre immer recht behalten. Ob sie aber im Leben recht behalten würden, können sie nie erfahren, da echte Puristen das reale Leben nicht betreten. Sie könnten sich ihre Schuhe beschmutzen.

VIII

Der Vergleich zwischen historischem Anarchosyndikalismus und dem „frischen Wind“ gilt selbstredend nur strukturell. Numerisch sind beide nicht zu vergleichen, und was ihren Einfluß auf die Gesellschaft angeht, natürlich auch (noch?) nicht.

Gemeinsam haben sie aber, daß sie die Synthese zwischen Theorie und Praxis wagen, und sich mit lebendigen Menschen in ihrem eigenen sozialen Kontext befassen. Nur geschieht dies heute im Rahmen unserer gesellschaftlichen Realitäten, und die sind nicht mehr die der Vorkriegszeit. Es ist kaum mehr die schwindende „Welt der Arbeit“, des Proletariats und der Gewerkschaften, in der wir uns bewegen. Es handelt sich deshalb um einen zeitgenössischen Versuch, die klassischen anarchistischen Essentials und die bewährten anarchistischen Strategien auf unsere Gesellschaftsform anzuwenden.

Natürlich sind die konkreten Ansätze hierzu in einer Bewegung, die durch und durch heterogen ist, sehr bunt und vielfältig - im Gegensatz zu der historischen anarchistischen Bewegung, die, überwiegend von der Arbeitswelt geprägt, sehr wenig verschiedene Modelle hervorbrachte.

So hat sich das Unbehagen der späten 70er Jahre in Kritik, die Kritik in den frühen 80er Jahren in Modelle, und die Modelle in den späten 80ern in Projekte umgesetzt. Natürlich nicht derart linear und schematisch, aber als Trend doch weltweit feststell- und nachweisbar. Ebenso hat die Debatte auch bestehende Organisationen und Bewegungen positiv beeinflußt, in Deutschland besonders die Kreise der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FÖGA) um die Zeitschrift „Graswurzel-Revolution“, in geringerem Maße die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU). Die offenen Debatten im anarcho-autonomen Spektrum, etwa auf den „Libertären Tagen“ 1987 in Frankfurt, haben leider die Hoffnungen, die sie auf ein entsprechendes Umdenken geweckt hatten, enttäuscht und kaum greifbare Ergebnisse gezeitigt.

Das Projekt A - erste Schritte auf der terra incognita

I

Zu einer der ganz frühen Pusteblumen, die der „frische Wind“ auf die Äcker des bundesdeutschen Anarchismus blies, gehört das „Projekt A“. Entstanden aus den ambivalenten Erfahrungen einer insgesamt fast 20-jährigen libertären Kleinstadtaktivität in der hessischen Provinz [7], reichen die ersten schriftlichen Dokumente bis in das Jahr 1978 zurück. Es sollte noch sieben Jahre Erfahrung, Debatten und Reife brauchen, bis 1985 das gleichnamige Buch erschien. [8] Diese knapp 100 Seiten starke Skizze eines pragmatischen, libertären Kleinstadtprojekts nach dem Strickmuster [9] des „frischwindigen Anarchismus“, begann alsbald intern und ein wenig konspirativ zu zirkulieren: von Mensch zu Mensch, unter Umgehung des Buchhandels. Im Laufe der nachfolgenden Jahre haben schätzungsweise 3-4000 anarchophile Menschen die ca. 1500 Exemplare und zahlreichen Nachkopien gelesen.

Wie nicht anders zu erwarten, entwickelte sich rasch eine rege Debatte, die zunächst zu wenig Konkretem führte. Es entstanden ein internes Bulletin für Nachrichten und Diskussion [10], etliche kleinere Infos mit teils regionalen, teils themenspezifischen Schwerpunkten und ein ganzes Netz von Treffen: Bundestreffen, Regionaltreffen, projekt-und berufsspezifische Zusammenkünfte, Kulturspektakel, gemeinsame Zeltlager und Ähnliches. Während dieser Zeit wurde einerseits eine zwar diffuse, aber nachhaltige Rezeption der im „Projekt A“ dargelegten Ideen in Gang gesetzt, die immer noch andauert - andererseits versuchten die Entschlosseneren seit dem ersten Bundestreffen 1986 mehr oder weniger zielstrebig, dieses Projekt in einer deutschen Kleinstadt tatsächlich zu verwirklichen.

Es ist hier nicht der Platz, die Genesis dieser Bemühungen auch nur einigermaßen schlüssig nachzuerzählen. Eine kritische Aufarbeitung dieses Prozesses muß - wenngleich sie für das Thema dieses Buches sicher aufschlußreich wäre - späteren Veröffentlichungen vorbehalten bleiben. Als Fazit sei festgehalten, daß nach intensiver Diskussion und lückenhafter praktischer Vorbereitung das Projekt A im Herbst 1988 in drei deutschen Kleinstädten in die Startlöcher trat und seither an diesen Standorten existiert, wobei die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht wurden.

II

Die Frage, was das Projekt A denn eigentlich sei, kann aus denselben Gründen hier nur sehr summarisch beantwortet werden [11]. Auf die Gefahr zahlloser Mißverständnisse und verhängnisvoller Vereinfachungen hin will ich dennoch den Versuch einer flüchtigen Skizze wagen:

Es handelt sich um die konkrete Idee zu einem kleinstadtspezifischen libertären Projekt, in dem die Bereiche Politik, Ökonomie und Privatleben gleichgewichtig nebeneinanderstehen. Dieses mehrdimensionierte Gebilde soll seine Stabilität aus einer soliden Basis vernetzter Strukturen beziehen. Diese Grundstrukturen bestehen aus einzelnen Elementen wie selbstverwalteten Betrieben, politischen und kulturellen Initiativen, Wohngemeinschaften und Einzelpersonen. Die Einzelelemente bleiben als solche oder in kleineren vernetzten Gruppen autonom, verbinden sich aber miteinander zu einem lokalen Netzwerk und gehen dabei in freier Vereinbarung Beziehungen gegenseitiger Hilfe und Verpflichtungen ein.

Grund“baustein“ der Gesamtstruktur ist das sogenannte „Doppelprojekt“, ein Zusammenschluß von jeweils einem mehr ökonomisch geprägten Projekt, das Geld einbringt (z.B. selbstverwalteter Betrieb) und einem mehr sozial oder politisch geprägten Projekt, das Geld braucht (z.B. politische Initiative) unter dem „Dach“ einer gemeinsamen Wohngruppe. Hierbei subventioniert das wirtschaftlich stärkere Projekt das wirtschaftlich schwächere; gemeinsame Überschüsse gehen in die Kasse des Gesamtprojekts zur Finanzierung gemeinsamer Aktionen, Vorhaben oder zum Aufbau neuer Teilprojekte. Innerhalb eines solchen „Doppelprojekt-Netzes“ entstehen libertäre „Mikro-Gesellschaften“ mit alten Menschen, Berufstätigen, Kindern, Tieren, Häusern, Werkstätten, Läden und einer kompletten Infrastruktur, innerhalb derer einerseits Gleichheit, Rotation und Gemeinschaftlichkeit geübt werden können, andererseits aber auch genügend Platz für Verschiedenartigkeit, Individualität und Rückzug bleibt.

Das örtliche Netz wäre demnach der Zusammenschluß vieler solcher Doppel- und Mehrfachprojekte, das sich wiederum eigene Strukturen der Kommunikation, der Entscheidungsfindung und des menschlichen Austauschs in Form von Plenen, Räten und anderen Gremien gibt.

Großer Wert wird auf die Feststellung gelegt, daß dieses Netz nicht das Projekt A an sich ist, sondern lediglich die stabile Basis bilden soll, auf der sich die gesamte, bunte Bandbreite libertärer Aktivitäten entfalten soll und kann: sowohl die klassischen wie auch neue, ungewöhnliche - in jedem Fall aber stabile; menschlich, politisch und finanziell verankert und bestens abgesichert.

Durch diese Art der Vernetzung soll der Unterschied zwischen „politischen“ und „unpolitischen“ Projekten weitgehend aufgehoben werden. Ziel ist es, einen Zustand zu erreichen, in dem beispielsweise das Backen von Brot ebenso politisch sein kann wie das Verteilen eines Flugblattes. Anders ausgedrückt: Der erste Schritt zur Utopie wäre dann erreicht, wenn man bei einer beliebigen Tätigkeit nicht mehr klar unterscheiden kann, ob es sich nun um Geldverdienen, Politik oder Spaß handelt, oder um alles drei zugleich.

Diese Rechnung geht nur dann auf, wenn ein enger Zusammenhang zwischen Betrieben, politisch-sozialen Initiativen und dem einzelnen Menschen hergestellt und bewahrt werden kann. Dies scheint durch eine enge Verbindung von Leben, Reproduktion und sozialer Aktivität möglich.

Die soziale Strategie geht dahin, daß sich dieses Netz derart in der Stadt ausbreitet und verankert, daß die dort lebenden Menschen an dieser gesellschaftlichen Realität auf Dauer nicht vorbei können. Täglich werden sie mit Initiativen, Firmen, Dienstleistungen, kulturellen Angeboten und Menschen dieses mehrdimensionalen Projektes konfrontiert und müssen früher oder später Stellung beziehen. Die Chance, daß dieser Prozeß nicht zu einer Ablehnung, sondern zu einer Identifikation, wenigstens aber zu einer „positiven Toleranz“ führt, wird hier ungleich höher eingeschätzt als bei anderen, eindimensionalen libertären Projekten. Diese Tendenz soll unter anderem dadurch unterstützt werden, daß die Produkt- und Leistungspalette der einzelnen Betriebe und Initiativen nicht den Charakter der üblichen Ghettokultur trägt, sondern möglichst die „normalen“ Bedürfnisse der Bewohner wie der Projektler abdeckt. Außerdem sollen möglichst rasch Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Wohnraum und Freizeitangebote geschaffen werden - Ansatzpunkte, um die „zweite Generation“ des Projekts bereits aus der Jugend der Stadt nachwachsen zu lassen und ihr einen Zugang zum libertären Leben zu öffnen. Die erste Generation des Projekts hingegen sollte hauptsächlich aus „zugereisten“ Aktivisten bestehen.

Die soziale Dynamik soll darin bestehen, daß ein immer dichter werdendes Netz lebendiger Anarchismen den Bewohnern dieser Kleinstadt Einblick und Zugang zu einer libertären Kultur bietet, und so den Boden für Agitation und Eigeninitiative der Menschen bereitet. Gleichgültig, ob der Zugang zu dieser „libertären Kultur“ über politische Kämpfe, ökonomische Kontakte, kulturelle Initiativen oder den Nachbarschafts- und Freizeitbereich erfolgt - die unterschiedliche Qualität der Projekt-A-Initiativen im Gegensatz zu herkömmlichen Strukturen soll einen „Aha-Effekt“ auslösen, der ein Erkennen des globalen anarchistischen Charakters auch aus dem Detail heraus ermöglicht. Sei es die Tatsache, daß Firmen ohne Chefs funktionieren, daß sich ein Gleichheitspostulat in der Praxis verwirklichen läßt, daß anarchistische Ökonomie und gegenseitige Hilfe ungewöhnliche Vorteile bieten, daß Selbsthilfe sich erfolgreich gegen administrative Bevormundung durchsetzt, daß die Beziehungen zwischen den Geschlechtern oder zu den Kindern anders sind, oder, daß die Mittel der Vernetzung und der direkten Aktion Alternativen zur Partei- und Vertreterpolitik sind - all diese und viele andere „punktuelle Anarchismen“ sollen dazu beitragen, die bekannte anti-anarchistische Vorurteilskette zu durchbrechen und den Mut zur Selbstorganisation zu fördern.

Diese Dynamik bleibt natürlich spekulativ - ebenso wie die Vision einer ans Schwärmerische grenzenden Lebensqualität innerhalb des Projekts, die den Mitmachern erlaubt, persönliche Freiheiten, berufliche Möglichkeiten und Annehmlichkeiten zu genießen, die für Geld nicht zu kaufen sind. Dieser Spekulation bewußt, wird in dem Konzept des Projekts A dann auch nichts weiter als der unprätentiöse Versuch unternommen, diese Möglichkeiten zu skizzieren und alle Strukturen und organisatorischen Details von vornherein darauf auszulegen, daß diese auch erreicht werden können.

In einem theoretischen Teil wird schließlich die Möglichkeit einer weitergehenden Dynamik solcher und ähnlicher Projekte beleuchtet, falls sie sich national wie international durchsetzen und ausbreiten. Das reicht bis zu Reflektionen über den Platz, den Strukturen wie das Projekt A in der Perspektive einer globalen, revolutionären Strategie einnehmen könnten.

Soweit die Theorie.

III

Mittlerweile hat die Pusteblume ihren Samen verstreut, dieser hat Pflänzchen hervorgebracht, die hier und da Blüten treiben. Teils sind sie auf steinigen Boden gefallen, teils auf fruchtbaren Acker. In jedem Fall aber ist es eine terra incognita, die da besiedelt wird, und während das Gewächs Wurzeln schlägt, müssen sie sich aneinander gewöhnen, die Pflanze und der Boden.

Ich will die Metapher verlassen und mich im Folgenden auf einen der Standorte des Projekts beschränken, den südlichsten, die Kleinstadt N., in der ich mittlerweile selber lebe. Vieles ist hier anders verlaufen, als es „im Buche stand“. Vielleicht gedeiht das Projekt gerade deshalb weit besser, als bei skeptischem Wohlwollen zu erwarten gewesen wäre.

Weit davon entfernt, blindlings dem Fahrplan eines utopischen Buches zu folgen, fanden sich in N. zunächst knapp zwei Dutzend Menschen aus der „Szene“ zusammen, die entweder eine libertäre Vergangenheit hatten, sich eine libertäre Zukunft wünschten oder einfach nur neugierig waren. Ein irgendwie geartetes „Bekenntnis“ zum Anarchismus hat hierbei offenbar (und glücklicherweise!) keine Rolle gespielt. Diese Ur-Gruppe war sich darin einig, daß „in N. etwas geschehen“ müsse, und man war bereit, etwas dafür zu tun. In diesem tatendurstigen Kreise waren fünf selbstverwaltete Betriebe vertreten, die schon seit einigen Jahren existierten. Wirtschaftlich durchaus solide, standen sie zum Teil gerade am Beginn der fast üblich gewordenen „Sinnkrise“ im Spannungsfeld zwischen alternativer Betriebswirtschaft und der im Kopf langsam verkümmernden Utopie.

In dieser Situation war das Buch vom Projekt A offenbar eine willkommene Stimulanz. Es wurde gemeinsam gelesen, diskutiert und schließlich als eine Art Wegweiser für den eigenen Weg zu einem Projekt A in N. verstanden, keinesfalls aber als Gebrauchsanweisung.

Dies waren günstige Bedingungen für einen erfolgreichen Start: Einerseits gab es in diesem Kreis so gut wie keine anarchistischen Puristen, andererseits besaß das Projekt von vornherein eine intakte ökonomische Basis. Hinzu kam die aus jahrelanger praktischer Arbeit erwachsene nötige Portion Realismus und Pragmatismus, ohne die ein solches Projekt nicht funktionieren kann. Positiv ausgedrückt: Die Bereitschaft, Vertrauen zu zeigen, Aufgaben zu delegieren, realistisch zu diskutieren und ohne endlose Debatten zu Konsensentscheidungen zu gelangen, war für viele in der Ur-Gruppe keine neue Erfahrung.

Ab 1988, in der Endphase der Projekt-A-Vorbereitungen, brachte sich die Gruppe aus N. aktiv in den bundesweiten Zusammenhang ein und nimmt bis heute daran teil. Als es daran ging, einen geeigneten gemeinsamen Standort zu finden, gehörte N. zu den Favoriten. Aus verschiedenen Gründen technischer und geografischer Art konnte man sich jedoch nicht auf eine gemeinsame Stadt einigen, und so wurde N. zu einem der drei Orte, an denen das Projekt schließlich konkret startete.

IV

Heute [12] vernetzt das Projekt in N. 11 Betriebe, 9 Initiativen, etwa 8 Wohngemeinschaften und ca. 80 Menschen miteinander. 1-200 Sympathisanten finden sich um die einzelnen Projekte. Offizielle Rechtsform ist ein gemeinnütziger, eingetragener Verein, die Mitgliedschaft ist nicht zwingend.

Als Verbindung zwischen den einzelnen Elementen fungieren verschiedene Strukturen: Ein monatliches Plenum als Entscheidungsorgan, ein monatliches Frühstücksbuffet als Ort des Kennenlernens und Anlaufpunkt für Sympathisanten, monatliche „politische Dämmerschoppen“ als Forum für weitergehende Debatten und Gelegenheit für „Lust, Laber & Luxus“. Ergänzt werden diese Orte der Kommunikation durch spezifische Gremien wie den Rat für Verwaltung und Finanzen, für Bauausführung, sowie eine Gruppe für Öffentlichkeitsarbeit. Natürlich kommen die zahlreichen und überaus wichtigen spontanen Kontakte hinzu: Feten, Treffs, gemeinsame Essen, Kinderausflüge, Firmen- und WG-Klausuren, Veranstaltungen und vieles mehr. Ausbalanciert wird das Ganze durch große, gemeinsame Wochenendtreffen, die meist andernorts stattfinden und „großer Ratschlag“ getauft wurden. Hier soll, etwa halbjährlich, kritischer Rückblick gehalten und die Perspektive für die mittelfristige Zukunft gefunden werden.

Das Projekt in N. entwickelt sich derzeit von einem zunächst überwiegend handwerklich geprägten Netz zu einem Mischprojekt, wobei einige Dienstleistungen und der Bereich der Landwirtschaft noch völlig fehlen. Konkret existieren oder sind im Aufbau

  • an Firmen: Möbelschreinerei, Bauschreinerei, Buchladen, Transportunternehmen, Verlags- und Werbeatelier, baubiologischer Fachmarkt, Möbelrestauration, Antiquitätenhandel, chemisches Umweltlabor, Mess- und Regeltechnik, Kneipen- und Veranstaltungsgruppe, Fahrradladen, Bioladen;

  • an Initiativen: Kultur, Anarchistisches Dokumentationszentrum, Zeitungsinitiative und Verlag, Soziales und Gesundheit, Verkehrspolitik, Wissenschaftsladen, Umwelttechnologie und Musikgruppe.

Hinzu kommen - abgesehen von zahlreichen noch unkonkreten Plänen - die verschiedenen Verbindungen zu lokalen Initiativen, von den Tieffluggegnern bis zu antifaschistischen Aktionen. Seit neuestem nimmt das Projekt in N. auch an dem Aufbau einer regionalen anarchistischen Vernetzung teil.

Die meisten der Handwerksfirmen sind Meisterbetriebe, viele von ihnen GmbHs. Im Laufe des vergangenen Jahres konnten etwa ein Dutzend Ausbildungs-, Umschulungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden. Neue Firmen und Wohngemeinschaften wurden gegründet und als erstes, gemeinsames, von allen getragenes Vorhaben wurde eine alte Fabrik im Stadtzentrum gekauft. In diesem 1,5 Millionen-Musterprojekt soll eine ökologische Totalsanierung demonstriert werden. In dem Komplex entsteht zur Zeit eine Ansiedlung von Projekten aus dem kulturellen, ökonomischen, gastronomischen, politischen, ökologischen, gesundheitlichen und Freizeitbereich. Die Fabrik ist zwar nur ein Projekt von vielen auf N's Stadtplan, aber sicherlich das bekannteste und populärste, da es sich gegen behördliche Schikanen in einer erfolgreichen Öffentlichkeitskampagne durchsetzen mußte, die dem Verein viele Sympathien einbrachte.

Ökonomisch beruht das Gesamtprojekt in N. auf einer Mischfinanzierung, deren Basis zweifellos die Bonität der eingeführten Betriebe darstellt. Hinzu kamen Erbschaften, Ersparnisse und Darlehen, letztere überwiegend in Form von Tilgungsgemeinschaften bei der GLS-Bank („Geben-Leihen-Schenken“) und der Ökobank.

Alle Betriebe, Initiativen und Wohngemeinschaften funktionieren nach basisdemokratischen Prinzipien in Form der Selbstorganisation. Da jede Einzelgruppe autonom ist, sieht die Praxis überall etwas anders aus, was zu einer bunten, phantasievollen und entsprechend attraktiven Vielfalt führt. Das bezieht sich auf Lebensformen und -Standards, Verdienst, Arbeitszeit und -weise, Produkte und Lebensrhythmus ebenso wie auf solch klassische Kardinalfragen wie Ernährung, Alkohol, Rauchen, Saubermachen und Freizeitgewohnheiten. Diese Vielfalt bietet den unterschiedlichsten Menschen ihren ganz spezifischen Ort mit seinen ganz individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und verhindert gleichzeitig den dogmatischen Gruppenzwang zur Uniformität. Darüber hinaus schafft sie auch Möglichkeiten bei der Entschärfung von Konflikten, die bei anderen Projekten oftmals zu Spaltung oder Auflösung führen, indem inkompatible Lebensformen oder Personen sich an verschiedenen Orten installieren können, ohne aus dem Projekt ausscheiden zu müssen.

Nach nur anderthalb Jahren ist es somit gelungen, erste Flecken in der Stadtgeographie zu verankern, in denen ein „Leben ohne Chefs und Staat“ ansatzweise funktioniert. Diese Flecken sind indes keine versteckten Inseln, sondern Zugänge, die ständig ungezählten Menschen Einblicke in eine Aktions-, Lebens- und Arbeitsform bieten, von denen viele nicht ahnen, daß dies schlicht gelebte Formen von Anarchie sind. Andere, die dies inzwischen bemerkt haben, waren darüber in der Regel kaum mehr erschrocken und reagierten durchweg positiv.

Damit hat sich ein kleiner Teil der sozialen Spekulation des Projekts A bereits bewahrheitet. Zu wenig noch, um daraus verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen, aber immerhin genug, um daraus Kraft fürs Weitermachen zu schöpfen.

V

Soweit die nackten Fakten. Wie aber sieht's dahinter aus? Wo stecken Zweifel und Probleme, was sagt die Kritik?

Da ist das Beispiel vom CDU-Handwerksmeister, der lobende Worte findet; kein konstruiertes Beispiel, sondern in N. tatsächlich geschehen und nicht ohne Grund an den Anfang meiner Betrachtung gestellt. Während dies puristischen Kritikern die Witterung von Verrat in die Nase ziehen ließ, führte es innerhalb des Projekts in N. zu einer ambivalenten Verstörung: einerseits sicherlich ein Erfolg in unserem Sinne, andererseits Unwohlsein. Die Frage, wie wir in der Öffentlichkeit auftreten, kam auf den Tisch.

Als „Anarchisten“ sind wir explizit bisher nur ganz sporadisch an die Öffentlichkeit gegangen, als Gesamtprojekt überhaupt noch nicht. Das ist gewollt, weil wir im Augenblick weder technisch, personell, nervlich noch zeitlich den Anforderungen gewachsen wären, die eine öffentliche Debatte des Begriffs „Anarchismus“ mit sich brächte. Eine solche „Debatte“ wäre in einer beschaulich-bürgerlichen Kleinstadt angesichts der eingefleischten Vorurteile vermutlich denunziatorisch und polemisch. Derzeit konzentrieren wir alle unsere Kräfte auf den Auf- und Ausbau der Gebäude und die Konsolidierung der wirtschaftlichen Basis. Wir haben buchstäblich mehr mit Ziegelsteinen, Wasserrohren und Balken zu tun, als mit Papier - von Tapete einmal abgesehen. Noch fehlen so essentielle Dinge wie eine eigene Druckerei und Zeitung, einsatzfähige Veranstaltungsräume und hinreichender Rückhalt in der Bevölkerung für eine derartige Polarisierung. Eine solche Schlammschlacht, wie sie zu erwarten stünde, würden wir kaum unbeschadet überstehen.

Wir stellen uns in der Öffentlichkeit als „libertär vor und tun dies guten Gewissens, insbesondere deshalb, weil wir an unseren „Essentials“ keine Abstriche machen. Wir werden nicht müde, diese auch klar zu benennen: Leben ohne Chefs und Staat, Gegenseitige Hilfe, Selbstverwaltung, Freiheit, Autonomie, Ökologie.

Nun ist die Zurückhaltung mit dem Etikett „anarchistisch“ aber keineswegs eine Tugend, die aus der Not geboren wäre. Sie entspricht im Gegenteil wohl durchaus der Stimmung und den Absichten in diesem Projekt. Von Anfang an war das „Projekt A“ niemals als eine Einrichtung nur für Anarchisten konzipiert, und auch in N. wird niemand nach seinem politischen Credo, ausgefragt oder zu einem „Bekenntnis“ angehalten. Ich persönlich halte das für einen sehr positiven Aspekt, und aus der Tatsache, daß wir kein glaubensreiner Insiderverein sind, leitet sich gewiß zu einem Großteil die Stärke, Vitalität, Agilität und Frische dieses Projekts her. Natürlich gibt es dadurch verschieden starkes Engagement und Motivation. Aber unser Anliegen war nicht, eine Art Kaderorganisation mit Zwangsgleichheit zu schaffen, sondern ein funktionierendes, organisches Gebilde aus Menschen - mit all ihren Verschiedenheiten. Unausgesprochen gilt in N. wohl die Devise, daß es nicht interessiert, welches Etikett sich jemand aufklebt, sondern was für ein Mensch er ist. Im Gesamtprojekt wie auch in vielen Firmen gibt es eine Art gegenseitiger Probezeit, und da jeder Mensch im Netzwerk seine Partner und sein Plätzchen finden muß, entscheiden am Ende menschliche Qualitäten und Sympathie meist vor politischen Bekenntnissen, beruflicher Qualifikation oder finanzieller Potenz.

Dies scheint ein guter Prozeß gegenseitiger Auswahl und Findung zu sein. Ich bin stolz darauf, daß ich nach fast 10 Monaten in N. nicht weiß, wer von meinen Mitmenschen im Projekt A „Anarchist ist“ und wer nicht. Andererseits habe ich in den zwanzig Jahren meines Anarcho-Daseins noch selten mit so offenen, ehrlichen, erfrischend-anarchischen Lebens- und Umgangsformen zu tun gehabt.

Es gibt Projekt-A-Puristen, die allen Ernstes monieren, daß das Projekt in N. nicht dem Buche folgt. So sei die Ursprungsgruppe nicht durch den Zuzug überzeugter Anarchisten aus dem „bundesweiten Zusammenhang“ entstanden. Auch sei die Doppelprojektstruktur nicht konsequent verwirklicht. Beides stimmt, aber beides hat sich als Vorteil erwiesen, und wenn aus diesen Tatsachen Kritik erwachsen soll, dann müßte sie sich eher gegen einige Sichtweisen des Buches richten. Dort wurde zum Beispiel das Problem, daß hundert zugereiste Anarchisten in einer Kleinstadt wohl eher einen isolierten Fremdkörper bilden, nicht klar genug erkannt - ebensowenig wie die Tatsache, daß nicht unbedingt alle Leute mit all ihren Arbeitskollegen auch unter ein und demselben Dach arbeiten und wohnen möchten. Die „Variante N.“ - ein wahrhaft lustiges Gemisch aus Kreuz- und Querverbindungen - ist zwar nicht so übersichtlich wie das Schema der „Doppelprojekte“ (und mehr als ein Schema sollte es auch nicht sein), aber sicher funktionsfähig und sehr anarchisch.

Anderen Kritikern macht die ökologische Ausrichtung des Projekts zu schaffen. Zweifellos gibt es derzeit ein ökologisches „Übergewicht“ in N., wenn man das überhaupt so negativ ausdrücken kann. Daran ist ja auch gar nichts Schlimmes. Wohlverstandener Anarchismus ist ohne Ökologie ebensowenig denkbar wie umgekehrt. Daß Ökologie hier derart dominiert, hat seine Ursachen sowohl in der Geschichte von Betrieben und einzelnen Menschen, als auch in lokalen Gegebenheiten. Ihr „Übergewicht“ ist insofern eine ganz spezifische Stärke des Projekts in N. Will man diese Kritik überhaupt ernst nehmen, so allenfalls dahingehend, daß neben der Ökologie andere, ebenfalls wichtige Bereiche in diesem Projekt (noch) unterrepräsentiert sind. Dies sei zugegeben und gleichzeitig zurückgegeben an die Adresse der Kritiker mit der Bemerkung, daß Ungeduld keine Tugend, und die Forderung, alle Ziele müssen sofort, gleichzeitig und gleichgewichtig erreicht sein, schlicht unfair ist.

Innerhalb des Projekts selber machen sich Probleme in der Kommunikation und Koordination bemerkbar, die mit der rasch angewachsenen Zahl der Menschen und zum Teil mit den räumlichen Entfernungen zu tun haben. Hinzu kommt ein unterschiedlicher Erfahrungs- und Wissensstand in Bezug auf die örtlichen Gegebenheiten sowie auf die „Geschichte“ des Projekts in N. Derzeit wird versucht, diesen Defiziten mit entsprechend verbesserten Strukturen zu begegnen.

VI

Eine kürzlich in N. projektintern durchgeführte Befragungsaktion ergab, daß die meisten Aktiven der Meinung sind, daß wir an diesem Standort bisher viel erreicht haben und auf dem richtigen Weg sind. Von Euphorie oder Selbstgefälligkeit ist dennoch nichts zu entdecken. Wir wissen um die Begrenztheit unseres Experiments, haben aber auch keine falsche Scham, uns über das bisher Erreichte zu freuen. Unser Anfangserfolg gibt uns keinerlei Garantie dafür, daß wir unsere Ziele erreichen werden.

Wenn das Projekt A als Gesamtkonzept weiten Teilen der anarchistischen Bewegung als Kritik einen Realitätsverlust vorhält, so liegt die Vermutung nahe, ein praktisch-pragmatisches Projekt wie das unsere müßte dafür zwangsläufig einen Utopieverlust in Kauf nehmen. Ich bin guter Dinge, daß die vielen Gäste, die in letzter Zeit in N. waren, sich vom Gegenteil überzeugen konnten. Stimmung, Ambiente und Atmosphäre aber kann man nicht mit Worten beschreiben, deshalb will ich es gar nicht erst versuchen.

Wir denken in langen Zeiträumen. Für die meisten von uns ist das Projekt eine Lebensperspektive. Für viele auch die Chance, daß, bei entsprechender Ausbreitung der Ideen des „frischen Windes“, Anarchisten einmal wieder in der Lage sein werden, in sozialen oder politischen Krisen, in denen große Veränderungen auf der Tagesordnung stehen, Wege zur Umwälzung aufzuzeigen, die auch gehört und gegangen werden. So, wie sie es zuletzt vor über 50 Jahren konnten...

Auf einer unserer frühen Tagungen sagte unser Freund und Mentor Rolf Schwendter den denkwürdigen Satz: „Der Erfolg oder Mißerfolg Eures Projekts wird sich nicht in den ersten Jahren erweisen. Er wird sich dann zeigen, wenn Eure Kinder sich entscheiden werden, dort leben zu wollen oder vor ihm davonlaufen.“

Berlin, im September 1990

ders.: Leben ohne Chef und Staat, Frankfurt 1986, insbes. S. 164 ff.

[1] Vgl. Stowasser, Horst: Potemkinsche Blätter? in: Schwarze Tinte (Bulletin des Anarchistischen Dokumentationszentrums ADZ) Nr. 1, S. 14 ff., Wetzlar 1979;
ders.: Organisieren, aber wie? in: Freie Presse Nr. 15, Wetzlar 1981;
ders.: Zeitungsprojekt, ebd.;
ders.: Memorandum zur Pressefrage in der libertären Bewegung, Wetzlar 1987;
ders.: Anarchismus als Organisationsmodell der Vernetzung, in: Harms, Jens: Christentum und Anarchismus. Beiträge zu einem ungeklärten Verhältnis, Weinheim 1988;
Jenrich, Holger: Anarchistische Presse in Deutschland 1945-1985, Grafenau 1988

[2] Natürlich trifft diese pauschale Kritik nicht auf alle libertären Aktivitäten zu. Nur halte ich es für meine Aufgabe, in einem solchen Beitrag nicht die positiven Ausnahmen hervorzuheben, sondern die Defizite der Bewegung herauszuarbeiten.

[3] Gewisse Puristen neigen bisweilen mit der ihnen eigenen Überspanntheit zu der Meinung, dies sei weder möglich noch wünschenswert, da es den Menschen vom revolutionären Endziel ablenke. Diese Ansicht reduziert sich letztlich auf die Frage: „Gibt es ein Leben vor der Revolution?“ Ich würde sie bejahen.

[4] Vgl. z.B. die Debatte in der italienischen Zeitschrift Volontà im Laufe des Jahres 1988

[5] Vgl. Stowasser, Horst: Frischer Wind im Anarchismus? in: Graswurzelrevolution, 15. Jg. (1986) Nr. 102, S. 13-15;

[6] Die Bezeichnung „Anarchismus ohne Adjektive“, die von einigen dieser Anarchisten benutzt wurde, scheint mir nicht umfassend genug zu sein, da sie sich hauptsächlich nur auf den Aspekt des Undogmatischen bezieht. Vgl. hierzu auch: Stowasser, Horst: Leben ohne Chef und Staat, a.a.O., S, 185/186.

[7] Vgl. Losse, Edgar: Anarchismus im Hinterland - politische, soziale, kulturelle und ökonomische Projekte des Anarchismus im Raum Wetzlar von 1969-1984, Diplomarbeit, Marburg 1989

[8] Stowasser, Horst: Das Projekt A, Wetzlar 1986

[9] Die Metapher mit dem „Strickmuster“ hat übrigens die Genfer anarchistische Zeitung MA! (Nr. 5/1986) wörtlich genommen und ihren Lesern das Projekt A unter dem Titel „L'Anarchisme comme tricot“ vorgestellt.

[10] Dieses Bulletin trägt den Titel AHA!, bisher 25 Ausgaben

[11] Wer sich ernsthaft mit dem Projekt A auseinandersetzen will, wird um die Lektüre des Originalbuches (Anm. 7) nicht herumkommen. Das Buch kann bezogen werden über: Dachkammer-Buchvertrieb, Postfach 120423, 6800 Mannheim.

[12] Dieser Beitrag wurde im Herbst 1990 geschrieben.