Titel: Leben ohne zu warten
Untertitel: Von Mazas nach Jerusalem
AutorIn: Zo d’Axa
Datum: 1895
Quelle: Zo d’Axa: "Leben ohne zu warten - Von Mazas nach Jerusalem", Edition Nautilus / Nemo Press, Hamburg, 1984.
Bemerkungen: Originaltitel: "De Mazas à Jérusalem".

„...Ich, der ich nichts bin,

nichts sein will und allein fortgehe...“

- Zo d’Axa, der Außenseiter.

Der unter dem Schriftstellernamen Zo d’Axa bekanntgewordene Alphonse Gallaud wurde am 24. Mai 1864 in eine wohlhabende, katholische Pariser Familie hineingeboren; es heißt, sein Vater, ein höherer Beamter, stamme von dem berühmten Seefahrer La Perouse ab. Der für Söhne des damaligen Großbürgertums üblichen Bahn folgend, wurde er zu einem schlechten Schüler des Chaptal-Gymnasiums und anschließend zum zwar royalistisch-katholisch gesinnten, aber wenig enthusiastischen Kandidaten für die Saint-Cyr-Militärhochschule, bevor er sich 1882 freiwillig zum 1. Kürassierregiment meldete. Als er es dort bis zum Gefreiten gebracht hatte, sich aber in der Kaserne genauso wie früher in der Schule langweilte - „Ist nicht diese Militärzeit die am wenigsten menschliche Phase unserer Tätigkeit?“ fragte er am 12.5.1891 seine „L’ENDEHORS“-Leser -, bittet er um seine Versetzung zu den „Chasseurs d’Afrique“ (Afrikanische Feldjäger). Nach Algier versetzt, desertiert er kurz danach, zusammen mit der Tochter seines Obersten - die erste selbständige und gleich typische Handlung dieses „Ausbrechers aus der gesellschaftlichen Galeere“ wie er sich selbst später nennen wird.

*

Man findet ihn in Brüssel wieder: dort arbeitet er als Berichterstatter bei verschiedenen rechtsstehenden Zeitungen, bis zwei von ihnen ihm die Stelle eines Generalsekretärs anbieten. Er zieht es dann vor, sich diesmal mit der Tochter eines Apothekers abzusetzen. Der abenteuerliche Weg geht in die Schweiz und anschließend nach Italien - Turin, Florenz, Neapel und Rom, wo er unter den Künstlern der Villa Médicis anzutreffen ist. Zur Abwechslung verfuhrt er dort die Tochter eines Professors, kehrt aber nach der Amnestie von 1889 allein nach Frankreich zurück.

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Leben heißt unterscheiden, fühlen und auffassen, Seinen Namen behaupten durch Kampf und Tat, Den Angriff wagen und sich zur Wehr setzen, Die Stimme sein, die sich zum ‘ ein!’ erkühnt.“

Zo d’Axas erstes Werk sind Gedichte, die er nach seiner Rückkehr in Paris schreibt und unter dem Titel „LES INTENSIFS“ (DIE INTENSIVEN) gesammelt, aber nicht veröffentlicht hat (nur einige druckte er in den drei ersten Nummern von „L’ENDEHORS“ ab). Sicher ist auf jeden Fall, wie deutlich aus der oben zitierten Strophe herauszulesen ist, daß der junge Gallaud jetzt aus der Langeweile und der Unsicherheit heraus zu einem klaren Selbstverständnis gelangt ist und bei der nächsten Gelegenheit nicht zögern wird, sich selbständig auf dem bewußt gewählten Weg praktisch zu betätigen.

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Im Mai 1891 erscheint in Paris die erste Nummer einer vierseitigen Wochenzeitschrift mit dem bemerkenswert deutlichen Namen „L’ENDEHORS“ (frz. etwa: „DER AUSSENSTEHENDE“). Nicht nur die beiden Namen - der Zeitung selbst und des Herausgebers und Unterzeichners des Leitartikels, eines gewissen Zo d’Axa - klingen seltsam genug, sondern auch der ganze Stil des Blattes und des Unternehmens überhaupt:
Weder einer Partei noch einer Gruppe zugehörig. Außerhalb. Wir gehen - als Individuen, ohne den rettenden und blind machenden Glauben. Unser Ekel vor der Gesellschaft bringt keine unabänderlichen Überzeugungen hervor. Wir kämpfen aus Freude am Kampf und ohne den Traum einer besseren Zukunft zu träumen. Was geht uns das Morgen an, das erst in einigen Jahrhunderten sein wird? Was gehen uns die Großneffen an! AUSSERHALB aller Gesetze, aller Regeln und aller Theorien - sogar der anarchistischen -, vom jetzigen Augenblick an, sofort, wollen wir uns unseren Gefühlen des Mitleids und des Zorns, unserer Wut und unseren Instinkten hingeben - mit dem Stolz, wir selbst zu sein“. (L’ENDEHORS N.34 - 27.12.1891)

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Ich wollte den zeitgenössischen Schriftstellern, die wie ich nach klarer Sprache dürsteten, einfreies Blatt zur Verfügung stellen, eine Tribüne, auf der man bis an die Grenzen seines Denkens gehen konnte. Ich wollte die erste Verwirklichung dieses idealen Zusammenschlusses ohne Hierarchie, ohne Statisten, in der das Individuum, in der der Künstler seine ganze Persönlichkeit entfalten kann und daraufbedacht ist, nicht mehr etikettiert zu werden. Das war L ’ ENDEHORS.“

Mit einer gleichen und immer gleichbleibenden Lust an der radikalen Kritik und dem festen Willen, aus diesem Blatt trotz aller Vielfältigkeiten der Meinungen und vor allem der Temperamente (und es gab Zwischenfälle: so kam es zum Beispiel zu einem Duell zwischen Zo d’Axa, der diese Art von Auseinandersetzung gern praktizierte, und Georges Darien - aber niemals zum Bruch ihrer Freundschaft) eine gemeinschaftliche Plattform für gleichberechtigte und völlig frei schreibende Schriftsteller und Publizisten zu schaffen, betätigten sich zahlreiche berühmte Mitarbeiter an den 91 Ausgaben von „L’ENDEHORS“ (Mai 1891 - Februar 1893). Unter ihnen waren nicht nur militante Anarchisten wie Sebastien Faure, Louise Michel, Emile Henry und Malatesta, sondern auch Dichter - Emile Verhaeren, Saint-Pol Roux, Viéle-Griffin u.a.m. - und viele anderen Literaten wie Octave Mirbeau, Tristan Bernard, Felix Fénéon, Lucien Descaves, sowie der schon erwähnte Georges Darien. Und die Bilanz dieser absolut unabhängigen Zeitschrift „außerhalb jeder Sekte und jeder Schule“: 1892, nach einem Jahr des Erscheinens, war „L’ENDEHORS“ schon 11mal zu insgesamt 15.150 damaligen Francs Geldstrafe verurteilt worden.

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Das Vergehen ist, man selbst sein zu wollen und zu versuchen, sich zu emanzipieren. Das ist ein Stolz, den man bezahlt. Es ist verboten, laut zu denken! Es ist verboten, unter dem unmittelbaren Eindruck spontan vom Leben zu sprechen!“

22. April 1892 - 1. Juli 1894. Die Ereignisse dieser recht bewegten Zeitspanne im Leben Zo d’Axas kann man beim Lesen von „LEBEN OHNE ZU WARTEN“ intensiv nachempfinden: wie er, der Unterstützung einer kriminellen, terroristischen Vereinigung angeklagt und nach einem Monat im Mazas-Gefängnis wieder auf freien Fuß gesetzt, gleich zwei Artikel gegen die Justiz und ihre Richter schreibt, nach deren Veröffentlichung in „L’ENDEHORS“ er rechtzeitig abschätzt, er solle jetzt wohl am besten und schnellsten Frankreich wieder verlassen. Wie er dann auf den verschiedensten Wegen und unter den abenteuerlichsten Umständen von London aus durch ganz Mitteleuropa reist, um schließlich in Jerusalem (zum viertenmal!) festgenommen zu werden. Zwangsweise per Schiff ins „Vaterland“ - das heißt in das Pariser Sainte-Pélagie-Gefängnis - zurückgebracht, benutzt er die achtzehn Monate „Freizeit“, die er dort noch verbringen muß, dazu, um das vorliegende Buch, einen der turbulentesten und packendsten Reiseberichte und Abenteuerromane der französischen Literatur, niederzuschreiben.

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Das Buch hatte - sogar unter Zo d’Axas Gegnern - einen beachtlichen Erfolg. So kennzeichnete es Clémenceau als „eine große Lehre von der Respektlosigkeit“, während Jules Renard in seinem „Tagebuch“ notierte, er habe dem Autor gesagt, „durch sein Buch lerne man seinen Charakter lieben“. Dessen-ungeachtet oder wahrscheinlich vielmehr deswegen war dieser dann zwei Jahre lang - 1896 - 1897 - in Paris nicht mehr zu sehen; es gab nur das Gerücht, er sei in die Feme gereist. Seit 1893 stieß „L’ENDEHORS“ nicht mehr den „Schrei der Revolte“ aus: zu große Schulden nach den zu häufigen Geldstrafen, Renegaten unter den Mitarbeitern, Zo d’Axas Abwesenheit, das waren Gründe genug für die Einstellung. Als letzter Wink erscheint im Jahre 1896 die 248 Seiten dicke Gesamtausgabe der verschwundenen Kampfschrift.

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1897: die ganz Frankreich aufrüttelnde Dreyfus-Affäre.
Zo d’Axa taucht wieder auf, noch einmal vom „hochmütigen Vergnügen des gesellschaftlichen Kampfes“ gepackt. Am 6.10.97 erscheint die erste Nummer seines zweiten (und letzten) Presseorgans mit dem einfachen Titel „LA FEUILLE“ (DAS BLATT). Diesmal gibt er allein die tatsächlich aus einem einzigen Blatt Papier bestehende Zeitung „zu jeder passenden Gelegenheit“ heraus. Er ist auch ihr einziger Verfasser, nur einige unter den besten Zeichnern und Karikaturisten der Zeit - Steinlen, Léandre, Hermann Paul, Willette usw. - machen mit: ihnen gehört die Rückseite, Zo d’Axas Texten die Vorderseite.
Auch wir wollen das Volk ansprechen - nicht um ihm zu schmeicheln, ihm das Blaue vom Himmel, Grenzflüsse und Naturgrenzen, nicht einmal eine saubere Republik oder ehrliche Kandidaten zu versprechen, auch nicht einmal eine Revolution, die das Paradies auf Erden einleiten würde... - Hierwollen wir klar sprechen. (...) Wir wollen sehr einfache Sachen sehr einfach sagen.
Selbstverständlich drückt sich Zo d’Axa auch über die Affäre und ihren Helden immer klar aus: ein revolutionärer Freischärler, greift er - der von Anfang an von Dreyfus’ Unschuld überzeugt war und es gesagt hat - sowohl die dreyfus-feindliche und dreyfus- freundliche, katholische, freimaurerische und atheistische Bourgeoisie an als auch die jüdischen Bankiers, Finanziers und Politiker. Scharf rügt er all die Anarchisten, die sich im dreyfus-freundlichen Lager soweit kompromittieren, daß sie mit bürgerlichen Politikern verkehren und diese unterstützen. „LA FEUILLE“ läßt auch die Tatsache nicht unerwähnt, Dreyfus sei immerhin jener Hauptmann der französischen Armee, der weiter für sich in Anspruch nimmt, ein guter, ehrlich chauvinistischer Offizier zu sein: „Wenn dieser Herr kein Verräter war, so war er doch ein Hauptmann. Lassen wir das!
So lautete Zo d’Axas Fazit.

Nur die Gegenwart ist von Bedeutung. Am 28.3.1899 erscheint „LA FEUILLE“ zum 25. und letzten Mal, nicht ohne noch einen riesigen Skandal durch die Enthüllung über die Zustände entfesselt zu haben, die in den französischen Kindergefängnissen herrschen. Im Jahre 1900 schreibt Zo d’Axa das Vorwort zur Gesamtausgabe seines eingestellten Blattes und verschwindet wieder, als ob er mit dem anbrechenden Jahrhundert nichts zu tun haben wollte: „Es gibt nichts sehr Schönes zu hoffen. In Anbetracht dessen, was die Menschen sind - all die Menschen, die wir kennen, wir miteinbegriffen - , sollte man nicht den Umwälzungen vorgreifen, die an den Lügen einer Welt Rache nehmen werden. Sie kündigen sich an...
Von nun an wird er nur noch reisen und - von ein paar sehr seltenen Ausnahmen abgesehen - schweigen. Zwangsläufig wird die Biographie zur dürftig punktierten Lebenslinie...

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Reisen! Weg von den Spleens! Jeder Ort hat anfangs seinen Charme: alles ist schön - wenigstens eine Stunde lang.
Weisheit heißt, nicht zu verweilen. Weiterziehen, Eindrücke in sich aufnehmen, neue Sensationen kosten, Neuland genießen und weiterziehen - immer weiter! Wahrscheinlich in irgendein unerreichbares Vaterland.“

Zo d’Axa lebt zunächst eine Zeitlang in den USA unter Indianern, nachdem er es nicht versäumt hat, Brescis[1] Witwe einen Besuch abzustatten. Nach Südamerika sind es dann Indochina, Japan, Indien und Afrika. „Durch das Glück der Geburt, eines absurden und bequemen Privilegs, vermacht mir noch vor ihrem endgültigen Bankrott die kapitalistische Gesellschaft ein bißchen Barschaft[2]. Die letzten Assignaten benutze ich für die Reisen, die mir noch gefallen.

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1917. Zo d’Axa, der dann und wann Reiseeindrücke in einigen Zeitungen und Zeitschriften hatte drucken lassen - zum Beispiel seine amerikanischen „Wanderschaftsnotizen“ in Dariens ,,L’ ENNEMI DU PEUPLE“ (DER VOLKSFEIND, 1903 - 1904) - , würdigt den 1. Weltkrieg mit keiner einzigen Zeile und lehnt es ab, seine Memoiren zu schreiben. „Es ist kein Zufall, daß ich niemals schreibe, und, sollte ich einmal irgendeine unanständige Lust dazu bekommen, laut zu denken, so geschähe es nicht im Rückblick Ich würde die Gegenwartsform gebrauchen...
Sogar über die neuentstandene UdSSR, die er nach dem Ausbruch der Revolution besucht, schweigt er. Sein letzter öffentlicher, schriftlicher Beitrag ist ein „Offener Brief“ - eine Erwiderung auf einen Journalisten und eine Art Selbstverständnis am Lebensabend - , den er in Paris, wie immer auf der Durchreise, Sebastien Faure, dem Herausgeber der libertären Zeitschrift „LE JOURNAL DU PEUPLE“ (DIE VOLKSZEITUNG) 1921 zur Veröffentlichung gibt.

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Atmen, anderswo atmen... Und zweifelsohne eher ein Nomade - was ist denn leben, wenn nicht seiner eigenen Natur gemäß einen Augenblick verbringen?“

Weitere, ununterbrochene Wanderjahre, in denen Zo d’Axa „die Kunst, allein zu gehen“ übt: lange Zeit geht es quer durch Europas Flüsse und Kanäle auf einem Schleppkahn, dann fahrt er mit dem Fahrrad. Jede Nacht schläft er aus Haß gegen die Hotelzimmer unter freiem Himmel. 1928 (?) soll er in Marokko bei der Familie Reclus zu Gast gewesen sein und einen Selbstmordversuch begangen haben. Es heißt weiter, er habe seine „letzten Lebensjahre“ in Marseille verbracht - sicher ist nur, daß er damals in dieser Stadt gesehen wurde.

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Ende August oder September 1930 stirbt der 67-jährige Musketier und Patrizier der Anarchie in Paris - man weiß nicht genau, ob an einem Schlaganfall oder nach dem zweiten, diesmal gelungenen Selbstmordversuch. „Leben ist die einzige Gewißheit, leben wir, ohne zu warten - Aktion, Wort oder Schweigen. Eine Frage der Stunde, ein individueller Fall. Und auf möglichst wenig alberne Art...“

I. Der Verbrecher

Die Verhaftung

Es geschah alles sehr schnell. An einem Freitag im April – acht Tage vor dem 1. Mai[3] um fünf Uhr früh schellt es bei mir zuhause, Klopfen im Treppenhaus, Eindringen in meine Wohnung: die Polizei kommt zur Durchsuchung.

Die Papiere werden durchwühlt, man sucht Waffen im Arbeitszimmer, verschiebt das Geschirr - man will unbedingt Dynamit im Schrank des Speisezimmers finden.

Kurz, um nicht mit leeren Händen fortzugehen, beschlagnahmen diese Herren vom Einsatz - es sind ihrer zwölf - Briefe von Freunden, bemächtigen sich willkürlich einiger Manuskripte und wählen unter den Publikationen, die sie finden, diejenigen mit rotem Umschlag aus.

Darüber hinaus war die Hausdurchsuchung nur ein Vorwand. Jetzt kommt die Verhaftung, Wir brausen in der Droschke zum Depot.

Ziemlich charakteristischer Empfang. Die Polizisten führen mich zu einer Art Glaskiosk, in dem drei uniformierte Beamten in Registern herumkritzeln. Wir warten in einer großen Kalksteinhalle vor dem Schalter des Glaskiosks. Plötzlich hebt einer der Beamten mit blutunterlaufenem Gesicht und Käppi auf dem Ohr den Kopf:

„Nehmen Sie den Hut ab“, schreit er unvermittelt.

„Für wen?“

„Ah! So ist das, wir werden ja sehen. Kerker, trocken Brot. Grüßen Sie mich?“

„Das fällt mir nicht ein.“

„Führen Sie ihn ab!“ schreit er, aufgeregt auf seinem Bürokratensitz rutschend.

Das fängt ja gut an. Die Mauern der Zelle, in die man mich einsperrt, triefen vor Feuchtigkeit, das Bett ist ohne Strohsack, der Stuhl ist schmierig und man muß sich mit drei Metern Raum zum Auf- und Abgehen begnügen.

Es ist also tatsächlich kein Traum. Ich bin im Gefängnis. Ich habe keine Ahnung, welche Anklage man gegen mich zu erheben sucht, aber eigentlich kann nur unser ENDEHORS in Frage kommen. Polizeistrafe und Schwurgericht sind noch nicht genug: indem man mich einsperrt, will man jetzt den ENDEHORS ersticken... Ein Zufall will, daß in den nächsten Tagen der Jahrestag seiner Gründung ist!

Ich werde ihn für mich feiern.

Wir können ruhig zurückschauen. Der Kampf war kein Gefecht gegen Windmühlen. Die Scharmützel klärten die Richtung und die Kampagnen waren fruchtbar. Alle Zeitungen waren gezwungen, uns Beistand zu leisten, als wir den Hilferuf für einen Galeerensträfling, für diesen unglücklichen Reynier, lancierten, den feige Rachegefühle und juristische Komplizenschaft seit acht Jahren in den Galeeren der Insel Nou zur Strafe für ein Verbrechen festhielten, das von zwei schrägen Vögeln - der eine Abgeordneter der Stadtverwaltung und der andere Priester - begangen worden war.

Gestern setzten wir uns noch für die Kleinen, für die Kinder der gefangenen „Kameraden“ ein. Es ging darum, die Knirpse, deren Väter, weil sie Revoltierte sind, unerbittlich von der Gesellschaft verfolgt werden, nicht vor Hunger sterben zu lassen. Unser Aufruf war nicht umsonst: die Ärmsten gaben, was sie hatten und alles, was in Literatur und Kunst einen Namen hatte, trug dazu bei, den Schwächsten die Hand zu reichen.

All das kommt mir, gewichtig und überhaupt nicht kindisch, in den Sinn.

Ebenso denke ich an die uneigennützigen Genossen, die mit uns an vorderster Front kämpften, an diese Bürgersöhne, die ihr Leben andächtig hätten verfliessen lassen können, die aber den Kampf für die Idee und um glücklich zu sein vorgezogen haben. Ich denke an die Deserteure der Bourgeoisie, die mit ihrer Feder und ihrer Wachsamkeit auf die Seite der Unterdrückten übergewechselt sind. Eine Art Überschwenglichkeit kommt in mir auf; es tut mir gut, mich zu erinnern. Wie unwichtig ist mir in diesem Moment mein Aufenthalt hinter Gittern, wenn nur meine Genossen frei und standfest bleiben - und mir meinen Posten, auf bald, freihalten.

Räubergeschichte

Schlüsselrasseln. Die Tür öffnet sich. Der Ermittlungsrichter läßt mich vorführen.

Ein paar Treppen, Gänge, Korridore. Ein Wärter, der mir als Führer dient, besitzt die empfindsame Aufmerksamkeit, mir, zweifellos um ihn in diesem Labyrinth nicht zu verlieren, Handschellen anzulegen. Weitere Treppen, Gänge... und wir gelangen in einen engen Vorraum, der an das Büro des Untersuchungsrichters angrenzt. Uns gegenüber ist ein Namensschild angebracht. Es lautet: M.Anquetil, Richter.

Wir treten beim Untersuchungsrichter ein. Was wird er sich aus den Fingern saugen?

Die Person sitzt mit müdem Ausdruck zusammengesunken in einem Sessel. Er läßt mir von einem Gerichtsschreiber eine lange Schmähschrift vorlesen, die m ir folgendes Verbrechen unterstellt: Ich werde der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt.

Jetzt weiß ich wenigstens, woran ich mich zu halten habe. Die Entdeckung ist originell. Und weil ich mich nicht rege, verhört mich Anquetil, seine Wörter kauend:

„Man hat bei Ihnen revolutionäre Zeitschriften und Papiere beschlagnahmt... wir haben Beweise.“

„Tatsächlich?“

„Es gibt sogar eine Liste - eine Adressenliste!“

Triumphierend hält er sie mir unter die Augen. Es ist die Abonnentenkartei der Zeitschrift!...

„Eine Adressenliste“, beharrt er, indem er mit seinem Papier herumwedelt, „das ist sehr schwerwiegend. Warum leugnen?“

„Das frage ich mich auch.“

„Darüberhinaus waren Ihre Artikel vielversprechend. Sie haben gehalten, was Sie versprachen. Wir waren aufmerksam. Wir werden Ihre Beziehungen zu diesen kompromittierten Leuten aufdecken. Sie haben Geld an gesindelhafte Familien geschickt. Das ist Beweis genug. Was haben Sie dazu zu sagen?“

„Nichts.“

Nein, nichts! Denn das hieße, noch einmal hintergangen zu werden, und diesmal wäre es lächerlich, sich auf das Spiel einzulassen, bei diesen Untersuchungsrichtern, die uns mit flüchtigem Blick verhören...und die wir verurteilen, an einen Rest von Aufrichtigkeit zu glauben.

Nein, keine Antwort. Nichts, niemals!

Denn diese Individuen fallen mit dem Recht über uns her und selbst unsere Antworten errichten - hinterlistig verfälscht – das Gerüst der Anklage.

„Hier ist das Vernehmungsprotokoll: unterschreiben Sie.“

„Nein.“

„Wärter, führen Sie den Angeklagten ab.“

Der Untersuchungsrichter hält dem Wärter ein folgendermaßen abgefaßtes Schriftstück hin:

„Wir, Anquetil, Untersuchungsrichter der Gerichtsverhandlung in erster Instanz, ermächtigen und befehlen jedem Beamten der öffentlichen Sicherheit,

Zo d’Axa, 27 Jahre,

der „Mitgliedschaft in einer kriminellen

Vereinigung“ angeklagt,

in die Haftanstalt von Mazas zu überführen.“

Mazas

Der Wärter führt mich zu einem Hoftor, vor dem ein Gefangenenwagen parkt. Etwa zehn weitere arme, zerlumpte Teufel schließen sich uns an. Der Wagen ist wirklich für uns. Einer nach dem anderen steigen wir ein, man legt uns in Ketten und los geht’s!

Schon eine kurze Fahrt in diesem Fahrzeug, das keine Federung kennt, eine Viertelstunde lang ohne seine Position ändern zu können, zu ersticken, eingezwängt in einer Gefangenenwagenzelle, gegen die Rückwand mit genau aneinandergereihten, durchstochenen Entlüftungslöchern geschleudert zu werden, schon die kürzeste Fahrt in diesem Zellenwagen genügt, um auf ewig die Vorstellung an die „Grüne Minna“ zu bewahren.

Wir kommen in der Abenddämmerung an. Hier ist Mazas. Die schweren, wieder geschlossenen Tore, die auf- und abgehenden Wachposten, die Mauern aus angegrautem Bruchstein und selbst das ferne Echo der Schritte, alles ist von schwerer Traurigkeit.

Die Inhaftierungsformalitäten werden vorgenommen: Namen, Vornamen, Größe nach Klaftermaß, eine annähernde Beschreibung.

Dann kommt die Durchsuchung, oder besser, das völlige Entkleiden.

Alles, was man mit sich trägt, Kleider, Wäsche und unerhebliche Gegenstände, breiten sich vermischt auf dem gekachelten Boden aus, auf dem man dann mit nackten Füßen, Beinen und bloßem Oberkörper wartet.

Man wirft uns eine Hose von verdächtigem Grau, eine kurze, von Rissen durchsetzte Jacke und ein Hemd ohne Knöpfe zu, man nimmt seine Schuhe zurück und schon ist man ausgestattet und kann der Plünderung seiner Taschen beiwohnen.

In diesem finsteren Winkel, von Wärtern mit barschen Gesichtern umgeben und im verschwommenen Schein der Lampe, läßt dieses Gewühl von Menschen, die sich über den Kleidern tummeln, die man gezwungenermaßen abgegeben hatte, im Geist einige Episoden aus dem Wald von Bondy Wiederaufleben.

In der neuen Zelle, in die man mich dann „steckt“, herrscht absolute Dunkelheit.

Es gibt nicht einmal ein Stück Brot, um diesen bewegten, anstrengenden Tag zu beenden: wer schläft, ißt!

Tastend suche ich meine Schlafstelle und die Müdigkeit schenkt mir, bis morgen, einen tiefen Schlaf.


Eine Glocke läutet.

Das ist das Wecken. Schlüsselbunde kommen in Bewegung. Man hört, eine nach der anderen, die Türen der langen Zellenreihe auf- und zugehen. Der Lärm kommt näher, ein Wärter erscheint:

„He! Die Nr.9, aufgestanden! Ihr Blechnapf? Wollen Sie kein Wasser?“

„Aber ja!“

„Ihr Blechnapf?“, wiederholt er, sich schon entfernend. „Sie wollen kein Wasser, gut, dann bekommen Sie eben morgen welches.“

Er ist ein lustiger Kerl, mein Schließer. Was soll’s! Ich stehe auf. Die Pritsche trennt die Zelle in einer Querlinie. Sie ist eine Barrikade gegen das Herumlaufen. Wahrscheinlich soll sie tagsüber nicht so bleiben. Ich finde dafür fast augenblicklich die Bestätigung: der Wärter, in seine grüne Uniform mit gelben Litzen und Kupferknöpfen gezwängt, die er wie ein ausgedienter Spieß trägt, taucht mit rauher Stimme wieder auf:

„Los, legen Sie die Decke zusammen, haken Sie die Pritsche los... und so jeden Morgen beim Wecken.“

Die Zelle ist klein, aber sehr hell, von einer grellen Helligkeit, die zum Himmel reflektiert. Als Möbel dient der berühmte Blechnapf aus Zink, ein Kübel mit Deckel, ein massiver Tisch und ein grobgeflochtener Stuhl, der mit einer Eisenkette an einem Tischbein befestigt ist.

In Höhe der Klappe, die in der Tür angebracht ist, befindet sich ein Brett, auf das wahrscheinlich die Lebensmittel gestellt werden, die von draußen gereicht werden. Man legt ein Graubrot darauf, aber nicht dieses gute Soldatenbrot mit knuspriger und goldener Kruste, sondern ein schlaffes, feuchtes Brot, eine Kugel aus Kleie! Um neun Uhr etwa wird ein Eßnapf gereicht, in dem ein rundes Stückchen Möhre in der Transparenz einer Flüssigkeit schwimmt. Und um drei Uhr nachmittags die zweite und letzte Mahlzeit: Reis. Er ist makellos weiß. Die Körner sind schön geschlossen und würden auf dem Fußboden springen. Ein Fakir würde sich vielleicht daran ergötzen, aber ich kann mich an diesem Buddhismus nicht laben.

Aber wirklich unangenehm ist der Ton, mit dem man bei jedem Anlaß und auch ohne Anlaß verhört wird. Das ist die Unverschämtheit des Wärters von Galeerensklaven. Zwanzigmal zeigt sich ein mürrischer, verstimmter Kopf mit umherschweifenden Blicken an der Türklappe:

„Fegen Sie! Da liegen Brotkrümel am Boden. Öffnen Sie das Fenster. Schließen Sie das Fenster. Regen Sie sich besser, statt von Ihren schmutzigen Angelegenheiten zu träumen!“

Und zwanzigmal täglich knallt die Türklappe - wie ein Schlag ins Gesicht - wieder zu.

Kann man sich wirklich vorstellen, kann man sich die Empfindungen eines alles in allem im Leben eher feinfühligen Menschen vor Augen führen, der dazu gezwungen ist, dort alle Grobheiten auszustehen?

Obwohl er sich doch nur in Untersuchungshaft befindet.

Aber das hat nichts zu sagen. Kein Rauch ohne Feuer und keine Inhaftierung ohne Makel! Ist es darüberhinaus nicht normal, daß die Gefängnisbediensteten, wenn ein Untersuchungsrichter jemanden anhand seiner Verdächtigungen beleidigt, mit ausfallender Verachtung über ihn herfallen?

Aber gerade dann fühlt man unbedingt die Notwendigkeit, noch stolzer zu trotzen. Die Verletzbarkeit wird größer; man widersetzt sich, mit gehobener Stimme. Man fordert Respekt - und kommt dafür ins Loch.

Ich habe die Erfahrung gemacht.

Trotzdem meine ich, daß das Loch manchmal erholsam sein kann.

Man hat schließlich das während langer, langer Tage unerbittlich grelle Licht auf den weißen Mauern der normalen Zelle satt. Grelles Licht - grausames Licht.

Dagegen ist das Loch fast dunkel. Umso besser!

Dort, kein Bett: eine Decke. Dafür ist man weniger belauscht, wird weniger hart angeschnauzt. Man gerät etwas in Vergessenheit. Man wickelt sich, wie im Zeltlager, in seine Decke ein und sinniert weit ab vor sich hin...

Doch das heißt auch ausschließlich trocken Brot.

Aber egal. Die materielle Seite ist nicht die schwersterträgliche. Das Schlimmste ist der Kontakt mit den nichtsnutzigen, provokativen Knastbediensteten. Was für eine Erleichterung, wenn der Abend kommt und wenn der schroffe Wärter zum letzten Mal grunzend ruft:

„Legt Euch schlafen.“

Und wieder ist ein Tag zuende. Das macht wenig Spaß. Es gab zwar den Hofgang, aber das ist ein schmales Vergnügen.

Dreißig Minuten lang in einem kreisförmigen Hof herumlaufen, der in Abteilungen aufgegliedert ist, die zu einem zentralen Wachturm hin auslaufen, von dem aus der Wärter jeden Sektor übersehen kann!

Das ist die Zelle in frischer Luft.

Und um dorthin zu gelangen, muß man die schlimmsten Schmähungen erdulden. Wenn dann schließlich der Zeitpunkt gekommen ist, schreit ein Wärter:

„Rausrücken!“

Die Tür geht auf, man muß höllisch aufpassen, bereit sein und hinausstürzen. Beeilung! Schnell die Zellen entlang. Wie ein zum Lager gehetztes Vieh. Und dann stößt man dort hinten am Ausgang auf einen unwirschen Wärter. Noch schneller. Das aufgeregte Eingliedern in der Mausefalle. Der Hofgang! Wer ist jetzt dran:

„Rausrücken. Im Trab! Im Trab! Verflucht, wollt Ihr wohl traben...“

Mir verlangsamt das den Schritt.

Intermezzo

Ich glaube, man wäre wirklich zu bedauern, wenn man die romanhafte Tendenz besäße, die Dinge zu dramatisieren. Die Realität ist ausreichend genug. Man ist Opfer, daran gibt es keinen Zweifel. Die Zellenexistenz ist gemein, das versteht sich von selbst. Aber letztlich behält man, ich gebe es gerne zu, eine günstige Geisteshaltung, die es einem manchmal dennoch erlaubt, dem Ganzen eine amüsante Note abzugewinnen. So gab es während der Durchsuchung ein Ereignis, das mir als Intermezzo erschien. Ich hatte bereits meine Sachen ausgezogen; die Wärter kehrten hockend meine Taschen um. Plötzlich schreit einer von ihnen auf und läßt meine Jacke zu Boden fallen:

„Da drinnen hat sich etwas bewegt!“

„Aber nein!“

„Ich sage Euch, daß sich da drinnen etwas bewegt hat!“

Das beschwor eine Panik herauf: eine Bombe, eine Explosion, ein Hexenkessel! Und - eine schreckensgeladene Stille, in der man eine Lunte hätte brennen hören können.

Schließlich wagt sich der entschiedenste der Wärter wie ein Held, Sklave seiner Pflicht, unter tausend Vorsichtsmaßnahmen dennoch vor und nimmt erneut meine Jacke. Jede seiner Bewegungen ist genau ausgewogen, abgeschätzt, aufgegliedert, subtil, markig weich, wenn ich so sagen darf.

Mit langsamen Bewegungen durchforscht er tastend das Futter.

Er gleitet mit seiner Hand in eine Tasche und zieht, seinen Kopf halb zur Seite drehend, einen demütig in Salatblättern verborgenen Körper hervor, der sich tatsächlich zu bewegen scheint... Es ist eine simple Schildkröte.

„Ah! Das ist stark.“

„Man muß dem Brigadier davon Bericht erstatten.“

Aber das hat noch eine andere Geschichte zur Folge. Der Brigadier will keine Verantwortung für eine Entscheidung übernehmen. Stellen Sie sich das vor! Was ist zu tun - der Fall war nicht vorgesehen - was ist mit dem Tier zu tun?

Ein schwerwiegendes Problem.

Die Szene dauert an und wandelt sich ins stark Groteske: inmitten der doppelten Zellenreihe gestikuliert die Gruppe von Männern in Uniform über eine kleine Schildkröte.

Der Oberwärter kommt angerannt, untersucht, wägt ab und urteilt:

„Wo ist das Vieh?“

„Dort, dort“, zeigen alle ausgestreckten Finger.

„Schmeißt dieses Ungeziefer in die Garderobe!“

Pellisson hatte noch weniger Glück mit seiner berühmten Freundin. Einige Details amüsieren mich zwar, aber die kleinen Aspekte, sind nicht nur zum Lächeln. Wer weiß, ob das stark aufs Minimum reduzierte Mobiliar, mit dem ich mich heute bequemen muß, nicht morgen die rudimentäre Einrichtung des Skeptischsten meiner Leser sein wird? In Mazas ist die Gastfreundschaft der Zellen eklektisch: jeder ist den Launen eines Richters ausgeliefert. Schon diese unscheinbaren Ereignisse, die ich so wiedergebe, wie sie sich ereignet haben, geben zweifellos einen speziellen Vorgeschmack davon.

Arme Schildkröte! Und überdies sehr niedlich in ihrer Schale aus warmem Ockergelb, dekoriert mit einem Sechseck aus schwarzen Fransen. Als ich sie mitnahm, glaubte ich wohl, sie könne die monotone Unbeweglichkeit der Dinge in meinem Gefängnis aufheben. Vergebliche Hoffnung. Einige Tage später kommt der Chef der Wärter, ein Alter mit grauem Schnurrbart, zornig zu mir:

„Ihr Vieh fuhrt einen Teufelstanz in der Garderobe auf!“

Noch am gleichen Tag kommt ein Herr mit einer dreifach dekorierten Uniformmütze, aber väterlichem Gesicht, auf seinem Inspektionsgang bei mir vorbei.

Dieser Herr ist der Direktor.

Er liebt die Tiere, erklärt er mir: die Schildkröte werde an irgendjemanden draußen weitergegeben.

„Warum läßt man sie nicht bei mir in der Zelle?“

„Sie würde sterben...“

„Wie?...“

„Ja, an Luftmangel.“

In verschärfter Einzelhaft

In der Stille der verschlossenen Zelle spürt man das Verfließen der Zeit Sekunde um Sekunde, Körnchen auf Körnchen, wie in der Sanduhr.

Das dauert nun bereits drei Wochen, ohne Neuigkeiten von draußen und ohne Besuch der liebsten Menschen... Familie und Freunde klopfen vergeblich an die schweren Tore von Mazas. Wenn ich mich vollkommen legal verteidigen wollte, ich könnte es nicht. Selbst was man den am stärksten belasteten Untersuchungsgefangenen fast sofort zugesteht, verweigert man mir beständig: Ich habe kein Recht auf einen Verteidiger. Ich vegetiere, abgeschnitten von der Welt. Die Empfehlung ist formell, es ist im Interesse der Ermittlung erforderlich:

Ich bin in verschärfter Einzelhaft!

Und die entnervende Komödie nimmt ihren Verlauf. Was den Rest, die Ermittlung, angeht, so gab es bislang nicht einmal den Versuch einer zweiten Vernehmung. Man gibt sich nicht einmal die Mühe, die Willkür der Inhaftierung zu verschleiern.

Warum sollten sie sich auch genieren und vor wem?

Die Tage werden immer häßlicher und wiederholen sich.

Von der Glocke, die einen in der Morgendämmerung auf der Schlafstelle überfällt, bis zur schwerfälligen, trägen Nacht ein einziges Hin- und Herschreiten wie in Käfigen.

Die Gewohnheit, vier Schritte in die eine Richtung zu zählen, wenden, und vier Schritte in die andere Richtung, wird tyrannisch. Zwangsvorstellungen machen sich breit: man tritt immer auf dieselbe Stelle, man dreht sich mit der gleichen brüsken Bewegung. Nocheinmal und wieder und wieder und noch vielmals...

Man hat keine Lust, sich an den Tisch zu setzen und zu schreiben. Eine verschwommene Ungewißheit gibt fließenden Visionen Gestalt, man folgt ihnen schicksalergebenen Schrittes und mit herunterhängenden Armen hin und her.

Man wartet auf etwas, man weiß nicht recht, auf was, aber auf etwas Neues. Das kann nicht so weitergehen. Kommunikation, egal welche, steht unmittelbar bevor. Ist sie schon da?

Man zuckt zusammen und bleibt stehen.

Die Augen blicken zur Tür und die Ohren lauschen. Aber nichts. Das Karussell fängt wieder an: vier Schritte, die Wand, zurück...

Ein physischer Aktivitätsbedarf nutzt sich vielleicht an diesem Spiel ab. Vielleicht macht man auch dem Wunsch, den langsam vergehenden Stunden durch das Abmessen des Raumes die Sporen zu geben, etwas vor.

Diese Augenblicke sind ebenso strafend wie stagnierende Epochen.

Die Tage scheinen nie zuende zu gehen. Diese Art fiebrigen Wachens, dieses immer auf der Hut sein, schärft die Sinne ungemein; das Gehör erwirbt eine spezielle Schärfe: man unterscheidet das Nahen dieses oder jenes diensthabenden Wärters oder des Direktors.

Denn dem Direktor ist die Koketterie eigen, oft in die Käfige zu kommen. Er kommt mit seiner widerlich schleimigen, falsch gutmütigen Art und stellt Fragen.

Er weiß, daß die Isolierung, ein langes Entbehren des Sprechens, den Schweigsamsten gesprächig macht.

Das macht ihm Spaß.

Aber eines Tages bin ich an der Reihe, ihm zu sagen, was ich von dem Zellenregime denke:

Eine runde Sache, die Zuchthaushaft!

Und dazu da, die Übeltäter, diese Kranken, zu heilen, nicht wahr?

Also gut! Sehen wir uns die Verabreichung der sozialen Arznei, diese Kur für Verbrecher an. Immer den gleichen Gedankengängen ausgeliefert, verblutet das menschliche Leben. Es kommt so weit, daß er die Ängste der Vorbeugehaft nicht mehr erträgt. Täglich hakt man einige von den Gittern los, deren Hals in einer Krawatte ihres in Streifen geschnittenen Hemdes steckt. Manchmal sind es Unschuldige.

Die Isolation zernagt die Energie.

Die Zelle ist pervertierend. Manche gehen in ihr langsam zugrunde. Um der Gegenwart zu entkommen, tauchen die heißesten Erinnerungen auf. Die Temperamente überreizen sich, der Geist verwirrt sich, die Fleischeslust gewinnt überhand und brennt in der Einsamkeit... Wollen Sie mir sagen, daß Sie die Inschriften, die die Mauern bedecken, diese mit den Fingernägeln eingravierten Geständnisse, all diese enthüllenden Geständnisse nicht kennen?

Das ist saubere Arbeit, das Werk der Strafanstalt!

Schon bei meinen ersten Worten beobachte ich, daß mein fragendes Gegenüber, Chefschließer über 1.100 Gefangene, seinen stummen Ärger nur schwer verbergen konnte. Aber er fing sich sehr schnell, fand zu seiner einschmeichelnden Art zurück und sagt mit einem Augenzwinkern:

„Versteht sich. Aber vor allem bin ich humanitär...“

Ich hatte Gelegenheit, diesen rührenden Humanismus zu überprüfen. Er manifestiert sich je nach Laune in den winzigsten Details. Ich habe es begriffen, als man mich, während ich derartige Schmerzen hatte, daß ich mich nicht mehr zum Behandlungsraum schleppen konnte, ohne jegliche Behandlung ließ, um dem Arzt die kleine Last, selbst zu mir zu kommen, zu ersparen.

Ein Krankenpfleger vertrat ihn - das scheint so üblich zu sein - und der Krankenpfleger behandelte das Fieber, indem er es in Kräutertee ertränkte.

Die väterliche Verwaltung kennt nur eins: Lakritzwasser.

Das stärkste ist, daß mir dieses Allheilmittel unter diesen Umständen gut tat. Ich gehe deshalb auch nicht weiter darauf ein, weil ich jetzt schnell zu dem gelangen möchte, was viel stärker die geballte Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll. Die Hausordnung wird, obwohl schon an sich widerwärtig, in der Praxis noch durch grausame Kleinigkeiten verschlimmert.

Die Repression riecht nach Rache.

Wenn das keine ausgegebene Parole ist, so ist es doch zumindest Ausdruck eines Laissez-faire. Man überläßt die Gefangenen den unbewußten Wärtern, die sich aus dem Haß eine Pflicht machen.

Etwa im selben Zeitraum und ebenso in demselben Modellgefängnis wurde ein junger, schwer hustender Gefangener radikal geheilt: man führte ihn unter die Dusche und spritzte ihn mit eiskaltem Wasser ab.

„Das war“, so sagten die Wärter, „die hydro-therapeutische Methode!“

Sie war erfolgreich: das Kind starb...

Ich erfinde nichts und betone, daß noch andere als ich die Begebenheit kennen.

Eine Mutter weint.

Der Ermordete hieß Chabard - er war 17 Jahre alt!

Der „Genosse“ Wachtmeister

Eines Morgens hält man mich dazu an, mich zur anthropometrischen Untersuchung bereitzuhalten.

Die Verbrecher müssen vermessen werden!

Ich mache keine Schwierigkeiten, weil ich das Laboratorium des berühmten Doktor Bertillon aus der Nähe sehen will. Um neun Uhr fährt mich der Gefangenenwagen zur Präfektur. Auf einem Vorplatz verliest ein Brigadier Namen. Die Gefangenen, die der Reihenfolge nach antworten, haben nichts gemein mit dem Aussehen, welches im Allgemeinen den Gefängnisinsassen zugeschrieben wird: sie sind stolz, leichtfüssig, schweigsam und scheinen Verachtung auszudrücken. Ich habe mich nicht getäuscht. Die meisten dieser Gefangenen sind schlicht Revolutionäre. Sie sind Propagandisten, die sich sicher nicht mit einem Passepartout in der Hand haben festnehmen lassen.

Wir wechseln schnell ein paar Worte. Die zuletzt Inhaftierten übermitteln die Neuigkeiten: die drei Zeitschriften, die in Paris die kleine, unbeugsame Presse bilden, sind ebenfalls ins Visier genommen worden.

In gleicher Verfahrensweise wie beim ENDEHORS.

Der Redakteur der REVOLTE und der Redakteur des PERE PEINARD sind verhaftet.

Desgleichen: die Sprecher der Gruppen, die Männer der Aktion; willkürlich und wahllos festgenommen: etwa sechzig von der Polizei als gefährlich qualifizierte Individuen.

Nicht alle haben dasselbe Ideal, weder die gleichen ausschlaggebenden Gründe, noch denselben Glauben an die Zukunft, aber sie haben eine gemeinsame, uneigennützige, auf eine bessere Zukunft gerichtete Tendenz. Und da ist sie dann auch schon - die Vereinigung.

Ich kenne nicht einmal alle meine Komplizen, aber ich liebe sie.

Wir sind froh, uns nach langen Tagen des ausschließlichen Kontaktes mit den Wärtern endlich wieder unter Menschen zu befinden.

Was hat man mit uns vor?

Manche erwägen bereits die Hypothese, massenhaft nach Guyana oder nach Neukaledonien transportiert zu werden. Die Regierung, die uns mit professionellen Raubmördern gleichsetzt, kann sich alles erlauben. Aber wir verweigern ihr wenigstens die Befriedigung, sich über unsere Haltung lustig zu machen. Gemeinsam halten wir jetzt zusammen und trotzen dem Geschick.

Das ist ansteckende Munterkeit.

Der Brigadier kann die von ihm geforderte Ruhe nicht mehr hersteilen, er will uns in einer Reihe aufstellen, aber schließlich gibt er auf. Er schreit und regt sich unnötig auf. Die schwerwiegenden Umstände und die Feierlichkeit des Ortes finden bei uns natürlich keine Resonanz.

Und der Appell nimmt unter einem erfreulichen Tohuwabohu seinen weiteren Verlauf...

Dann überfallen uns die Polizisten, zahlenmäßig etwa ebensoviele Wärter wie wir. Man legt uns hastig die Handschellen an, aber keiner macht deshalb ein Geschrei, wir lassen das in aufgeräumter Stimmung über uns ergehen:

„Auf ein baldiges Wiedersehen!“

Wir ziehen einer nach dem anderen, aber doch mit genügend Abstand in die nie endenden, katakombenähnlichen, gewölbten Gänge des Justizpalastes. Die Prozession bewegt sich, überhaupt nicht schreckenerregend, voran.

An einer Biegung läßt der vor mir gehende Wärter seinen Gefangenen los, kommt zurück und sagt zu seinem Kollegen:

„Laß uns wechseln. Laß mir den da.“

Der Kollege akzeptiert und überläßt mich dem Neuen. Was will der Waffenknecht von mir? Hat er etwa vor, mich die Ketten der Handschellen noch enger spüren zu lassen? Er ist ein Bursche so um die Dreißig, sehr dunkel, mit offenem Gesicht:

„Ich wollte Ihnen sagen“, flüstert er mit verhaltener Stimme, „daß das Véry, das Restaurant Véry, Montagabend in die Luft geflogen ist!“

Und der Polizist reicht mir seine Hand und sagt mit seltenem Überschwang:

„Ja, ich bin ein Genosse!“

Aber schon haben wir den Kopf der Kolonne eingeholt. Man weist uns zu zehnt in einen primitiven Umkleideraum ein: nichts als Bänke und Kleiderhaken. Nur ein Wärter begleitet uns. Aber es ist nicht meiner.

Bertilion, der Erneuerer, taucht auf, von seinen Helfern umgeben.

„Ziehen Sie sich aus. Barfuß. Behalten Sie Ihr Hemd und Ihre Hose an.“

Wir treten in ein überhitztes Zimmer.

Was hat man alles an mir gemessen! Die Apparate und Zirkel erlauben es den Spezialisten, die Leute nach ihren Werten zu vermessen. Der Umfang meiner Schädeldecke wird auf den Millimeter genau erfaßt. Man kennt meine Größe aufrecht stehend, sitzend, die Winzigkeit meines rechten Ohres und die Länge meines linken Fußes. Und noch ganz andere Dinge. Wahrend er meinen Index veranschlagt, erklärt mir ein gnädiger Angestellter: So verteidigt sich die Gesellschaft!

Die einzige Unvollständigkeit des Vermessens ist es wahrscheinlich, nicht den Wert des Hochziehens der Schultern zu vermerken.

„Keine Tätowierungen?“

Die Details werden auf einer Karteikarte vermerkt. Der Zettel kommt in ein Sortierfach. Wenn gleich noch die Photographie hinzukommt, ist es komplett. Die Wiederholungstäter können, wenn sie einmal hier durchgegangen sind, nicht mehr ihre Identität verleugnen. Das scheint der erkennbare Vorteil zu sein. Aber es gibt noch andere:

Herr Bertillon macht Geschäfte.

Dieser Herr, der den Zeitungen für ein paar Aufmacherzeilen die Portraits berühmter Mörder abtritt, läßt dieselben Portraits ausgesprochen teuer an Sammler verkaufen.

Heute, wo nur kleine Persönlichkeiten an der Reihe sind, die wenig gefragt sein werden, würzt Herr Bertillon, der Metromane, uns seiner erniedrigenden Inquisition unterwerfend, wenigstens seine Privatsammlung.

Eine Etage höher gehen wir vor dem Photoatelier, in dem das kleine Museum zusammengestellt wird, in Pose. Ich bemerke hier naive Koketterien: Hände fahren ondulierend durch die borstigsten Haarsträhnen.

Das Atelier ist mit dem Vermessungszimmer durch eine steile Treppe verbunden. Hier sind wir ohne Bewachung und beginnen zu reden.

Ich berichte von der Explosion auf dem Boulevard Magenta.

Das ist wie eine Erleichterung des Bewußtseins - ein triumphierender Aufschrei. Obwohl mir hier niemand blutrünstig vorkommt. Aber die vergötterte Denunziation bekommt die Apotheose, die sie gerufen hat. Dieser beispiellos kühne Gegenschlag, der im voraus angekündigt worden ist, und aller Überwachung und allen Verhaftungen zum Trotz zum angegebenen Zeitpunkt losging, läßt eine latente Stärke und einen unerbittlichen Willen erkennen. Das erregt die Männer bis zum Enthusiasmus.

Inmitten diesen Aufruhrs erkläre ich, auf welche Art und Weise ich selbst von der Sache erfahren habe: von dem Polizisten, der mir gestand:

„Ich bin ein Genosse - der Genosse der Revoltierten.“

So finden sich also Genossen selbst in der Repressionsarmee. Würde man von einer Verschwörung sprechen wollen? Es ist noch besser. Da geht eine Idee um, - und sie ebnet sich überall ihren Weg.

Kleine Kulissen

Der Fang, der der Polizei im Monat April des Jahres 1892 ins Netz ging, bleibt historisch.

Er ist der erste einer ganzen Reihe zynischer Versuche der modernen Zeit, sich gegen die Freiheit des Denkens zu wenden.

Die Kulissen der Affäre sind heute aufgedeckt.

Die Regierung wollte von der Aufregung, die durch die Explosion der Lobau-Kaserne und in der Rue de Clichy verursacht worden war, profitieren, um in einem gigantischen Gesinnungsprozeß alle militanten Revolutionäre zu erfassen. Das Ministerium und seine untertänigen Staatsanwälte gaben vor zu glauben, daß bestimmte Meinungen eine Komplizenschaft bedeuteten. Der Schriftsteller, der erklärte, warum es Enterbte gibt, die fatal in den Diebstahl hineingezogen werden, wurde allein wegen dieser geäußerten Meinung zum Dieb. Der Denker, der sich über das Warum der „Propaganda durch die Tat“ Gedanken machte, wurde zum geheimen Verbündeten der Zünder der tragischen Schnüre.

Der Philosoph hatte kein Recht mehr, Nachsicht zu predigen und die Tatsache ohne Schwindelgefühle zu betrachten.

Die Gesellschaft entledigte sich jener Mitglieder, die genügend korrumpiert waren, um sich eine bessere zu wünschen.

Die herrschende Reaktion wollte so endlich in aller Ruhe ihr Glück genießen und ihre Gewissensbisse für lange Zeit einschläfern, - oder zumindest ihre Zweifel, die nicht mehr durch die Reden der Störenfriede geweckt werden sollten.

Der Zeitpunkt war geschickt gewählt.

Die Attentate mit Dynamit hatten die kapitalistische Bourgeoisie, die mehr noch um ihre Häuser als um sich selbst zitterte, terrorisiert. Die bedrohlichen Mai-Demonstrationen standen bevor. Man hatte Angst Und die feige Menge hätte zu allen standrechtlichen Hinrichtungen sicher applaudiert.

Razzien fanden statt.

Obwohl die Verhaftungen speziell gegen den anarchistischen Ansturm gerichtet waren, dehnten sie sich auch auf Männer aus, deren Unabhängigkeit so weit ging, jegliches Etikett - selbst das anarchistische - von sich zu weisen. So wurde auch ich schließlich verhaftet, obwohl ich nie einen Schritt in eine öffentliche Versammlung getan oder bestimmte Gruppen besucht hatte. Obgleich ich mich immer außerhalb aller Sekten, außerhalb aller Schulen erklärt habe, außerhalb - ENDEHORS -, das heißt isoliert, das immer Weitergehende suchend, Ideen aufwühlend, so brauchte man doch nicht mehr: Mangel an Respekt war ausreichend genug, wenn er wirklich kämpferisch war. Jede Agitation sollte ausgelöscht werden. Ich wurde verhaftet - das war ein Verbrecher weniger.

Hinterlistig eingefädelt wurde die Angelegenheit mit einem legalen Anschein versehen. Die Gesetze sind dermaßen elastisch, daß man sich anmaßte, bei uns den Artikel 265 und die folgenden anzuwenden, die die Kriminelle Vereinigung betreffen.

„Art.266. Dieses Verbrechen besteht in der alleinigen Tatsache der Organisation von Banden oder der Kommunikation zwischen ihnen und ihren Chefs oder Befehlshabern, oder der Konventionen, die darauf zielen, die Produkte der Verbrechen bekanntzumachen, zu verteilen oder aufzuteilen.“

Versteht man jetzt die Andeutungen des Untersuchungsrichters, als er von „Adressenlisten“ und „Geldüberweisungen“ sprach?

„Art.267. Wenn dieses Verbrechen von keinem anderen begleitet wird, werden die Verursacher, Anführer der Vereinigung und die befehlenden oder untergeordneten Kommandanten dieser

Banden mit Zwangsarbeit auf Zeit bestraft.“

Vor uns tat sich eine erfreuliche Perspektive im Bagno auf.

Es war vollkommen klar, daß man nicht mit der Unparteilichkeit der Richter rechnen konnte. Die Anweisungen waren ausgegeben. Ob wir nun zu beweisen versuchten, daß wir keine Brieftaschendiebe waren oder auch, daß bei uns keine Organisation - auch nicht aus politischer Sicht - existierte, die Gerichte würden uns mit gleicher Ungeniertheit bestrafen.

Ein einziger Punkt blieb zweifelhaft. Damit die Operation Erfolg hatte, erschien es unerläßlich, daß auch die anderen Länder ihren nationalen Widerspenstigen einen ähnlichen Prozeß machten.

Und tatsächlich, genau wie die Französische Republik es vorausgesehen hatte, Holland, England, Deutschland hatten genügend Ehrgefühl, das nicht zu wollen. Die antiken Monarchien gaben den Anregungen einer jungen Republik, die davon träumte, die Internationale in umgekehrtem Sinn wiederherzustellen, nicht nach. Unterhändler wurden ausgetauscht, die aber zu keinem Ergebnis kamen. Die Jagd auf den freien Menschen wurde nicht in ganz Europa dekretiert. Unsere gescheiterte Demokratie hatte von da an verspürt, daß sie nicht schlimmer handeln konnte als die schlimmsten Autokraten.

Die opportunistische Regierung zögerte, verlor an Haltung - wie ein schlecht trainierter Halunke - und traute sich nicht, bis zum Ende durchzuhalten.

An diesem Tag sagte sie sich: aufschieben!

Freiheit auf Bewährung

Nach den beleidigenden Bertillon-Vermessungen wurden wir also wieder nach Mazas eingeliefert - aber nur für wenige Tage.

Der Befehl kam, uns aus der Haft zu entlassen.

Die politisch-juristischen Machenschaften versagten kläglich: man hatte uns kaum einen Monat in den Gefängnissen halten und unsere Handgelenke mit den infamen Handschellen aufreiben können...

Das war wenig. Der Ärger der gierigen Richter, denen gegenüber die Regierung ihre Anweisungen änderte, äußerte sich auf kuriose Art und Weise. Die Untersuchungsrichter, die gezwungen waren, uns freizulassen, hielten sich natürlich davor zurück, das Verfahren einzustellen. Es erschien ihnen besser, einen Zweifel über uns schweben zu lassen, eine Drohung aufrechtzuerhalten.... Sie nahmen eine Zwischenposition ein - der Wortlaut der Haftaufhebung bringt das zum Ausdruck: man ließ sich dazu herab, uns schlicht und einfach auf Bewährung freizulassen.

Eine findige Sache.

Eine Einstellung des Verfahrens wäre das vorbehaltlose, öffentliche Eingeständnis der schlechtbegründeten Anklage gewesen.

Doch die Richter verachten verspätete Geständnisse.

Diese Panik vor Geständnissen ist offensichtlich bei den Richtern ebenso festverwurzelt wie bei ihren bedauernswerten Klienten, den verschämten Untersuchungsgefangenen.

Findet man überdies nicht zwischen diesen und jenen mehr als einen Punkt, in dem sie sich ähnlich sind?

Auf Grund des andauernden Kontaktes stellt sich eine falsche Verwandschaft her.

Wer hat noch keinen schlüpfrigen Vorsitzenden wie einen Feinschmecker einen Sittenprozeß führen sehen, in dem er genüßlich Details und nackte Tatsachen aufspürt? Keinen Gerichtsbeisitzer mit tückisch erfahrenen Augen wie ein Chef-Experte in zweideutigen Angelegenheiten? Und keinen gutaussehenden Staatsanwalt, wie er mit jener neckischen Bewegung seine Advokaten mütze zur Seite schiebt, die er von den d’Artagnans der Straße übernommen hat?

Wiederholungstäter und Rächer imitieren sich, wiederholen und ergänzen sich.

Der Ausruf Avinains bleibt ein Programm in Bezug auf die Verkleideten, die die Irrtümer, die Verstöße und die juristischen Verbrechen begehen: gestehe nie!

Herr Anquetil, mein Richter, Anquetil-Avinain, ausreichend qualifiziert, um seinen Stand zu honorieren, durchtrieben, obwohl tölpelhaft, Mädchen für alles, verhielt sich einem Richter entsprechend: er gab nichts zu.

Dieser Kurtisan der Machthaber, leidenschaftlich verliebt in Vergütungen, sagte sich, daß man seinen erfinderischen Eifer sicher berücksichtigen würde: indem er die Zwischenlösung der Freiheit auf Bewährung anwandte, könne man das Gesicht wahren.

Der Verdacht würde bestehen bleiben...

Sei’s drum. Das war zweitrangig. Mazas öffnete seine Tore. Und an einem lauen Abend im Mai nahm ich meinen Platz im Leben wieder ein. Der Lärm der Straßen war sehr schön. Im allgemeinen nimmt man ihn nicht wahr, weil man ihn immer hört. Das ist eine starke und zarte eindringliche Harmonie, in der eine unaufhörliche Aktivität vibriert und die Liebe singt. Meine Mitgefangenen, die Anarchisten, kamen Arm in Arm und überschwenglich ins Freie, die Gefängnismauern verhöhnend.

Hoch lebe die Freiheit auf Bewährung! Das Wort ist nicht erschreckend - wir kennen die Ungewißheit unserer armen Freiheit gut - sie ist immer auf Bewährung. Das Vergehen ist, man selbst sein zu wollen und zu versuchen, sich zu emanzipieren. Das ist ein Stolz, für den man bezahlt. Es ist verboten, laut zu denken! Es ist verboten, unter dem unmittelbaren Eindruck spontan vom Leben zu sprechen!

Das ist das Verbrechen, ich erbringe den Beweis dafür, ich, der ich nichts bin, nichts sein will und allein fortgehe...

II. Anstiftung zum Mord

Die lärmenden Neuerungen Ravachols sprengten nicht nur ein Haus, sondern waren auch die Ursache für zahlreiche Brüche in den spärlich behaarten Schädeln unserer Herren.

Die Letzten - das Wort kommt gelegen - diese Letzten vom Letzten hatten willkürlich Festnahmen vorgenommen, sich aber dennoch in ihrer Aufregung nichts vorgemacht, weil sie sehr gut wußten, daß sie die Männer, gegen die sie, alles in allem, keine einzige Tatsache vorzubringen imstande waren, schließlich doch auf freien Fuß setzen mußten, aber sie sagten sich folgendes:

„Mazas wird sie beruhigen!“

Aber Mazas kann überhaupt nichts beruhigen.

Um zu glauben, daß das Gefängnis ein entscheidendes Argument ist, muß man schon die Geisteshaltung eines ungeschickten Bestechers haben.

Wenn eine tugendhafte Reue - diejenige, sich erwischen lassen zu haben - sich bei denjenigen unserer Minister einstellt, die gezwungen sind, ihr in den Banken gestohlenes Scheckheft, dessen hohe Summen die Verwaltung nur allzu gern bis zu deren Entlassung freundschaftlich aufbewahrt, an der Registratur der Zentralgefängnisse abzugeben - was beweist das?

Sicher nicht, daß ein aufrechter Kerl, der ohne Erklärungen und ohne Motive in die Zelle geworfen wurde, am Ende seiner Untersuchungshaft zufrieden ist und Mazas mit dem Ruf „Hoch leben die Richter!“ verläßt.

Das genaue Gegenteil tritt ein.

In ihrem Leben aufgewühlt, in ihren Angelegenheiten gestört und oft ihres Broterwerbs beraubt, kommen die Opfer der Provokations-Razzien revoltierter aus den Gefängnissen, als sie hineingegangen sind: wir haben nicht übertrieben, als wir die Zuhälter der Macht als geborene Feinde bezeichneten.

Zuhause haben die Kleinen Hunger, der Bäcker verweigert Kredit, der Hausbesitzer spricht von Verkauf und der Chef hat Deinen Posten neu besetzt.

Wut kommt auf.

Sie schäumt über: es gibt vielleicht sogar manchen, der sich in einer großen Tat umbringt.

Und - das ist sicher - selbst die Zögerndsten machen einen Schritt nach vorn.

Die Schüchternen werden mutig.

In der grüblerischen Einsamkeit der Zellen stößt das logische Denken auf die Ursachen, schließt auf die Verantwortlichkeiten.

Die Gedanken werden präziser.

Der aufgrund des platonischen Deliktes sozialer, subversiver Liebe eingesperrte Mensch lernt zu hassen.

In seiner Umgebung verstehen die Freunde, die Nachbarn, die Arbeitskollegen als Zeugen der ungerechtfertigten Mißhandlungen deren Sinn, entwickeln sich und vergrößern die Zahl der Unzufriedenen, die morgen unversöhnlich sein werden. Und das ist das tatsächliche Resultat: die Gärung des Geistes. Die Agitation.

Das ist gute Reflex-Propaganda.

Die Haft ist niemals umsonst.

Selbst dann nicht, wenn es sich nicht um Arbeiter handelt, die man entschädigungslos aus ihren Werkstätten verjagt, sondern diejenigen davon betroffen sind, für die die Feder ein Werkzeug und eine Waffe ist. Das ist genauso klar. Die Repression ist ein Stimulator. Sie fegt die letzte Zurückhaltung fort. Sie dient dazu, die Brücken hinter sich abzubrechen. Sie läßt den Wunsch nach Revanche aufkommen.

Sie ist die Herausforderung, die man annimmt.

Ich fand meine Zeitschrift lebendig und lebensfähig vor. Die gegen mich gerichteten Ermittlungen, der Versuch, ENDEHORS zu erwürgen, boten charakterfesten Persönlichkeiten die Gelegenheit, sich an eben der Stelle unerschrocken zu äußern, an der ich zuvor jede Woche gekämpft hatte. Die dumme Verhaftung hatte mir also neue Mitarbeiter eingebracht und ich empfing die ermutigenden Bezeugungen einer für die zukünftigen Kämpfe vielversprechenden Solidarität. Ich konnte mich letztlich zu meinem Aufenthalt in Mazas nur beglückwünschen.

Denn das Werk, auf das ich stolz bin, ist ein doppeltes: es sind nicht nur diese sozialen Polemiken, in denen ich kaum erst debütiere - und die es auch morgen noch geben wird – sondern ich wollte auch einen widerstandsfähigen Bund von jungen Leuten schaffen, die sich in der nächsten Kampagne abzählen werden. Ich wollte den zeitgenössischen Schriftstellern, die wie ich nach klarer Sprache dürsteten, ein freies Blatt zur Verfügung stellen, eine Tribüne, auf der man bis an die Grenzen seines Denkens gehen konnte. Ich wollte die erste Verwirklichung dieses idealen Zusammenschlusses ohne Hierarchie, ohne Statisten, in der das Individuum, in der der Künstler seine ganze Persönlichkeit entfalten kann und darauf bedacht ist, nicht mehr etikettiert zu werden. Das war ENDEHORS.

Mit Wind in den Segeln, die Felsenklippen verachtend, machte unser Feuerschiff Fahrt. Muß ich die Namen der Mannschaft erwähnen? Das käme dem fast kompletten Aufzählen der jungen Generation der denkenden Schriftsteller - der Kühnen – gleich! Zweifellos wird man all diese leidenschaftlichen Talente, diese aufrechten Menschen vereint wiederfinden. Und was für Siegeselemente würden sie erst in einer Tageszeitung sein!...

Geld?

Wir werden es vielleicht haben.

Da ich es nicht bedauerte, Mazas kennengelemt zu haben, so war ich dem Trio, das mich dort einsperren ließ, einen besonderen Dank schuldig: Loubet, dem lästigen Minister, der von Quesnay de Beaurepaire inspiriert wurde, dem die Ehre zukommt, mit Anquetil als Komparsen die kriminelle Vereinigung erfunden zu haben.

Mein erster Artikel: Ein Bubendrilling war also diesen Herren zugedacht. Selbstverständlich beinhaltete der Artikel bestimmte Betrachtungen, die nachwiesen, daß das Gefängnisregime mein Gesamtbild nicht sonderlich verändert hatte.

Die Staatsanwaltschaft war so neugierig, wissen zu wollen, bis wohin meine Hartnäckigkeit geht: das neuvorgebrachte Argument war eine Ladung vor das Schwurgericht unter dem Vorwand der Anstiftung zum Mord.

Zu wessen Ermordung? Der drei Buben, so hieß es! Und als Gipfel ihrer Verbohrtheit hier der Satz oder eher das zu leicht gesagte Wort, das mir achtzehn Monate Gefängnis einbrachte:

„...Diese Leute gehören derselben Familie an. Sie dürften auch vom gleichen Ast sein - von demselben Ast, an dem die Stricke mit der Schlinge hängen.“

Ich zitiere zu dokumentarischen Zwecken - wie es überdies die Zeitungen dieses Zeitraums auch getan haben - und füge zur weiteren Vorsicht hinzu, daß ich die Bevölkerung beschwöre, ihrem verrückten Wunsch zu widerstehen, wenn sie plötzlich in der Folge dieser Lektüre darauf verfiele, sich in Massen auf der Straße, auf dem Boulevard du Palais zu versammeln, um die genannten Personen an einer Platane aufzuhängen...

Achtzehn Monate Gefängnis!

Und darüber hinaus dreitausend Francs Bußgeld. Ach, was sage ich, dreitausend? Sechstausend! Und nicht achtzehn Monate, sondern sechsunddreißig! Denn nicht zufrieden damit, mich so gut bedient zu haben, bestrafte man mit der gleichen Strafe meinen guten und desinteressierten Verwalter Matha, der den Artikel nicht einmal gelesen hatte.

Der arme Matha! Sollte man ihn später nicht beschuldigen, Villen in Ficquefleur ausgeraubt und Restaurants in Paris gesprengt zu haben?

Koste es, was es wolle - und nur uns hat das etwas gekostet - man wollte sich ENDEHORS vom Hals schaffen.

Man glaubte, eine suspekte Gruppe auseinanderzusprengen, den Eifer abzukühlen, das Schweigen zu erzwingen, einen Herd zu löschen.

Daraus wurde eine sanfte Brise aufs Feuer.

Überdies hatte ich mir vorgenommen, mir keine Hintertür mehr offen zu halten, war ich doch zynisch entschlossen, mich der polizeilichen Fürsorge zu entziehen. Ich hatte dazu, neben meiner Liebe zur Freiheit, einen guten Grund: die Existenz meiner Zeitschrift.

Und den ganzen Reiz jeder Zwanglosigkeit, unabgemildert zu sprechen.

Beim Verlassen der Verhandlung, noch unter dem Einfluß der Justizkomödie, schoß ich den Pfeil des Parthus ab. Die Zeilen, die ich damals schrieb, kosteten mich nebenbei neue Verfahren, aber vor allem die ungemeine Freude, eine Arznei mit glühendem Eisen ganz nach meinem Gutheißen zu verabreichen.

Dieser zweite Artikel hatte den Titel: Lhérot de Beaurepaire, zwei Namen, die sich gut zu einer schmackhaften Harmonie, zu einer Synthese dieser arrogant schmutzigen und denunziativen Epoche verbinden. Und während die Zensur der peinlich genauen Untersuchungsrichter mit Farbstiften die beanstandeten Passagen unterstrich, die dermaßen zahlreich waren, daß jede Seite den Anblick einer buntbemalten fliegenden Fahne bot, schloß ich meinen Koffer, hartnäckig von der Perspektive begeistert, außerhalb der Zellen mit dem Abschießen spitzer Pfeile fortzufahren.

Alles war mit den Genossen abgesprochen.

Emile Henry, dessen beständige Sorge es war, für die Idee zu arbeiten, übernahm ohne jeden Profit den langweiligen Frondienst der Verwaltung, der Korrespondenz mit den Verkäufern und des Verschickens des ENDEHORS.

So bescheiden die Arbeit auch war, so diskret, es ging ihm darum, an einem gemeinsamen Werk mitzuarbeiten. Er tat es, obwohl bestimmte Divergenzen zwischen uns bestanden: aber war die Anarchie nicht verwandt mit meiner individualistischen Konzeption, die den Stolz des Seins behauptete - außerhalb aller Regeln und außerhalb der Niete des Gesetzes?

Ich höre ihn heute noch, fast noch ein Kind, aber bereits sehr ernsthaft. Konzentriert, ja sektiererisch, wie es gezwungenermaßen diejenigen werden, denen keine Zweifel mehr den Glauben erschüttern, diejenigen die - wenn ich so sagen darf - hypnotisiert das Ziel sehen, und dann mit mathematischer Unerbittlichkeit denken, urteilen und entscheiden. Er glaubte entschlossen an das Aufkommen einer logisch aufgebauten, harmonisch schönen, zukünftigen Gesellschaft.

Er warf mir vor, nicht genug auf die menschliche Erneuerungsfähigkeit zu zählen, nicht alles auf die ideale Anarchie zu beziehen. Sichtbare Widersprüche schockierten seine Logik. Es erstaunte ihn, daß man, wenn man die Niedrigkeit einer Epoche einmal verstanden hatte, in ihr noch irgendeine Freude empfinden konnte.

Der Wille zum Leben! Ich würde dem hinzufugen: jetzt sofort! Die persönliche Emanzipation. Und der Kampf aus Freude am Kampf und an der Respektlosigkeit. Ein ansteckendes, vielleicht fruchtbares Beispiel. Auf alle Fälle: leben! Aufsäßig und nicht betrogen - auch nicht von der Zukunft. Außerhalb aller in der Feme liegenden Hoffnungen...

Sind es nicht eben diese Hoffnungen, für die er es vorgezogen hat zu sterben?...

Ein anderer, der sich auch aufgeopfert hat, Etienne Decrept, übernahm das Sekretariat der Redaktion. Und diese Aufopferung und seine Wachsamkeit waren zweifellos der Grund dafür, daß er während der letzten Verhaftungswelle gesucht wurde.

Denn die Verbissenheit der Justizbeamten ist immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Wir sollten alle drankommen oder wenigstens so viele wie möglich. Und begnügte man sich damit? Man weiß von der Ausweisung Alexander Cohens. Erinnert man sich auch an die Worte des Ministers, der von Emile Zola nach den Gründen befragt wurde, die einen Arbeiter und Gebildeten aus Frankreich verjagten:

„Man hat bei Cohen eine Sammlung des ENDEHORS beschlagnahmt.“

Er habe mit uns zusammengearbeitet - ein Märchen aus dem Malaischen!

Diese infame Sammlung des ENDEHORS - wurde sie nicht überall, sogar im Prozeß gegen Vaillant als Beweisstück angeführt? Aber hat dieser Verzweifelte, der zuschlagen und sterben wollte - und nur halb zuschlug -, uns wirklich gelesen und gut verstanden?

Das Verbrechen Felix Fénéons war noch schlimmer: neben den bunten Kunstbetrachtungen, die er bei uns zu unterzeichnen wagte, wollte er, da ich fortging, von Zeit zu Zeit mit so tollkühnen Kriminellen wie Lucien Descaves, Pierre Quillard, Herold, Bernard Lazare, Barrucand oder Mirbeau, die uns Artikel liefer ten, über die Zeitung sprechen. Kann man sich das Unbewußtsein dieses Kriegsministeriumsangestellten überhaupt vorstellen, der es sich nicht nur erlaubte, ein subtiler Kunstkritiker zu sein, sondern auch in schlechten Zeiten ein treuer Freund blieb?

Die Rollen, die ich, als ich noch frei über meine Zeit verfugte, mehr oder weniger fleißig gespielt hatte, waren jetzt verteilt. Ich brauchte nur noch gute Texte zu schicken: und das würde ich nicht versäumen.

Die Polizei beschattete mich.

Ich bekam den Befehl, mich als Gefangener zu stellen. Clément, der Überweisungskommisar, beorderte mich bezüglich der neuen Strafverfolgungen in sein Büro.

Ich zog London vor.

Die Briefsendungen Cléments würden mit der Post ebensogut bei mir ankommen:

Bei Abwesenheit nachsenden.

III. Englische Sommerfrische

Schlag auf Schlag

Wenn man einer mit Anstand formulierten Einladung nicht nachkommt, ist es korrekt, sich zu entschuldigen. Auch wenn jene Höflichkeit einem von einer pöbelhaften Person angeboten wird, ist es besser, das Angebot mit ein paar verbindlichen Sätzen auszuschlagen. Aus diesem Grund greife ich heute zur Feder, um freundschaftlich auf folgenden Wisch, welchen mir die Polizeipräfektur zukommen ließ, zu antworten:

„Aufgrund der Untersuchungen des Herrn Generalstaatsanwaltes habe ich die Ehre, Sie in meine Amtsräume zu bitten.“

Dieses schöne Dokument ist mit Clément unterzeichnet.

Handelt es sich um ein Essen, ein Verhör oder den Versuch, mich im Amt zu beschäftigen? Ich will nicht einmal darüber nachdenken. Wenn ich den betreffenden kleinen Besuch absage, so ganz einfach deshalb, weil ich mich, vom schönen Wetter profitierend, weit ab vom Quai des Orfévres in der Sommerfrische aufhalte.

Oh! Die verzehrende Gemütsruhe der Sommerfrische! Sie, Herr de Beaurepaire, der Sie sich unter Angabe falscher Adressen auf dem Land verkriechen, Sie verstehen das besser als irgendjemand sonst:

„Seien Sie mir also nicht böse, verehrter Graf, Ihnen ganz ergeben...“

Was den untergeordneten Clement angeht, der im Namen seines Herrn Quesnay um das Rendezvous ersucht, so kann er, scheint es mir, auf keine persönliche Antwort hoffen. So höflich man auch ist, man kann keinen Briefwechsel mit Dienstboten unterhalten, dem Dienstherrn zu schreiben ist schon genug.

Die Kommissare und die Vertreter, Leute wie Clement, wie Croupi, Anquetil oder Couturier haben, das muß man schon zugeben, nur eine relative Verantwortung. Jeder Machtmißbrauch, jede Niederträchtigkeit, aus der sich ihre tägliche Arbeit zusammensetzt, ist ihnen in der Tat von den Herrschaften mit falschem Adel aufgetragen worden, deren Aufgabe die Rache der Regierung ist. Sie sind nur äußerst demütige Knechte, die niemals diskutieren. Sie haben das im Blut. Für die Sklaverei und gezielte Fußtritte prädestiniert, hätten sie Strohmänner auf der Kirmes sein können - nun sind sie Untersuchungsrichter am Gerichtshof.

Quesnay, der Verwalter des in schlechtem Ruf stehenden Hauses, in dem sie dienen, beschafft die Arbeit, weist in die verschiedenen Säle ein und die Berockten traben wie geölt in den Gängen des Justizpalastes herum.

Eine kuriose Sache ist es allerdings, daß man sich, obwohl die geschickte Organisation es erlaubt, monatelange Gefängnisstrafen zu hageln und für Tausende von Francs Strafen zu verhängen, immer noch neue Verfahrensweisen ausbrütet.

Die jungen Menschen von heute, die von Freiheit sprechen, erschrecken die Schlappschwänze der Macht dermaßen, daß diese den Kopf gänzlich verlieren: sie zittern und zeigen es.

Jetzt wollen sie das Presserecht modifizieren.

Aber die Abgeordneten, die mit der Frage beauftragt worden sind, stießen auf eine ernsthafte Schwierigkeit. Diese Leute waren vollkommen damit einverstanden, die unbeugsamen Schriftsteller der Revolte zu schlagen, aber sie zitterten davor, mit dem gleichen Schlag ihre Brüder, die monarchistischen oder radikalen Schmierfinken anzutasten, die Paradelanzen im großen ministeriellen Turnierspiel brechen.

Die sind heilig...

Und vorwärts! Das Erbgut unserer Väter... die Heiligen Errungenschaften unserer glorreichen Ahnen... Die Söhne von 1789 wollen nicht, daß diese angetastet werden!

Also hat man ein kleines, vor Sanftmut triefendes Projekt für die Verbrechen gegen die Staatssicherheit zusammengebastelt. Und die sind legitim. Die gehören zum Erbgut.

Die Politiker können weiterspielen.

Man hat nur die Angriffe auf das Autoritätsprinzip beibehalten.

Die Revolutionäre wissen nun wenigstens, welche ihrer Angriffswaffen die am meisten gefürchteten sind. Die ehrenwerte Kommission hat arglos präzisiert:

Anstiftung zum Mord, zum Diebstahl und zu Anschlägen mit Dynamit.

Blut, Gold und Ruinen! Wenn das wahr wäre?...

Sollte dieses Pressegesetz wirklich alles berücksichtigt haben?

Selbst von der Anstiftung zum Ungehorsam gegenüber den Militärs wird gesprochen.

Sollte die Taktik Umrissen werden? Der Horizont erweitert - der Horizont, an dem man die Gewehrkolben wie ein bewegter Wald gen Himmel gerichtet sieht?

Es wäre kindisch, sich wegen der Erhöhung des Strafmaßes zu beunruhigen.

Man wird sich morgen eben den vorbeugenden Verhaftungen mit derselben Ungeniertheit entziehen, die man heute dazu aufbringt, hinterlistige Überfälle und Vorladungen zu umgehen.

Die Revoltierten sind nicht so sehr à la 1830, wie man gerne glauben mochte. Der Romantizismus hat seine Epoche geformt und verändert. Man fällt nicht mehr in die grobe Falle... Man wird mit jenen Abtrünnigen rechnen müssen, die die Subtilitäten des Kampfes kennen.

Die Verängstigung der etablierten Leute ist ein eher günstiges Symptom.

Man wird bei jedem Schlag Zurückschlagen. Ohne unnötiges Aufopfern und ohne von Fanfarenstößen begleitete Deklarationen. Gut gewappnet und sehr selbstsicher.

Die Parlamentsherren können Notstandsgesetze produzieren, ganz wie es ihnen beliebt.

Der graue Terror belustigt uns.

Ein sozialistisches Babel

Ich lebe noch nicht lange genug in London, um auf galante Weise all das Unangenehme zum Ausdruck zu bringen, das ich über diese Stadt denke. Man lebt von Eindrücken und man täte vielleicht gut daran, einige zu verschweigen. Aber ist es nicht auch ein Unglück, mitten in einen Sozialistenkongreß zu geraten?

Sicher, ich bin nicht mit Absicht darauf gestoßen. Ich ging, an nichts Böses denkend, in der Stadt spazieren, als mich ein Genosse, der mir begegnete, in die Westminsterhalle drängte, in der die Delegierten der Bergarbeiter eine Reihe von Vorstellungen gaben. Die Versammlung umfaßte nicht nur englische Delegierte, sondern auch Deutsche, Franzosen und Belgier. Das war die internationale Versammlung der Vorarbeiter.

Ein einziger trug, ohne Pose - und ohne Schwäche - die Jacke eines Arbeiters... das war Thivrier!

Ein phantastischer Anblick.

Die Deutschen waren streng, die Belgier gutmütig, die Engländer sehr vornehm und die Franzosen lustig.

Ein imposantes Spektakel, das auf ewig im Gedächtnis derer eingraviert bleiben wird, denen es gegeben war, die Debatten von der Höhe der drei großen, öffentlichen Tribünen aus zu verfolgen. Wir waren ein gutes Dutzend.

Aber darüberhinaus ist die Anzahl wenig bezeichnend: Vaillant, der Abgeordnete, war unter uns und Frau Aveling Marx, die in den Pausen die Verteilung der Werbeprospekte für die Werke des verstorbenen Karl überwachte.

Wir haben uns keinen Augenblick lang gelangweilt. Man sprach vage vom Acht-Stunden-Tag und vom Generalstreik, man hat „Offiziere“ ernannt und die energische Entscheidung getroffen, sich im nächsten Jahr wieder zu versammeln, um die dringenden Fragen zu diskutieren.

Ich übertreibe nicht.

Es wurde nichts beschlossen, nichts, überhaupt nichts: am letzten Tag hatte man sich noch immer nicht über die Abstimmungsform geeinigt.

Als der Zeitpunkt kam, die Versammlung aufzulösen, bestanden die 62 Engländer immer noch auf einer Abstimmung nach Delegierten, während die acht Belgier, die vier Deutschen und die vier Franzosen unumstößlich darauf festgelegt waren, nach Ländern abzustimmen.

Das war das sozialistische Babel.

Das war nicht nur ein Sprachwirrwar, sondern ein Wirrwar der Intelligenzen.

Nur ein parlamentarischer Trick war imstande, ein künstliches Verständigungsfeld zu schaffen.

Das allgemeine Interesse der Bergarbeiter hätte einheitliche Kampfresolutionen zustande bringen müssen, aber man zog die kleinliche, nationale Cliquenwirtschaft vor, die Unstimmigkeit schuf und Brüder verfeindete.

Diese andauernde Diskussion über den Wahlmodus drohte manchmal die Debatten vollkommen farblos erscheinen zu lassen, aber das gab uns Gelegenheit, die französische „Furia“ bewundern zu können: der Abgeordnete Lamendaim, der das Departement Pas-de-Calais vertrat, stieß einen kleinen Schrei aus, sein Kollege Calvignac aus Marseille schlug mit der Faust auf den Tisch und machte den Eindruck, ernsthaft böse zu werden. Es war unwiderstehlich. Der ganze Saal krümmte sich vor Laichen.

Es ist wirklich wahr, man muß es zugeben, wir haben wirklich viel gelacht, es war eine gute Stimmung und Heiterkeit in der großen Westminsterhalle. Ja, man kann bei solchem Geschwafel viel lachen, während das Grubengas in den schwarzen Schächten unter den unablässigen Schlägen mit der Spitzhacke der Grubenlumpen hochsteigt.

Die lustigen Kongreßempiriker hatten aber dennoch eine geniale Idee: diese Männer, deren bescheidenes Ideal sich darin erschöpfte, acht Stunden Arbeit, acht Freistunden und acht Stunden Schlaf zu fordern, diese mit 3 X 8 behelmten Ritter hatten aber begriffen, daß die anwesenden Abgeordneten diese Frage ihrerseits vor die parlamentarischen Institutionen bringen konnten.

Diese aufrechten Kongreßteilnehmer sagten sich also:

„Daß wir uns augenblicklich im Kampf befinden, ist eine gute Gelegenheit, um zu diskutieren.“

Die Berufsdelegierten haben eine ausgeprägte Tendenz für ehrbare Mittel. Heute haben sie ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, das; Ziel „durch parlamentarische Mittel“ erreichen zu können.

Bezahlte Reisen: das ist im Grunde genommen die ganze Kongreßperspektive.

Und wenn diese guten, praktischen Leute gerade keine Hoffnungen zum Ausdruck bringen, formulieren sie Wünsche oder bekunden lautstark platonische Bezeugungen ihrer Sympathie.

Immer wieder Großtuerei.

„Wir wissen sehr gut“, sagt Lamendaim, „daß die dreihundert Francs, die wir den vielen Tausend englischen Streikenden von Durham zur Verfügung stellen, nur ein spöttischer Obolus sind, aber diese Summe ist der Beweis unserer Solidarität. Und das genügt.“

Die Belgier hinken hinterher:

„Wir haben uns der Stimme enthalten“, sagt ein Flame, „weil wir es nicht wagen wollten, so wenig anzubieten. Dreihundert Francs sind sicher nicht viel, aber ich erkläre ausdrücklich, daß wir sie schicken werden. Alle unsere Brüder sollen das wissen.“ Nach den Belgiern waren die Deutschen an der Reihe. Jedem sein Teil. Der Kongreß geht zuende; sie beweisen ebenfalls ihre Sympathie:

Sie laden alle zum Essen ein.

Was den Generalstreik angeht, so muß er im Nebel bleiben. Man will zwar darüber reden, aber man will ihn nicht machen. Das wäre eine allzu energische Lösung. Und darüber hinaus das Ende der amüsanten Spielereien.

Es geht darum, zu parlamentieren - nicht zu handeln.

Das Damoklesschwert der autoritären Sozialisten wird noch für lange Zeit schweben.

Diese Herren sind, obwohl sie im allgemeinen nur mit großer Mühe sprechen, hauptsächlich Schlußredner bei Banquetten.

Die Ausbeuter der Bergwerke, die Kapitalisten, können noch eine Zeitlang ruhig schlafen. Der Ansturm wird nicht von dieser Seite kommen. Die wirklichen Revoltierenden sind Männer der Aktion. Sie geben sich zu erkennen, wenn sie zuschlagen.

Wenn die finsteren Sklaven, die in den unterirdischen Schächten gekrümmt sind, sich aufrichten und sich zu ihrer Größe strekken... und es wollen, dann fragen sie die kleinen Lamendaims nicht um Rat.

Sie werden spontan und wild aus ihren Schächten kommen und ihre Äxte und Hacken werden im hellen Sonnenlicht glänzen.

Lassen wir also die guten Kongreßteilnehmer nur ruhig abziehen. Das sind Ausgehaltene, die die Aussicht auf Kampf mit Schrecken erfüllt. Das leichte Leben hat sie verbürgerlicht. Sie sind einfache Leute, Amateure, die als pomphafte Touristen durch Europa reisen: im letzten Jahr waren sie in Paris und nächstes Jahr wird es Brüssel sein...

Thivrier trägt seine Jacke, um den Staub zu verhüllen!

Die Melville-Bande

Die Richter vergehen sich im allgemeinen an den Körpern der Kinder. Gewöhnlich machen sie es wie Rabaroust und ein anderes Mal gießen sie die Heuchelei ihrer Tränen über diese kleinen Wesen, die durch das Dynamit der Revoltierten „möglicherweise“ bis in ihre Wiege getroffen werden können.

Und zwischendurch - und zwar nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher - sind sie es, die die Kleinen umbringen. Sie sind es, die mit der Komplizenschaft der Leute von der Polizei Familienväter ins Gefängnis werfen, die Mütter verfolgen und mißhandeln und so die Milch der Neugeborenen vergiften.

Die Banalität dieser Wahrheit, die große Reden nur schlecht darstellen können, kann nur beschränkte Rohlinge erheitern. Das ist eine Tatsache. Der Leichnam des Kindes, das wir gestern beerdigten, ist einmal mehr ein grauenhafter Beweis dieser Wahrheit.

Man erinnert sich vielleicht an die Hausdurchsuchungen bei dem Genossen Delbecque in London, bei denen Francis und Meunier gefunden werden sollten, die man beschuldigte, die Attentäter des kleinen Feuerwerks Very good zu sein.

Der Mißerfolg der Polizisten hat ihnen die Wut in den Bauch getrieben.

Das brachte Delbecque und seiner Lebensgefährtin in der Folge eine ganze Serie von Belästigungen jeder Art ein. Der Mann, der von den Agenten pausenlos beschattet, in seinem Atelier bedrängt und selbst bis zu den Personen verfolgt wurde, die ihm Aufträge gaben, lief Gefahr, jede Arbeit zu verlieren. Die Frau, die in diesem Zeitraum ein Baby von fünf Monaten nährte, stand im Zentrum der widerlichsten Machenschaften. Sobald man sie alleine wußte, drangen die Detektive in das Haus ein, um ihr falsche Nachrichten von ihrem Mann mitzuteilen, alle möglichen Ängste aufkommen zu lassen und durch Einschüchterungen kompromittierende Geständnisse zu erpressen, indem sie folgenden Handel vorschlugen: als Preis für Denunziation in Ruhe gelassen zu werden. Aber da Delbecques Gefährtin würdevoll schwieg oder ihre Stimme nur erhob, um ihren Folterern ihre Verachtung ins Gesicht zu spucken, wurden sie bis zur Besessenheit brutal mit ständigen Belästigungen. Die Gesundheit der Mutter hielt dieser moralischen Tortur nicht stand, ihre Milch wurde für das kleine Kind ungenießbar und führte zur langsamen Agonie des Mädchens.

Während der erfolglosen Hausdurchsuchungen sind die abgehetzten Spürhunde von der lärmenden, ja manchmal musikalischen Ironie der Revolutionäre - musikalisch, weil sie sich von den Tönen eines Leierkastens begleitet zurückziehen mußten - dermaßen ausgepeitscht worden, daß sie sich sagten: Wer zuletzt lacht, lacht am Besten!

Sie haben die zweite Halbzeit gewonnen:

Sie haben vor einem Sarg gelacht.

Das sind keine leeren Worte. Das ist kein Bild.

Man hat sie gesehen.

An diesem grauen Septembernachmittag hielt sich eine Gruppe zweifelhafter Individuen an der Ecke der Charlotte Street auf, während der Leichenwagen vor der Tür des Trauerhauses wartete. Als die Mutter dann mit schwerem Herzen und roten Augen auf die Straße kam, mußte sie den widerwärtigen Anblick der Schnüffler ertragen.

Sie hat ihre spöttischen Gesichter sofort erkannt!

Es waren dieselben Individuen, die zuvor die Hausdurchsuchung durchgeführt hatten, dieselben, die sie während eines langen Monats beharrlich und raffiniert gefoltert hatten.

Sie hatten ihr Kind getötet.

Ach! Es ist kaum zu glauben. Will man die Namen hören? Muß man die Details noch genauer beschreiben?

Also gut! Der Chef der Bande heißt Melville. Beruflich steht er im Rang eines Inspektors. Er ist ein perfekter Gentleman mit freundlichem Gehabe und glatter, schmeichelnder Sprache. Was seine Untergebenen angeht, so zeigt das ganze französische Viertel Londons mit den Fingern auf sie: der eine ist ein großer Teufel von einem Brigadier mit breiten Schultern, struppigem, rotem Schnauzbart und Fäusten wie ein Boxer. Der andere ist ein leicht spitzbäuchiger Kerl mit braunen Koteletten und ergrauendem Haar und dem gelassenen Gesicht eines gutsituierten Geschäftsmannes. Die beiden Gevattern sind unzertrennlich und das Paar - wenn auch entlarvt - streift weiter hartnäckig schnüffelnd umher. Hinzu kommt ein Schwarm von Zuhältern und Schuhputzer, die das Einkommen ihres mehr oder weniger eingestandenen Kommerzes mit kleinen Spitzeleinkünften aufbessem. Man kennt sie ja.

Und dieser Melville ist es, der sich zwischen einem Dutzend weiterer Ermittlungen, deren Aufzählen zu viel Zeit in Anspruch nähme, einen besonders erbaulichen Besuch vornahm, dessen Wortlaut es verdient, genau wiedergegeben zu werden.

An einem Montag, dem 1. August, gelang es dem Inspektor nachmittags, während Delbecque in seinem Atelier war, bei dessen Frau einzudringen und ihr unter Aufbringung der ganzen Kunst seines Gewerbes, abwechselnd versprechend oder drohend, folgendes zu sagen:

„Schauen Sie, Sie sind leidend, Ihre Kleine siecht dahin. Zum Teufel, seien Sie doch vernünftig! Sind Sie diesen aussichtslosen Kampf noch nicht leid? Ich werde Ihnen aus dieser Sackgasse heraushelfen. Hören Sie: Sie brauchen Ruhe, ein ruhiges Leben - alles steht zu Ihrer Verfügung. Gestehen Sie nur, daß Meunier hier gewohnt hat, nennen Sie mir seine neue Unterkunft und Ihre ruhige Existenz ist Ihnen gesichert. Sie ist Ihnen sicher, Ihnen, Ihren sechs Kindern und auch Ihrem Mann. Was kann ich Ihnen besseres anbieten? Haben Sie Geduld. Niemand wird davon erfahren. Das bleibt unter uns. Sie wollen mir nicht zuhören? Um so schlimmer! Aber Ihr Mann wird nicht auf seinem Posten bleiben. Ja, dessen kann er sicher sein. Wir sind gut unterrichtet. Und Ihre Würmchen...

Kommen Sie, sehen Sie es doch ein. Es ist in Ihrem Interesse. Sie sind eine anständige Frau, eine gute Mutter! Das wird erbärmlich sein, wenn Ihre Kleinen vor Hunger schreien. Hier sehen Sie, was ich Ihnen vorschlage: fünfhundert Pfund. Und das ist nur ein Vorschuß. Fünfhundert Pfund sofort!

Sie lehnen ab? Gut. Ich gehe. Denken Sie nach, überlegen Sie es sich, - morgen ist es noch nicht zu spät, denken Sie nach: Ihr Mann ohne Arbeit und Ihre Kinder ohne Brot...“

Ta-ra-ra-boom-de-hay!

Es gibt gute Leute, die den Engländern immer noch böse sind, weil sie Jeanne d’Arc verbrannt haben. Wenn aber dennoch auch unsere Landsleute in dieser Angelegenheit eine Rolle gespielt haben und insbesondere ein Bischof, so war dieser schlechte Franzose eines Engländers würdig:

„Alle Engländer sind Cauchons!“[4]

Die letzten Anhänger der Jungfrau von Domrémy behaupten das mit überzeugtem Ton in der Stimme. Natürlich gehen sie zu weit. Aber, Hand aufs Herz, ich mag lieber die feurigen Übertreibungen, als das ewige „all right“ der lästigen Anglomanen.

Die meisten französischen Zeitungen priesen das exemplarische Spektakel anläßlich der letzten Wahlen in England als beispielhaft. Selbst die verbissenen Gegner des Parlamentarismus verzuckerten ihre Feder, um die auf den elektoralen Rennplätzen in Großbritannien gerittenen steeple-chases auszumalen.

Man nannte das loyale Wahlen!

Aber so eine erniedrigende Komödie ist zweifellos noch nie gespielt worden:

Überall in den Städten sah man mit Banderolen geschmückte Wagen, die von Droschkenkutschern, mit bunten Rosen im Knopfloch, gefahren wurden. Diese Festwagen fuhren an den Wohnungen der Wähler vor, um sie - einen nach dem anderen - abzuholen. Der Wähler kam auf die Straße, nahm im Festwagen oder auf dem Kabriolet Platz, rechts und links von sich einen Aufreißer eines der Kandidaten. Das war der freie Gang zur Urne. Der zarte Wähler verschwand fast zwischen den zwei lästigen Burschen, die ihm Predigten hielten, und ließ sich resigniert zur Wahl fahren... und nirgends sonst, wirklich nirgendwo sonst hat das arme souveräne Volk eine derartige Trauermine machen müssen.

Hier fahren die Anwärter auf einen Parlamentssitz, die dann letztlich ohnehin mit den Wählern Schlitten fahren, sie zunächst einmal im Auto spazieren. Das hat sich so eingebürgert. Man sieht sich gezwungen zuzugeben, daß das Land weniger Vorurteile hat als zum Beispiel in Loches, wo ein Kandidat aus ähnlichen Gründen disqualifiziert worden ist.

In diesem Zusammenhang wäre noch hervorzuheben, daß der Kandidat Wilson hieß...- ebenfalls ein englischer Name.

Wenn das alles noch nicht sehr schlimm erscheinen mag, so gibt es noch Besseres.

Die Revolutionäre, die auf Grund der traditionellen Gastlichkeit nach London kommen, laufen in eine Mausefalle...

Die Symptome dafür sind beweiskräftig.

Die „Sirene“ zieht mit ihren eingeschworenen Freiheiten die Vertriebenen an und fördert die Vernachlässigung der Vorsicht, immer auf der Hut zu sein. Sie kommen mit unverhülltem Gesicht auf die Insel. Man empfingt sie. Ausweisungen sind unbekannt! Aber dafür ist das Ausspionieren gang und gäbe. Man beschattet die Flüchtlinge, man erkundigt sich nach ihrer Adresse und nach ihren Beschäftigungen. Die Revolutionäre leben wie eingepfercht auf der Insel, man hält sie ebenso unter Beobachtung wie zur Verfügung. Man hat sich mit dem Kontinent darauf geeinigt!

Der große Fischzug findet vielleicht morgen statt!

Man muß sich bei einem Volk, dessen Handelsgeist dermaßen ausgeprägt ist, daß es instinktiv alle ihm etwas einbringenden Kompromittierungen annimmt, auf die schlimmsten Verfahrensweisen gefaßt machen.

Der Liberalismus der Institutionen ist nur ein leeres Wort: man hat ein Recht darauf, sich Sonntags auszuruhen, aber man darf nicht nach seinem Gutdünken arbeiten. Und so ist es bis ins kleinste Detail - ein ewiges Augenwischen.

Ich bewundere die Philosophie der im Exil Lebenden, die immer wieder sagen:

Weil wir im Ausland sind, kümmern wir uns nicht um das, was sich hier abspielt. Wir kompromittieren unsere Zufluchtsstätte nicht. Verhalten wir uns also ruhig.

Diese Überlegungen klingen falsch. Wenn wir uns hätten stumm verhalten wollen, so wären wir nicht hier. Wir haben die Städte, in denen wir gerne gelebt haben, verlassen, weil uns mehr als an allem anderen daran gelegen war, mit lauter Stimme unsere Revolte zum Ausdruck zu bringen. Wir haben uns seither nicht geändert. Und wir werden die Niederträchtigkeiten der Länder weiter denunzieren, in die unser Schicksal... und die Gendarmen uns bringen werden.

Zur Zeit sind wir in England. Sprechen wir also von der Heuchelei.

Gibt man nicht vor, daß die individuelle Freiheit eine heilige Sache ist und das home nicht angetastet werden darf?

Schauen wir uns das ein wenig an:

Es ist kaum eine Woche her, daß mitten in der Nacht ein Haus in der Campton Street von zwanzig Individuen, Revolver in der Faust, überfallen worden ist. Diese Männer sind nicht, wie man glauben könnte, arme bedürftige Teufel, sondern ganz vulgäre Verbrecher - Polizisten. Sie sind über Dächer gestiegen, haben Fenster eingeschlagen und sich dann einer nach dem anderen durch ein Fenster ins Treppenhaus fallen lassen. Der Hausbesitzer, der erschreckt in seinem Bett auswachte, schrie:

„Wer ist da?“

Keine Antwort. Die Beamten strömten in alle Etagen, brachen die Türen mit den Schultern ein und terrorisierten die aus dem Schlaf gerissenen Mieter. Sie drangen mit Gewalt in das Zimmer einer kranken Frau ein. Nichts konnte sie aufhalten. Das Haus war bald von oben bis unten, vom Keller bis zum Dach, durchwühlt. Die Eindringlinge durchsuchten, durchwühlten die Möbel und lasen die Briefe, die sie fanden. Und als sich der Chef der Bande endlich dazu herabließ, erklärte er:

„Wir haben geglaubt, hier hielte sich jemand versteckt, den wir suchen. Wir müssen uns im Haus geirrt haben... Gute Nacht!“

Am nächsten Tag suchten die Personen, deren Hausfrieden so schändlich gebrochen worden war, einen Richter auf. Die englischen Richter sind, soviel steht fest, die Unparteilichkeit in Person. Man würde sie gerne exportieren. So würden die Kläger wenigstens gerächt werden:

„Ist denn so etwas bei uns möglich?“, rief der aufrichtige Richter aus. „Das ist unsittlich, das ist shocking. Das home muß respektiert werden. Man wird darüber Recht sprechen... Wie schade, daß ich nichts tun kann.“

„Wie?“

„Das fallt nicht in meine Kompetenz. Aber Sie werden trotzdem Genugtuung erhalten. Wenden Sie sich an die Polizei.“

„Aber genau die ist es, die...“

„Das betrifft die Polizei.“

In der Tat findet sich tagsüber ein Inspektor der Staatssicherheit in der Campton Street ein. Er war mit allen Vollmachten ausgestattet und kam, um die Dinge - die heiligen Dinge! - in Ordnung zu bringen.

Weil Zeit Geld kostet, war sein Vortrag äußerst knapp:

„Hier sind 25 Francs. Damit sind Sie entschädigt, werter Herr. Sprechen wir nicht mehr davon...“

...Und die Zeitungen haben den Vorfall verschwiegen. Es hat keine Proteste gegeben. Die Bürger der freien Insel tragen ihren Teil der Komplizenschaft.

Der gute Wille der Insulaner ist vorerst nicht diskutierbar. Wenn sie mit ihren Prinzipien ins Detail gehen, sehen sie aus, als würden sie Gigue tanzen.

Das ist die nationale Tugend.

Ta-ra-ra-boom-de-hay! Ta-ra-ra-boom-de-hay!!

Singen wir den populären Refrain - den Refrain, der nichts aussagt.

Das alte englische Renommée bedeutet auch nicht mehr.

IV. Auf der Walze

Ohne Ziel

Wie sagt man noch: Welches Ziel haben sie?

Und der wohlwollende Fragesteller hält sich davor zurück, mit den Schultern zu zucken, wenn er feststellt, daß es junge Leute gibt, die sich nicht an die Gepflogenheiten, die Gesetze und die Anforderungen der heutigen Gesellschaft halten und sich dennoch für kein Programm aussprechen.

- Was erhoffen sie sich?

Wenn diese Verneiner ohne Credo doch wenigstens den Fanatismus als Entschuldigung hätten, aber auch das nicht: Der Glaube will nicht mehr blind sein. Man diskutiert, man tastet, man sucht. Welch armselige Taktik! Diese Scharfschützen des sozialen Kampfes, diese Fahnenlosen sind dermaßen aus der Art geschlagen, daß sie nicht einmal mehr proklamieren, sie besäßen die - einzige - Formel des universellen Allheilmittels! Mangin war geistreicher...

- Und welche Interessen haben sie, wird dann nachgefragt.

Sprechen wir nicht davon. Sie werben für kein Mandat, keine Posten oder Delegationen, welche es auch immer sein mögen. Sie sind keine Kandidaten. Was sind sie also? Man möchte lachen! Für sie empfindet man die gebührende Verachtung, in die sich Mitleid mischt.

Ein Teil dieser Mißachtung kommt auch mir zu.

Wir sind einige wenige, die spüren, daß wir die zukünftigen Wahrheiten erst flüchtig anreißen.

Nichts fesselt uns mehr an die Vergangenheit, aber die Zukunft zeichnet sich noch nicht ab.

Und deshalb werden wir zwangsläufig falsch verstanden – und sind hier wie dort und überall Fremde.

Warum?

Weil wir keine neuen Katechismen zitieren wollen und insbesondere nicht so tun, als ob wir an die Unfehlbarkeit von Doktrinen glauben würden.

Wir müßten schon auf schnöde Art und Weise willfährig sein, wenn wir vorgäben, eine geschlossene Theorie ohne Vorbehalte anzuerkennen. Diese Willfährigkeit besitzen wir nicht! Die große Offenbarung fand nicht statt: wir halten unseren Enthusiasmus für eine große Sehnsucht offen.

Wird sie kommen?

Und selbst wenn uns das Endstadium dieser Bewegung noch nicht klar ist, so sträuben wir uns nicht dagegen, etwas anzupacken. Unsere Epoche ist die eines Überganges und der emanzipierte Mensch hat darin seine Rolle.

Die autoritäre Gesellschaft ist uns verhaßt, wir bereiten das Experiment einer libertären Gesellschaft vor.

Obwohl wir nicht wissen, was diese Gesellschaft uns bringen wird, wünschen wir uns diesen Versuch - diese Veränderung.

Anstatt in dieser veralteten Welt stecken zu bleiben, in der die Luft zu dick zum Atmen ist und die Ruinen einstürzen, als wollten sie im aufgewirbelten Staub alles verhüllen, beeilen wir uns, auch den Rest einzureißen.

Das bedeutet, die Stunde einer neuen Renaissance zu beschleunigen.

Egal wohin

Ich sagte es bereits: wir sind überall Fremde!

Und zwar nicht viel weniger in Paris als in diesem London, wo ich nun schon seit drei Monaten in der Sommerfrische des Verfolgten vegetiere.

So kann man sich hier zum Beispiel nicht einmal oberflächlich akklimatisieren. Man kommt gegen die absolute Zurückhaltung der Einheimischen nicht an. Man dringt kein bißchen in das einen umgebende Milieu ein. Man fühlt sich materiell abseits gehalten. Und das Isoliertsein wiegt schwer in der dichten Stille des Nebels.

Die internationalen Clubs aufzusuchen, wäre überflüssig. Sie sind enttäuschend.

Die Solidarität einiger revolutionärer Gruppen erinnert an prahlerische Wohltäterei. Sie ist und bleibt ein erbärmliches Spektakel. Hinzu kommen all die sich einschleichenden, zänkischen Verdächtigungen, die jeden ungezwungenen Elan abkühlen. Die Beschuldigungen überschneiden sich. Streit und Schmähungen gewinnen Oberhand, Diskussionen finden nicht statt.

Mißtrauen herrscht.

Man muß in sein Zimmer zurückgehen und ist allein. Aber das zur Hofseite gelegene Zimmerchen auf der letzten Etage des trübsinnigen Hauses ist nostalgisch.

Und man kann die im Exil Lebenden an den Fingern abzählen, die sich ein komfortables home leisten können.

Die anderen gehen schleifenden Schrittes unbewußt in die Viertel von White-Chapel, dort hinten, hinter dem Tower, wandern durch die Elendsgassen, um sich, mit dem Gewühl der Menschenmassen, die aus den Fabriken und den Werften kommen, in die großen Arterien tragen zu lassen und dann – wie mit der Ebbe - dorthin zu strömen, wo es gut wäre, sich zu ertränken.

In den großen Städten, die man durchquert, interessieren einen die reichen Boulevards und die Städtischen Gebäude wenig. Selbst die Museen durchstreift man flüchtig, mit nur kurzen Aufenthalten, denn die vergangenen Werke, die uns, in ihrer Technik und Konzeption, noch ergreifen, sind äußerst selten. Monumente haben nur die Schönheit ihrer Harmonie und wenn dieses erhabene Gesamtbild fehlt, wirken sie wie ein Haufen alter Steine, die auch durch eine historische Erinnerung nicht prächtiger erscheinen.

Faszinierend bleibt dann nur, die hervorstehenden Züge einer Rasse durch Kontaktaufnahme mit der Seele des Volkes aufzuspüren. Man geht also in den unteren Teil der Stadt, in dem der Stand der kleinen Handwerker lebt und wo die Kleinen mit nackten Füßen aufwachsen, in diese Straßen, deren Bild von den leprösen und verfallenen Gemäuern beherrscht wird und in denen man hier und da auf riesige Gebäude, Arbeiterkasernen, stößt, die den Eindruck von riesenhaften Bienenstöcken für Habenichtse hervorrufen.

Die Zellen dieser Bienenstöcke sind eng, die Trennwände der Elendslöcher dünn und ohne Kamine. Das in den Schmutzlöchern zusammengepreßte Leben quillt auf die verschlammten Chausseen, die manchmal von einem Sonnenstrahl aufgeheitert werden und auch dann steckt man noch im Gewühl eines Ameisenhaufens.

Draußen im hellen Licht ist eine unablässige, sich fortwährend erneuernde Arbeit im Gange. Bleiche Frauen waschen grobe Wäsche und auf einem Feuer, das vom Wind geschürt wird, kochen die Kartoffeln für die Mahlzeit, die man gleich vor der Tür auf wackeligen Stühlen zu sich nehmen wird. Diese Bevölkerung kennt sich, neckt sich, bewegt sich, lebt ein besonderes Leben, mit charakteristischen Gepflogenheiten, ganz bestimmten Gebräuchen, einer ihr eigenen Geisteshaltung und Sitten, deren brutale Seiten den Urzustand eines Typus wachrufen.

Dagegen habe ich in London eine allgemein verbreitete Feindschaft bis in die Blicke hinein gespürt, die sich, wie um ein Annähern zu verbieten, hart auf einen richten: Go on!

Jeder Engländer symbolisiert auf seltsame Art und Weise das Land:

Diese Insulaner machen ebenso viele kleine, unzugängliche Inseln aus, auf denen der Saft von Pflanzen mit warmen Farben niemals fließt.

Und alles ist monoton, neutral und grau... und mir reicht’s!

Nichts wie weg!

Nein, nicht daß wir uns etwa Illusionen machen und davon träumen, in anderen Ländern freundschaftlich empfangen zu werden. Jeder Flüchtling weiß, daß jedes Asyl unsicher ist, er weiß, daß er sowohl in Genf als auch in Brüssel, in Spanien und auch in Italien als suspekt angesehen wird... Aber schließlich, wenn man von einem Aufenthaltsort genug hat, ist es so, daß man kein bestimmtes Ziel zum Aufbruch braucht.

Nur fort! Egal wohin...

Reisen! Weg von den Spleens! Jeder Ort hat anfangs seinen Charme: alles ist schön - wenigstens eine Stunde lang.

Weisheit heißt, nicht zu verweilen.

Weiterziehen, Eindrücke in sich aufnehmen, neue Sensationen kosten, Neuland genießen und weiterziehen - immer weiter! Wahrscheinlich in irgendein unerreichbares Vaterland. Vagabund, Pilger, Walzbruder auf Entdeckungsreisen, auf Eroberung, unersättlich wie Don Juan, aber mit einer reineren Liebe; das Kleid, das man herunterreißen will, ist ein Schleier am Horizont.

Die grüne, tiefe Themse nimmt in ihrem Wasser ungezählte abenteuerliche Wünsche mit sich.

Nach Westminster, hinter dem Tower, hinter den Docks wird sie in Blackwall breiter. Die großen Schiffe gleiten zum Meer und ihre Sirenen sind Rufe, die man nicht hört, ohne vor Aufregung zu zittern...

Und in Blackwall nahm ich eines Morgens, ohne große Überlegungen, das Schiff nach Holland. Mit ein paar Schillingen mehr in der Tasche hätte ich mich ebensogut nach Schweden oder nach Kalkutta einschiffen können.

Reisende Musikanten

Die Überfahrt von London nach Rotterdam dauert einen Tag und eine Nacht und ist nicht sehr teuer: etwa fünfzehn Francs in der dritten Klasse. Und die letzte Klasse einer kurzen Schiffsreise übers Meer ist nicht wesentlich schlechter als die erste: man hält sich vorzugsweise auf der Brücke auf, um die zurückbleibenden pittoresken Küsten zu betrachten oder auch um sich ins Spiel der Wellen zu vertiefen oder in den weiten, am Horizont ins Wasser tauchenden Himmel.

Hinten wie vorne sind alle Plätze für dieses nie endende Schauspiel gleich gut.

Und die dritte Klasse drängt sich einem ohnehin auf, wenn man als ganzen Reichtum nur ein paar Louis besitzt. Das ist bei mir der Fall. Darüberhinaus habe ich leichtes Gepäck und Kleider aus rustikalem Stoff.

In der dritten Klasse trifft man recht wenig Leute, die nur zum Vergnügen reisen: meistens sind es arme Leute, die man in ihre Heimatländer zurückschickt, oder Arbeiter, die hoffen, weit von ihrer Heimatstadt entfernt Arbeit zu finden.

Aber keine Touristen.

Die brauchen ihre Annehmlichkeiten und ihren Komfort, so bescheiden sie auch sein mögen. Sie ziehen es vor, mit dem Reisen zu warten und ihre Reisekasse zu vergrößern, um wenigstens die zweite Klasse nehmen zu können. Sie schiffen sich mit vollgestopften Taschen ein und sind Träger eines Rundreisebillets mit verschiedenen Gutscheinen für die darauf bezeichn te n Hotels. Der unschätzbare Vorteil der dritten Klasse ist es, nicht mit ihnen in Berührung zu kommen.

Das seichte Geschwätz dieser Périchons klingt nie erbärmlicher als vor der Majestät der offenen See.

Das erinnert an eine Verfolgung...

Die ungezwungene Unterhaltung der ohne Geld und ohne Pose Reisenden des Zwischendecks, die ihren Empfindungen naiv Ausdruck verleihen, ist ungemein angenehmer. Hier gibt es keine störenden Vorträge, kein manieriertes Aufzählen glorreicher Binsenwahrheiten. Man spricht von Hoffnungen und Plagerei. Und je nach Zeitpunkt und Ort kommt eine mehr oder weniger bildreiche Sprache hervor.

Und wenn man Glück hat, kommt es in der dritten Klasse vor, daß der Zufall die besten Freundschaften einleitet: ich reiste auf der Themse in Begleitung einer liebenswerten und bedürftigen Troubadourentruppe, die ihre Überfahrt damit bezahlte, von Zeit zu Zeit einen Walzer aus ihrer Heimat zu spielen.

Sie kamen mit ihren dunklen Gesichtern, ihren gelenkigen Zigeunerkörpern und ihren Teufelsgeigen von einer Tournee in schottischen Dörfern zurück.

Sie emigrierten vor dem Winter.

Einige von ihnen sprachen französisch und erzählten mir von ihrem Nomadenleben. Das war schön und von ergreifender Sorglosigkeit: vor ihnen lag Sonne, frische Luft und Musik.

Leider war ich zu kurze Zeit mit ihnen zusammen.

Wir hatten uns, auf Koffern kampierend, auf dem Vorderdeck eingerichtet und während die Geigen in ihrem Futteral aus Sackleinen zur Ruhe kamen, verfolgten wir mit geistesabwesenden Blicken die sichere Fahrt der Schleppboote und das Phantasiespiel der Segelschiffe.

Immer weniger düstere Fabriken lagen am Flußufer und man konnte Lagunen mit roter Erde erkennen, auf denen Schafe im spärlichen Gras weideten. Die Themse verbreiterte sich zusehends, dann kam Greenwich und gegen Abend spürten wir bereits die Bewegung der Wellen vom Meer.

Das Meer!

Ich kenne die fremde Melodie nicht, mit der meine Kameraden das Meer grüßten, aber der Klang ihrer Instrumente und ihrer Stimmen, das Rauschen der Wellen harmonisierten in einem schaukelnden Rhythmus.

In der Nacht war die salzige Brise unser Aperitif. Wir bekamen Hunger und schnitten uns große Scheiben Schinken zurecht, während eine gewisse Kürbisflasche voll Whisky brüderlich herumgereicht wurde...

Am nächsten Tag quartierten wir uns in Rotterdam in einer Hafenpension ein. Und während ein Konzert improvisiert wurde, besichtigte ich die alten adretten Häuser mit den ungleichen Dächern längs der Kanäle dieses ein wenig vulgären Venedigs.

Die Musikanten sagten mir bald, daß sie für zwei Wochen hierbleiben würden. Das war länger als ich konnte: alles Gute! Adieu! Händeschütteln.

Nicht weitab von dort, da wo der Rhein ins Meer fließt, spiegelte er mir seine unvergeßlichen alten Schlösser vor. Das gleiche unabweisbare Verlangen, das mich dazu angetrieben hatte, einen Fluß hinabzufahren, erfaßte mich, den anderen heraufzufahren. Die Themse, der Rhein! Ist das nicht die Verlängerung einer großen verführerischen Route?

Das Frachtschiff

In den lärmenden Spelunken der Hafenstädte, wo die Maschinisten und die Matrosen zwischen zwei Fahrten Zusammenkommen, um miteinander zu trinken, trifft man brave Seeleute, die einem zwischen zwei Gläsern die Möglichkeit anbieten, für wenig Geld zu reisen.

Die meisten Handelsboote akzeptieren, wenn sich die Gelegenheit bietet, nicht-zahlende Reisende, wenn diese sich an Bord nützlich machen oder jemand aus der Mannschaft ihn als einen allen Freund vorstellt. So wurde ich dem Kapitän eines nach Mannheim ausschiffenden Frachters von einem gutherzigen Seemann vorgestellt.

Das hat mich drei Wacholderschnäpse gekostet.

Das Frachtschiff befuhr zwölf Tage lang den ganzen beschiffbaren Rhein und löschte an den verschiedenen Anliegehäfen seine Zucker- oder Anilinladung. Langsam gegen den Strom fahrend und dabei in den verschiedenen Städten Köln, Bonn, Ober Lahnstein oder Mainz Halt machend, bekommt man, ganz in Muße, einen Eindruck des Landes.

Das Leben an Bord war einfach. Ich hatte einen bedürfnislosen Lebensmittelproviant, holländische Zigarren inbegriffen, mit an Bord genommen und stand lange an einen Haufen aufgerollten Seils gelehnt, von wo aus ich rauchend dem unablässigen Vorbeiziehen beiwohnte:

Dordrecht lag dort anmutig in der Stille seiner bewaldeten Ufer. Und in der Ruhe der weiten Ebene: Tiel. Später Lobit, die deutsche Grenze, die nur durch einen friedlichen Zollposten angezeigt wird. Emmerich mit seinen gotischen Glockentürmen. Duisburg, eine dunkle und rauhe Bergwerksstadt, liegt mit seinen Krupp-Werken und seinen Handwerksbetrieben so nahe und doch so weit ab von den lieblichen holländischen Ufern: das ist bereits nicht mehr das Leben, sondern schon der Kampf ums Leben. Wir fahren tiefer nach Deutschland hinein: die Zufahrt zu den kleinsten Dörfern wird aggressiv von mit Kanonen geschmückten Böschungen beschützt. Man spürt ein Volk, das seine Waffen putzt.

Das ist - zu anderen Zwecken - wie ein Reim aus Bronze...

Düsseldorf und bald darauf Köln: die beiden Türme des Domes beschuldigen sich gegenseitig, verärgert gegeneinanderstoßend, weil sie trotz der fein durchbrochenen Steinarbeit eine einzige, schwerlastende Masse bilden. Ich verbringe einen Nachmittag damit, die Stadt so zu besichtigen, wie es der Zufall will. Im Museum richten die empfindsamen und naiven Albrecht Dürer und Caron der Ältere dem ebenfalls ausgestellten Rubens einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu. Dann die Bewegtheit des Hafenviertels, die Handelsaktivität. Und gegen Abend fahren wir weiter nach Bonn, der legendären Universität mit ihren romantischen Studenten, die noch stolz den Studentenschmiß tragen.

Dann kommt Koblenz und auf den steilen Felsen die Burg von Ehrenbreitstein.

Von dort kann man, bis nach Mainz, den malerischsten Abschnitt des Flusses bewundern. Ober Lahnstein! Die steilen Felsenküsten mit ihren eingefallenen Burgen, wie die von St. Goar, wo die Bäume in den Ruinen der Türme wachsen und den Eindruck von Katz und Maus hinterlassen.

Die Weinreben zwischen den Felsen.

Die stolzen Flecken auf den Hügeln werden am Ende eines gewundenen Fußpfades durch den feudalen Wohnsitz gekrönt. Die rauchgrauen Burgen haben manchmal den hellen und warmen Farbton römischer Ruinen. Die roten, farnkrautbewachsenen Flächen, der weiße Friedhof, die spitzen Dächer der Dörfer, die alte, schlanke und stolze Kirche. Das ganze gotische Mittelalter, eine verwegene, den Unebenheiten der Natur angepaßte Harmonie mit dem hochmütigen Zittern der Pappeln.

Und der Rhein, der nahe bei den Klippen immer schneller wird.

In Mainz die unablässigen Bewegungen der im Dienst stehenden Truppen und der in ihrer freien Zeit spazierenden Soldaten.

Säbelrasseln auf den Straßen.

Der sich diesseits der Schlösser von Koblenz eröffnende Anblick der herrlichen Natur endet an den flachen Ufern bei Mainz, der Soldatenstadt.

Könnte man nicht auf so bezeichnende Weise sagen:

Eine vom Militarismus umrahmte intensive Poesie.

Von den Städten in die Dörfer

An den geschäftigen Quais von Mannheim, wo Neckar und Rhein zusammenfliessen, verließ ich das gastfreundliche Frachtschiff, das am Ziel seiner Reise angelangt war und mit einer Ladung Holz auf derselben Spur die Rückreise antrat...

So einfach und mit wenig Kosten es auch verbunden ist, die großen Flußwege zu bereisen, so groß sind dann die Schwierigkeiten jeden Schrittes auf einer Reise zu Lande, wenn man eine nur schmalgefüllte Brieftasche mit sich führt. Und wenn man dazu noch die Landessprache schlecht spricht, vermehren sich die Schwierigkeiten noch: auf dem Weg nach Heidelberg nahm ich zwei Mal die falsche Richtung.

Aber wie reichlich wird man für die Mühe bezahlt, wenn man in der sehr alten und würdigen Hauptstadt der Niederpfalz ankommt.

All diese steilen Straßen, die sich im dunklen Grün der Berge verlieren.

Und das Schloß ohnegleichen, eine phantastische Schöpfung von Schächten, Kasematten, riesigen Sälen, Küchen, in denen ganze Ochsen gebraten wurden und Weinkellern, in denen monströse Weinfässer, von denen eines dreihunderttausend Liter faßt, unzählige Male vom Zehnten der Bauern gefüllt worden sind...

Und dann zu den Resten der Wachtürme mit den zerfallenen Mauern, wo man auf die imposanten, Stein auf Stein gesetzten Blöcke steigt, um von ganz oben aus besser das ergreifende Panorama, die faszinierende Kluft des Tales betrachten zu können.

Die uralten Bäume schaukeln das Gewirr ihrer Blätterpracht, deren höchste Äste so schwer wiegen, daß sie die Ruinen zu ihren Füßen streifen. Und dieses spiegelnde Gewirr von Grün ist anmutig wie ein federweiches Bett mit Samt.

Es wäre angenehm, sich dort hineinzustürzen. Und würde der Wind, der so stark weht und in den bedrohlichen Rissen pfeift, einen nicht mit sich fortwehen, wenn man sich nicht festklammerte?

Ein leichtes Zittern geht durch die Beine und setzt dem Charme des Schwindels ein Ende; man steigt auf dem harten und rauhen Boden aus Mühlstein hinab.

Und noch lange danach, wenn man das Schloß längst auf dem kieferbewaldeten Fußpfad verlassen hat, behält man den magischen Eindruck der in den büschigen Windungen des Neckar gebadeten Landschaft vor Augen.

Das ist die Weite des gelobten Landes.

Von den Städten in die Dörfer möchte man neugierig seinen Weg abstecken und ohne jede Ermüdung in andere Dörfer und Städte ziehen.

Vorwärts! Laßt uns weitergehen.

Triberg, der Schwarzwald, wo ich fast eine Woche lang in dem niedrigen Haus eines Holzfällers wohnte, der häßlich wie ein Gnom war.

In der Hütte schmeckte das Kirschwasser ausgezeichnet.

Frühmorgens ließ ich mich von den wilden Düften in der kräftigen Luft der Wälder durchtränken, dieser Wälder, die so dicht wuchsen, daß die Mittagssonne ihre Blätterpracht kaum durchdringen konnte. Und welch beeindruckender Kontrast, wenn dann plötzlich die trostlosen Felsen zum Vorschein kornmen, die von ein paar mageren Bäumchen, wie beim Sturmlauf, erklettertt werden.

Die Natur spricht.

Ich verstand den menschlichen Sinn der wilden Bergbäche besser mit ihren auf der polierten Fläche der Steine aufspritzenden Kaskaden, ich liebte die Wildheit des rötlichen Wassers, das noch aufgepeitschter strömte, wenn große, entwurzelte Bäume ein Hindernis bildeten...

Wie bedauere ich es, nicht noch länger, noch weitere Wochen und Monate lang diese Landschaft durchstreifen zu können! Wie schade war es, nicht länger zu Fuß und mit dem Tornister auf dem Rücken den schönen Spaziergang fortzusetzen!

Die letzten Geldstücke klimperten in der Tasche.

In der nächsten Stadt, in der der Zug nach Mailand hielt, konnte ich mir gerade noch eine Fahrkarte kaufen. Bei italienischen Freunden hoffte ich, mich neu auszurüsten.

Ich gebe zu, ich nahm den Zug!

Kleine Mädchen

An jenem Nachmittag verurteilte man in Mailand kleine Mädchen.

Aber das war keiner jener traurigen Prozesse, in denen über ein Kind verhandelt werden soll, das mit einem sittenstrengen Richter auf der Bank erwischt wurde, der dann natürlich nicht erscheint.

Ich habe die Verhandlung verfolgt.

Es handelte sich um eine anarchistische Demonstration, auf der man neben entschiedenen Männern und beherzten Frauen auch zwei Mädchen von vierzehn und fünfzehn Jahren verhaftet hatte.

Mit ihrem entschiedenen Auftreten eines widerspenstigen Jungen, ihren kurzen, gelockten Haaren und ihren schwarzen, feurigen Augen war die dunkle Maria von ganz besonderem Charme. Sie hatte eine Art, diese Herren vom Gericht zu mustern, die eine Synthese von schweigendem und ungreifbarem Trotz zum Ausdruck brachte - besser als jedes Herumtoben.

Wenn sie sprach, war das kein Lächeln hervorrufendes Gerede, sondern ihre kurzen Sätze beinhalteten etwas und wurden von sicheren Gesten unterstrichen.

„Was reden Sie denn von Anarchie“, brummte der Gerichtsvorsitzende vor sich hin, „Sie wissen ja nicht, was das bedeutet.“

„Ach, Sie haben sie also genauer studiert, die Anarchie? Sie existiert also? Wollen Sie sie mir beibringen?“

Nein, Kleine, man wird dir nichts beibringen! Die Revolte ist instinktiv. Und die Theorie allzu oft sehr infantil. Wenn du spürst, was für eine Besudelung es bedeutet, das dumme Leben zu leben, dann hast du alles verstanden.

Die ein Jahr jüngere Ernesta Quartiroli besitzt eine weniger charakteristische Physiognomie. Ihre erwachende Schönheit ist ernst - geheimnisvoll. Wer weiß, ob sie nicht eine stolze Figur der bedeutungsvollen Zukunft ist?

Ihr Schweigen ist erhaben. Man hat den Eindruck, als ginge es nicht um sie: ein Ja, ein Nein, ein Schulterzucken, das ist alles.

Aber die dunkle Maria, Maria Roda mit ihrer herausfordernden Haltung, läßt den Gänsemarsch der Zeugen der Anklage nicht den langweiligen Gang einer Prozession ohne Unterbrechungen gehen. Ihre Antworten bringen alles zum Stehen. Sie schmückt Ruhealtäre der beschämten Denunzianten und der professionellen Verleumder mit Girlanden.

Sie hat für jeden eine Erwiderung. Eine treffende Erwiderung.

Ein Beamter der Pubblica Sicurezza rezitiert die gegen sie gerichtete einstudierte Lektion: die Roda habe die Demonstranten gegen die Polizei aufgehetzt, sich wie eine Besessene aufgeführt, alle angeschrien und sogar den Polizeibrigadier beschimpft!...

„Was haben Sie dazu zu sagen?“ rügte der Vorsitzende.

„Mir tut der Wachtmeister leid. Er tut mir leid, weil er sein Brot auf sehr penible Art und Weise verdient, weil er ein armer Teufel ist. Aber ich bin erschüttert, weil er gegen andere arme Teufel hetzt, weil er gegen seine Brüder hetzt... Er sollte darüber nachdenken.“

Und mit einer verzeihenden Geste für den Elenden, der sie angezeigt hatte, warf sie vielleicht in dessen verschwommenen Kopf einen ersten Schimmer von Erkenntnis.

In einem Alter, in dem die anderen Mädchen sich kaum von ihren Puppen trennen und die Töchter der Bourgeoisie anfangen, mit einem kleinen Cousin ein amüsantes Liebesspiel zu treiben oder mit einem alten Herrn, der ein Freund der Familie ist, herumzuflirten, haben die Schwestern unserer Genossen sich als solche gezeigt.

Eine Gefängnisstrafe war unumgänglich. Aber die Leute vom Gericht waren großzügig. Ernesta und Maria werden drei Monate lang den Kerker kennenlernen. Zusätzlich müssen die Kleinen diesen Herren noch Strafe zahlen.

Dreihundert Francs für die Armen!...

Das ist zynisch, aber so ist es...Was soll man dazu sagen?... Solange noch Haare unter den Mützen der Justizbeamten wachsen, sind es nicht Schmachtlocken?

Kurz bevor sich das Gericht zur Erfindung der Urteilsbegründung zurückzog, fragte der rotgekleidete Mann Maria:

„Haben Sie abschließend noch etwas zu sagen?“

„Nichts. Weil das ohnehin sinnlos wäre.“

Das war das zwar nicht fröhliche, aber dafür peitschende Schlußwort.

Man sagt, daß Mailand ein kleines Paris ist. Die Mailänder Richter beweisen das, zumindest in einem Punkt: sie sind ebenso widerwärtig wie ihre Pariser Kollegen.

Ist der Richterstand darüberhinaus nicht überall der gleiche? Wie könnte es auch anders sein?

Das ist ohne Zweifel auch der Grund dafür, warum einem, in welchem Land man auch sein mag, die Erinnerung an das Vaterland bleibt: sie steigt wie Ekel hoch, wenn man die Niedertracht eines Richters sieht.

Kennst Du das Land?

Die in Villen einbrechenden Diebe handeln meistens nachts. Die italienischen Polizeikommissare haben in den meisten Fällen ihre ersten Schritte im unabhängigen Einbruch gemacht, bevor sie für das Konto von König Schnurrbart zu arbeiten begannen. Sie haben von daher ihren ursprünglichen Widerwillen für die Arbeit am Tage beibehalten.

Drei Uhr nachts ist ein Zeitpunkt, den sie als ganz besonders geeignet betrachten, um in Wohnungen einzubrechen und sich Objekte ihrer Wahl anzueignen. Diese Kerle suchen nicht nur Beschuldigte, sondern auch ausländischen Tabak, Zigarettenetuis, Ringe und Photographien junger Frauen...

Der Piemonter Polizeikommissar ist ein wählerischer Dieb!

In einer der Mundarten der italienischen Sprache nennt man diesen Nachtvogel Signor Delegato. Was ja auch deutlich zu erkennen gibt, daß dieser Vogel tatsächlich delegiert worden ist - zur offiziellen Freibeuterei delegiert!

Aber das ist jedem, oder fast jedem klar. Man täuscht sich auch nicht darin, daß sich die kalabrischen Bräuche mit der Eisenbahn und der Savoyer Monarchie schnell über die ganze Halbinsel ausgebreitet haben. Die munter ausgeplünderten Touristen, die täglich über Modane von dort zurückkommen, können so wenigstens einen Rosenkranz erbaulicher Anekdoten vorbeten. Sicher, normalerweise haben sie die meisten Geschichten mit Wirten, Reiseführern und Antiquitätenhändlern gehabt. Und das, was sie über die Polizei erzählen, haben sie oft nicht selbst erlebt. Aber ich kann erzählen, was ich erlebt habe.

Und nicht nur von dem, was ich gesehen habe, sondern auch von dem, was ich gespürt habe. - Die Handschellen!

Eine Nachts in der vergangenen Woche rissen sie mich aus einem angenehmen Traum, der mich im unschuldigen Schlaf schaukelte. Sie waren zu acht. Ich träumte davon, Turin, die monotone Stadt, zu verlassen, um nach Spanien, genauer nach Barcelona zu reisen... Sie kamen zu acht - mit weichen Hüten und Krawatten, wie sie von Dichtern getragen werden. Und, um das Bild abzurunden, mit Revolvern in den Fäusten. Sie traten mit abgeblendeten Lampen Türen ein, raubten meinen Koffer aus und schon brachen wir auf: zum Verhör.

Wollte man mich nicht auch noch zu Fuß dahin gehen lassen? Der Chef der Kleinen Hüte hatte es schon angekündigt:

„Es ist nicht sehr weit und zu dieser Stunde werden wir keine Kutsche finden.“

Ich sah mich gezwungen, ihm zu erklären, daß mich in diesem Fall seine Männer - und zwar mit Gewalt - forttragen müßten. Man mußte eben einen Wagen finden - und man fand auch einen. Das war eine Ernüchterung für den Kommissar. Er zog ein häßliches Gesicht, als er davon Abstand nehmen mußte, die Fahrtkosten in seine eigene Tasche zu stecken.

Aber konnte ich mich darüberhinaus überhaupt in solcher Begleitung sehen lassen? Diese Leute rochen schon von weitem nach Polizeipräfektur. Wenn wir auf dem Weg einem nächtlichen Spaziergänger begegnet wären, hätte ich sicher zu schreien begonnen, um den schlimmsten Verwechslungen aus dem Wege zu gehen und wenigstens mich in den Augen des Passanten zu rehabilitieren:

„Ich bin kein Polizist. Ich bin der Kriminelle!“

Meine Verbrechen wurden mir sehr schnell mitgeteilt. Auf dem Amt für Staatssicherheit gab man sich den Anschein, mich zu verhören. Von einem Inspektor, der versuchte, mich auszuhorchen, erfuhr ich dann alles:

„Sie sind der Redakteur des ENDEHORS!“

Das war alles und weiter nichts! Das ist also eine Eigenschaft, die hier und dort in Europa ausreicht, um ins Gefängnis geschleppt zu werden.

So ist es. Die Regierungen geben einander Anweisungen. Die Staatsanwaltschaft verschanzt sich hinter den Fußangeln der Notstandsgesetze, die unterwürfigen Geschworenen verurteilen willentlich und nach Bedarf und die Autorität lauert über die Grenzen hinaus auf einen bösen Streich.

Darüberhinaus ließ mich der Polizeiinspektor verstehen, daß sich mein Fall, wenn das noch möglich war, noch verschlimmert hätte. Ich hatte in der Tat tags zuvor einen Artikel über einen Prozeß, der unlängst in Mailand stattgefunden hatte, mit der Post per Einschreiben abgeschickt. Die Sittenstrolche vom schwarzen Kabinett hatten ihn schon abgefangen. Noch bevor er veröffentlicht worden ist, war der Artikel bereits verurteilt. Ich hatte eine Lektion verdient.

Wenn sich Zuhälter zu zehnt an einer abgelegenen Straßenecke auf einen verspäteten Spaziergänger stürzen, dulden sie es nicht, daß ein hinzugeeilter Passant eingreift. Ein einziges Wort entfesselt die Meute. Ebenso erlauben es die zivilisierten Länder nicht, daß sich ein Ausländer in ihre - grausam schmutzigen - Angelegenheiten mischt. Sie geben das im allgemeinen schamlos zu:

„Wir gestehen Ihnen Gastfreundschaft zu, aber Sie müssen schweigen.“

Sein Maul halten! Untätig bleiben, während sich vor unseren Augen Schandtaten abspielen, während die Herren die Sklaven peinigen, während Richter Unschuldige verurteilen, mit einem Wort: die Waffen niederlegen, während die Gesellschaft wütet. - Niemals! Wir wären nicht mehr wir selbst, wenn wir so handeln würden. Und wir sind so stolz, unsere Feder in Bereitschaft zu halten.

Die Regierungen können uns abwechselnd ihre jeweiligen Gefängnisse vergleichen lassen. Wir sind unverbesserlich und jede Repression spornt uns nur an. Beim Verlassen des Gefängnisses sind wir bereit, unsere Taten wieder zu begehen. Von hier verjagt, gehen wir dorthin. Die Welt ist groß.

Was mich angeht, so werde ich meinen Wanderstab zunächst nicht mehr in Italien spazierenführen.

Nachdem ich eine halbe Woche im Turiner Kerker verbracht hatte, teilte man mir mit, daß ich des Königsreiches verwiesen sei. Man hinderte mich daran, nach Genua zu reisen, wo ich den Wunsch hatte, mich nach Spanien einzuschiffen. Aber man ließ mir die Wahl zwischen Modane, Chiasso und Cormons. Die französische Grenze schien mir nicht ratsam zu sein; die Schweiz ist ein geschmackloses Land, wenn man kein mit einer stattlichen Rente versehener Engländer ist. Blieb nur Österreich. Cormons ist nicht weit von Triest entfernt und in Triest ist das Meer und der freie Horizont...

Die Reise war wenig erfreulich.

Auf der Registratur warteten zwei Carabinieri auf mich. Sie zwängten meine Handgelenke in ein sinnreiches Instrument, legten ein Vorhängeschloß an, das verschraubt wurde und dann fuhr uns der klassische Gefangenenwagen zum Bahnhof. Erstes Etappenziel war Mailand. Ich stieg in dem Hotel der Stadt ab, in dem die Diener in Uniform die Türen peinlich genau abschließen. Dann ging es erst wieder am übernächsten Tag auf die Reise.

Diesmal ging es bis nach Verona, wo wir aufs neue in einem Gefängnis, das nicht viel schmutziger als die vorherigen war, Rast machten. Von der widerwärtigen Eskorte befreit und der perfektionierten Handschellen entledigt, überschritt ich schließlich, mit von den Eisen blauangelaufenen Händen, die Grenze.

Einige Details zu schildern ist nicht unangebracht. Es kann nur gut sein, wenn unsere Freunde über die Umgebung von Paris unterrichtet sind. Es kann ihnen nichts schaden, wenn sie von den Spezialbehandlungen wissen, derer man sich im Lande Mignons erfreut.

Dieses Land, in dem der Beamten-pickpocket[5] blüht, ist ein schlecht gejäteter Boden, auf dem alle Formen von revolutionärer Propaganda angebracht sind. Ein Eclat könnte nichts schaden.

Dieses kaum vom religiösen Aberglauben gereinigte Volk wird herdenweise in die patriotischen Schwindeleien getrieben. Wenige Menschen denken nach. Die Herrschenden unterstützen eifersüchtig diesen Zustand moralischer Erschlaffung. Das ruft den Terror hervor, den diejenigen auslösen, die einige Gedanken in die Gehirne der Elenden säen wollen.

Man sagt sich, daß wir nebenbei einigen Unbewußten und Enterbten die Augen öffnen könnten... Allein schon die Vorstellung von Ansteckung läßt einen erschaudern...

Und die Quarantäne ist streng...

Denn der Virus des Hasses und der Revolte kann, wenn man ihn erst einmal im Blut hat, nicht mehr vernichtet werden.

Nach der Ausweisung

Ich frage mich, ob man die Verdächtigungen der Regierung und die aufeinanderfolgenden Landesverweisungen, die einen von einem Ende jeden Landes zum anderen treiben, nicht als Antriebskraft ausnützen kann, um mit etwas gutem Willen eine Weltreise zustande zu bringen?

Man müßte es versuchen.

In Italien vor die Tür gesetzt ging ich jedoch der harmlosen Möglichkeit aus dem Weg, mir die Weiterreise mittels österreichischer Polizisten erleichtern zu lassen.

Ich war vorsichtig genug, mich in Triest nicht am hellen Tage mit Genossen, die ich dort zufällig traf, sehen zu lassen: sie waren sehr wackere, junge Leute, die gerade die achte Nummer eines kleinen, sozialistischen Blattes herausgebracht hatten, deren erste sieben Nummern das traurige Los der Beschlagnahmung kennengelernt hatten.

Abends versammelten wir uns in einer Schenke in der Burgstraße und es war für mich ein außergewöhnliches Vergnügen, einige hundert Meilen von Paris entfernt die gleichen Tendenzen in der Revolte anzutreffen und das Vibrieren identischer Instinkte und Enthusiasmen zu spüren. Wir sprachen bis spät in die Nacht über die sich generalisierende Bewegung, ihre verschiedenen, sich multiplizierenden und vergrößernden, in einem Punkt zusammenlaufenden Anstrengungen, die alle zum Ideal der Freiheit hintendierten.

Tagsüber verbrachte ich meine Zeit damit, an den Quais zu flanieren, wo die schlanken Passagierschiffe anlegten, die aus geheimnisvollen Gewässern zurückkamen.

Zwischen dem Geschrei und dem unaufhörlichen Hin und Her der Packträger werden schwere Baumwollballen, Orangenkisten und Datteln in aus Alfagras geflochtenen Säcken entladen. Man sieht seltsam geblähte Ziegenbockhäute, makellosen indischen Reis, Bananen und stark duftende Hölzer von den Inseln. Und auch was die jungen Matrosen freudig von ihren ersten Reisen mit zurückbringen: an Leinen herumzappelnde Affen und große bunte Vögel. Und den Handel der Schieber, die Gazellenhörner, Tschibuks, Mukallas und Häute wilder Tiere des Dschungels anpreisen.

Man wirft einen Blick auf den ganzen Orient...

Man muß schon einige Häfen des Mittelmeerbeckens gesehen haben, um zu verstehen, wie stark die Beschwörung der Levante und die tägliche Verlockung der ablegenden Dampfschiffe den Wunsch erregen, seinerseits hinaus aufs Meer zu fahren.

Obwohl sie vielleicht noch verführerischer und farbenfroher sind, lösen Algier oder Neapel dieses Verlangen nach exotischer Flucht weniger stark aus.

Das Leben ist dort zu angenehm.

Das von Luft und Nordwinden des adriatischen Golfes bewegte Triest hingegen gibt dem Gesang der Sirenen eine besondere Intensität. - Man möchte das farblose Europa fliehen und in die weite Feme sonniger Träume segeln.

Wenn man Italien kennt - und ich hatte bereits zuvor in Rom und Florenz auf die Amnestie von 1889 gewartet - dann nährt man das Verlangen, in Griechenland seine Vision der Antike zu vervollständigen.

Und so wollte ich dann auch schon seit Jahren nach Athen reisen...

Da sich die Gelegenheit dazu bot, kannte meine Neugier kein langes Zögern.

Auf den Quais und auf der Hafenmole traf man immer eine geschäftige Menge von Türken, Montenegriern, ägyptischen Fesse und die Fustanellen der Pallikaren. Eine kommende und gehende bunte Bevölkerung, auf der Suche nach Schiffen, die die Segel klarmachen. Eine bizarre Welt, die sich gestikulierend und stoßend, inmitten des Gedränges und des Gepäcks und der Konfusion des Verabschiedens umarmt...

Die Kähne zu den auslaufenden Schiffen boten sich mit der vielversprechenden Stimme ihrer Fährmänner an:

„Monsieur! Signor! Mein Herr! Nach Korfu, Patras, nach Piräus?“

Gut! Ich sprang in eine Barke.

Das nützliche Messer

An Bord der „Pandora“ waren etwa fünfzehn Italiener, die sieh zu den Laurium-Bergwerken begaben. Um in Venedig den endlosen Formalitäten und zudem den allgemein bekannten Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, die daher rührten, daß einige von ihnen noch nicht ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, hatten sie sich in Triest eingeschifft.

Wir machten schnell miteinander Bekanntschaft.

Das Schiff der österreichischen Lloyd-Gesellschaft fuhr uns bis nach Patras, an der östlichen Spitze des Peloponnes und von dort aus wollten die Emigranten, wie ich auch, mit der Bahn, die die Halbinsel in ihrer ganzen Breite durchquert, ihre Reise fortsetzen.

Eine spürbare Unannehmlichkeit sollte indes unsere Ankunft verspäten: unter dem Vorwand der Cholera brachten wir fünf Tage im Lazarett von Korfu zu - zur Beobachtung.

Die Schiffsgesellschaft hatte von uns fünf Florins über die Reisekosten hinaus verlangt: einen Florin pro Tag und Person für die Zeit der Quarantäne. Schwamm darüber, wir hatten bezahlt! Wir hatten uns so organisiert, daß wir gemeinsam nicht zu schlecht lebten und dachten schon nicht mehr an die kleine Unannehmlichkeit.

Das Schiff fuhr mit gutem Wind voran.

Wir kreuzten nahe der Küsten, die wir nur selten aus den Augen verloren.

Ein hell glänzender Küstenstrich: die Buchten mit den heißen Lippen lächelten uns mit ihren weißen Häusern zu.

Dalmatien. Die Terrassen des antiken Ragusa. Das in wilder Pose auf die montenegrische Felswand gebaute Zettigna.

Im Morgengrauen des dritten Tages warfen wir in den tiefen Gewässern vor Brindisi Anker.

Das Schiff ankerte so nahe am breiten Quai, daß eine einfache Landebrücke ausreichte, um an Land zu gehen. Oben in der Stadt bildete der viereckige Turm einer Kathedrale eine dunkle Masse und in dem bleifarbenen Licht des Morgens konnte ich von nahem folgendes finstere Bild beobachten:

Galeerenhäftlinge mit braunen, verdreckten Jacken und roten bezifferten Mützen schleppten in Viererblöcken ihre beschwerten Füße am Ufer des Meeres entlang. Vor, hinter und rechts und links neben ihnen gingen ihre Bewacher, die Gewehre im Schulterriemen und mit wachsamen Augen.

Ein trauriger Zug! Das war der letzte Eindruck von Italien...

Und ich dachte an diese menschliche Justiz, diese Justiz, die mich, wenn ich an Land ginge, mit Gefängnis bestrafen würde: zur Strafe wegen Vergehens gegen den Ausweisungsbescheid!

Auf zehn Meter kam es der Justiz an!

Auf dem Schiff war ich ein freier Mann, mit dem Fuß auf italienischem Boden wäre ich wieder der vorbestrafte Verbrecher.

Wir entfernten uns.

Schon bald darauf kamen die albanischen Küsten in Sicht, mit den geräumigen Einsamkeiten ihrer felsigen Wüsten: trübsinniger Raum auf der gebrochenen Linie der Meeresbrandung.

In Korfu schienen zahlreiche Schiffe in verschiedenen Entfernungen wie unter Arreststrafe zu stehen. Und im trüben Golf zog die mit der Überwachung der sanitären Maßnahmen beschäftigte Yacht ihre Zick-Zack-Linien. Überall sah man die gelbe Fahne auf Halbmast.

Die Quarantäne fing schlecht an.

Man behauptete, daß wir für das von uns bezahlte Geld während der fünf Tage Quarantäne kein Anrecht auf Nahrung geltend machen könnten. Dieses Geld stelle lediglich die Gebühr für den von uns eingenommenen Platz dar.

Aber man hatte uns weder Schlafkojen noch eine Unterkunft und noch nicht einmal Decken zur Verfügung gestellt, wenn man einmal von den Korridoren in der Nähe des Maschinenraums und der Küche absieht, aus der uns manchmal der angenehme Geruch von gegrilltem Fleisch in die Nase stieg.

Trotz dieses wertvollen Vorteils erschien uns ein Florin pro Tag für diese „Lagerung“ als ein Betrug ohnegleichen. Und dazu kam, daß die meisten von uns ihr Budget königlich verbraucht hatten, weil sie davon überzeugt waren, daß man uns ernähren müsse, was die Situation noch weitaus unerträglicher machte.

So mußte die Nachricht dann auch einen gewissen Aufruhr auslösen, den ich, daß kann man mir ruhig glauben, kräftig unterstützte: oder sollte man die Geschäftemacherei der Gesellschaft passiv erdulden?...

Man schickte mich als Delegierten zum Kapitän.

Ich verlangte, daß man uns unser Geld zurückerstatten solle. Wir würden dann die Quarantäne an Land in einem Lazarett einer naheliegenden Insel, auf der über den Ruinen eines Forts Kasematten zu sehen waren, hinter uns bringen. Unsere kleine Horde würde mit der Versorgung selbst fertig werden.

Der Kapitän lehnte strikt ab.

Uns blieb nur ein Mittel. - Wir richteten uns lärmend in der ersten Klasse ein.

Es gab eine wilde Flucht.

Die Italiener erweckten mit ihren eisenbeschlagenen Halbschuhen, ihren voluminösen Bündeln, ihrem selbstbewußten Auftreten und ihren langen Bärten den Eindruck mehr als suspekter Gäste.

Singend verlangten sie: Brot.

Passagiere glaubten an eine Revolte an Bord und flüchteten in ihre Kabinen.

Der Kapitän kam dieses Mal, vernünftig redend, angerannt: das Ganze sei ein Irrtum, man würde uns zu essen geben, wir hätten ein Recht auf die Matrosenration...

Wir waren nicht schwierig und riefen deshalb: Hoch lebe der Kommandant!

Aber beim Rückzug in unsere Quartiere blieben die Emigranten ausgesprochen höhnisch und ihre Hurras dauerten auf ironische Weise an.

Seltsamer Menschenschlag, diese Piemontaner, die mit ihrer spöttischen Zutraulichkeit, ihrer sorglosen Kühnheit die Welt als Söldner - condottieri der Arbeit - bereisten.

Es gibt Tausende, die so sind. Ihre Hände wurden in ihrer Heimat nicht mehr gebraucht; dort zu leben, war unmöglich geworden: es gab dort keine Arbeit! Sie gehen fort und suchen auf gut Glück einen Brotverdienst.

Sie sind es, die sich dann in die Passagierdampfer zwängen, um nach Südamerika zu reisen. Sie sind es, die kühne Pioniere werden und die Baustellen der Eisenbahnlinien bis in die Ebenen Afrikas bevölkern. Und dieselben sind es auch, die während bestimmter Jahreszeiten in Belgien, Deutschland und Frankreich die härtesten Feldarbeiten ausführen.

Die seßhaften Arbeiter mögen diese Abenteurer ohne Gewerkschaften und ohne Tarife nicht.

Sie drücken die Preise.

Aber wer sind indes die Schuldigen? Immer die Herren, die Chefs, die die Situation, in der sich die Ausgehungerten befinden, ausnützen: entweder akzeptieren sie den kläglichen Lohn oder sie sterben des langsamen Hungertodes.

Der Lebenserhaltungstrieb ist stärker als jedes Gefühl für Solidarität. Das ist normal - sie nehmen die Arbeit an. Das Schikanieren beginnt: dreckige Italiener! Makkaronis! Und weil sie sich nicht ungestraft verprügeln lassen, wird ihnen vorgehalten, daß sie Messer tragen.

Diese Messer sind nützlich.

In dem Augenblick, in dem man sich der bürgerlichen Ausbeutung unterwirft, in dem man arbeitet, ist man heutzutage zwangsläufig den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterworfen.

Die Höhe des Lohns ist nicht erzwingbar.

Man muß leben.

Es ist auch nicht erniedrigender, sich für drei Francs zu verleihen als für sechs.

Ich habe eine Vorliebe für Lazzaroni und die Abtrünnigen jeder Art, für alle, die nicht dazu beitragen, diese Maschine in Gang zu halten, in deren Räder ich jederzeit nach Belieben Stöcke werfe.

Aber weil die Resignierten in dieser Gesellschaft zahlreich sind, und weil man nur Tarife diskutiert, haben alle umherirrenden Piemontaner ein Recht darauf zu verhandeln, wie es ihnen beliebt.

Das ist sogar ein letzter Beweis von Stolz, dieses Recht mit der Klinge in der Faust zu verteidigen.

Während der Quarantäne kam dieser Charakterzug der Emigranten in vielen Geständnissen zum Ausdruck - und war mein bevorzugtes Studium.

Ich schätze die wilde Seite ihres Individualismus.

Sie sind die Samen der Revoltierten.

Wir verstanden uns gut.

Am Vortag unseres Abschiedes, als wir nach Patras weiterfuhren, feierten wir gemeinsam einen soliden Festschmaus mit Polenta.

Nachtasyl

Gegenüber von Missolonghi liegt Patras, in einen Dunstschleier gehüllt, bunt in der Sonne schillernd, am Fuße der Berge.

Nicht weit ab vom Markt stößt man auf einem kleinen Platz in der Nähe des Hafens auf das geschäftige Treiben eines Sonntags: europäischer Kleiderschmuck in grellen Farben und anachronistischen Moden. Die Leute kommen aus der Kirche. Man betrachtet die schönen, unter den Gewölben ihrer Hüte fremd wirkenden Gesichter der Frauen und alte Griechen in ihrer Nationaltracht, bekleidet mit kurzen Faltenröcken, wie sie auch von Tänzerinnen getragen werden. Das Ganze bildet einen sich wie auf einem Karussell drehenden, bunt schillernden Menschenstrom auf dem kleinen Platz mit seinen drei staubigen Palmen.

Auf der Terrasse eines Cafes mit maurischem Charakter, wo Anis- und Mastixlikör neben Untertassen mit Oliven auf kleinen, niedrigen Tischen serviert wurden, gab ich mich bereits andächtig meiner ersten Wasserpfeife hin.

Der helle Tabak verglüht langsam in einem Pfeifenkopf aus roter Erde unter parfümierter Holzkohle, während in der kupferbeschlagenen Karaffe das Wasser mit phantastischem Glucksen schnurrt. Die Wasserpfeife steht hieratisch da, während sich der lange, in dreieckigem dunklen Bernstein auslaufende Schlauch wie die Ringe von einer heiligen Schlange ausrollt...

Das ist etwas anderes als die Stummelpfeife.

Was ich hervorheben will, ist, daß von dekorativer Sicht aus zwischen den Menschen dieses Landes und den Bewohnern des unseren ein entsprechender Gegensatz besteht. Diese Griechen haben noch Zeichen von Rasse. Selbst der geringste Truthahntreiber hat die angeborene vornehme Haltung, die unsere feinen Herren erfolglos suchen. Mit der Feinheit seiner Gesichtszüge hat sogar der Bauer diese Spur von Aristokratie beibehalten, die gebieterisch die glorreiche Linie der Ahnen zum Ausdruck bringt.

Dieser Stolz im Ausdruck, diese Zwanglosigkeit in der Haltung erklären diese Lässigkeit, auf die man bei den alltäglichen Tätigkeiten stößt: der Handel ist keine Leidenschaft mehr wert, die Landwirtschaft ist phantasiereich. Ich habe auf den Feldern in der Wahllosigkeit barbarischer Furchen miteinander vermischt Salat und Rosenstöcke, Kartoffeln und Lilien gesehen.

Der Zug nach Athen, den ich an einem klaren, sonnigen Morgen nahm, hielt an allen Stationen entlang dem goldenen Ufer.

Unablässig stiegen Leute vom Land ein, nahmen, um die Zeit der kurzen Fahrt zu überbrücken, trockenes Brot und Ziegenkäse zu sich, stiegen aus und wurden von anderen abgelöst: Popen, langhaarige Bettler, füllten zwischen zwei Dörfern ihre Taschen und Bettelranzen und schlecht gekleidete Soldaten sangen mit näselnder Stimme sonderbare Redegesänge...

Die Touristen der Schlafwagen können sich nicht vorstellen, wie sehr ein längerer Aufenthalt in einem gewöhnlichen Bummelzug einen Eindruck von der Bevölkerung ermöglicht und eine gewisse Kontaktaufnahme mit ihr erlaubt.

Der Klephte fährt, um sich seinen Proviant an Pulver zu beschaffen, in die Stadt. Er scheint sich in einer Ecke des Zugabteils absondern zu wollen, - die Kolben seiner Pistolen hängen wie zwei Kommas an seinem ledernen Gürtel.

Er trägt den Burnus der Kabylen und ist, wie diese, kühnen Typs.

Man stellt immer mehr Ähnlichkeiten zwischen Griechen und Arabern fest.

Der freie Bergbewohner, Hirte, Jäger oder vielleicht sogar einer, der von herumspazierenden reichen Leuten indirekte Steuern einzieht, hat die ruhige Würde eines Kadi nach einer Razzia.

Dann konnte ich in der vollkommen dürren Landschaft Megara, dessen Häuser Hüttenlager aus roter Tonerde sind, erkennen. Zwischen den verbrannten Bäumen könnte man glauben, es sei eine Oase in der Sahara.

Dann ändert sich die Szenerie.

Hinter einem Hügel taucht Athen auf: der Felsen der Akropolis und der Sockel des Parthenons dominieren die stillosen Gebäude einer Provinzstadt, deren Straßen in geometrischen Linien angelegt sind.

Das Parthenon hebt sich mit der Tadellosigkeit seiner hellen Säulen hervor und die Akropolis erscheint als letzte Festung einer prachtvollen Vergangenheit, die stolz auf die modernen Anstrengungen herabblickt, die an ihrem Fundament nagen.

Nicht etwa, daß ich die Überreste einer untergegangenen Welt hochpreisen möchte, aber ich sage mir, daß unsere Welt nichs als Abfälle überliefern wird!

Ich teile den gerührten Respekt der wissenschaftlichen Archäologen vor den antiken Bausteinen nicht. Das Stadion weckte in mir Erinnerungen; der Illissos ließ mich, mehr als an die Argonauten, an das Gymnasium, die Schularbeiten und Schulaufseher denken.

Das Gymnasium! Das erste Gefängnis, das Bett des universitären Prokrustes, Training für die Kasernen, die kleine Gesellschaft, die so widerwärtig ist, daß die Gesellschaft in ihr keimen kann.

Wie soll man sich überdies auch absondem können, die Vergangenheit wieder aufleben lassen, sich Krieger und Kampfwagen in diesen Arenen... in der Nähe einer Straßenbahn vorstellen können? Wie soll man vom Heldentum träumen in diesen bei Ausgrabungen aufgetauchten Tempeln, in denen orthodoxe Wachskerzen andächtig angepinselte Heilige Jungfrauen als Vestalinnen haben?

Ich begleite die Engländer nicht, die mit einem Baedecker ausgestattet beim Anblick eines unförmigen Steinblocks in Ohnmacht fallen, nur weil diese Trümmer in ihrem Reiseführer katalogisiert sind. Sie verpassen kein einziges Wrack, keinen einzigen beschädigten Entwurf. Sie fahren mit ihren betastenden Fingern über die Mosaike der Thermen:

Sokrates hat sich hier aufgehalten!

Ich besuche die klinischen Museen nur sehr spärlich: ehrwürdige Bruchstücke von Statuen, Arme der Venus, Beine des Apollo und numerierte Rümpfe, mit einem Wort das ganze chirurgische Griechenland!

So sehr sich auch die Kunstwerke, deren wesentliche Harmonie erhalten geblieben ist, diese primitiven Kunstwerke, die in der Ästhetik der Synthese triumphieren, in meine Sinne einprägen, so sehr erscheinen mir die in einem berühmten Scherbenhaufen um die Wette stöbernden Liebhaber grotesk. Amphorenhenkel, Bruchstücke von Backsteinen, ärmliche Splitter hinter Vitrinen... das Betrachten eines Kieselsteins, der als ewiger Vagabund in einem Bach rollt, erweckt in mir mehr Gedanken.

Ich kam in bedrängter Lage in Athen an.

Ich hoffte, bei der Post einen Geldbrief vorzufinden. Aber nichts. Ich mußte einige Tage warten.

Melancholisch betrachtete ich an den Türen der Restaurants die in den erfreulichsten Posen grillenden Spanferkel und begnügte mich mit unbestimmten Portionen in vorstädtischen Winkelkneipen.

Habe ich sie genossen, die spartanische Kraftbrühe?

Auf jeden Fall habe ich mich der Philosophen erinnert, die einst in den Vorhallen der Tempel schliefen. Eines Abends bin ich auf das Parthenon gestiegen, um erst morgens wieder hinunterzugehen.

Um dem guten Ruf dieses Asyls ohne Gäste gerecht zu werden, muß ich sagen, daß man anstelle der Morgensuppe eine einzigartige Labung genießen kann: das zitternde Erwachen der blonden Landschaft zu Füßen des Hymettos.

Der Hund von Galata

Ich kann mir niemanden vorstellen, der Griechenland bereist hat und nicht weiter bis in die Türkei reisen will. Es ist immer unerfreulich, sich unendlich lange an einer Raststätte aufzuhalten oder kehrtzumachen, aber hier hieße das darüber hinaus, Tantalusqualen zu erleiden.

Griechenland hat einen diskreten Schleier zum Orient ein wenig geöffnet und man möchte den Vorhang herunterreißen.

Und das ist so leicht: ein Schiff verläßt dreimal wöchentlich Piräus in Richtung Konstantinopel, Es ist eine Sache von sechsunddreißig Stunden und fünfundzwanzig Drachmen.

Als ich die fünfundzwanzig Drachmen hatte, verfügte ich über sechsunddreißig Stunden.

Die Hauptstadt Konstantinopel breitet sich von der Einfahrt in den Bosporus aus weit über Asien und Europa hin aus. Sie bildet sich aus drei Städten: auf der asiatischen Seite Sutari, auf der europäischen Seite Galata und Pera mit ihren modernen Palästen und der ursprünglichen Stadt: Istanbul.

Istanbul! Das Schiff gleitet über das ruhige Meer, das die Gärten der Sultaninnen liebkosend umspült. Das ist die Spitze des Serails. Die Kakteen und Sykomoren schwanken sanft, wie große Fächer, und die sich aufrichtenden Minarette wirken in der Verweichlichung dieser geheimnisvollen Sinnlichkeit wie männliche Appelle.

Wir umfahren die „Spitze des Serails“, - ein Lotsenboot zeigt uns einen Weg zwischen den Dampfern, den Segelschiffen und den herbeiströmenden türkischen Barken. Unablässig stößt die pfeifende Maschine ihre keuchenden Signale aus und das Schiff hält schließlich vor der beweglichen Brücke des Goldenen Horns, die Istanbul mit Galata verbindet.

Galata, das ist die bewegte Stadt mit ihren Expeditionsbüros, den Hotels für arme Passagiere, den Spelunken für Matrosen, und den schlammigen Straßen mit ihren großen Wasserlachen, die man überspringen muß.

Das ist das Viertel der Schlachthäuser, wo man das Vieh nach den muselmanischen Riten abwürgt: darin ist etwas vom Priester und vom Metzger. Mit einer Geste seines harmlosen Säbels führt der Offiziant einen Scheinstich aus, während seine Gehilfen mit Seilen das Rind zu Boden werfen, ihm den Kopf nach hinten drehen und die schnelle Klinge eines Messers die Halsarterie durchsticht, die das Blut hervorspritzen läßt: schließlich balgt man das Vieh ab und zerschneidet es in Stücke, noch bevor es tatsächlich tot ist. Schon kommt ein anderes, von Männern mit rotbefleckten Lederschürzen gestoßenes und gezerrtes Vieh taumelnd an, stolpert und wird nach einer neuen Geste des Offizianten über das schon abgeschlachtete und noch zappelnde Vieh abgebalgt: etwas vom Priester und vom Metzger.

Galata, das ist das brutale Stadtviertel, in dem die sträunenden Hunde noch magerer sind.

Fast jede Straßenkreuzung hat seine angestammte Meute, die es nie wagt, in einer der benachbarten Straßen zu streunen.

Aber nachts hört man dann das langanhaltende Bellen auf den Vorposten, an den Randbezirken von Pera, dem höhergelegenen reichen Viertel. Heulen die Unterernährten von Galata gegen andere, an den Toren der luxuriösen Häuser mit überreichlichen Speiseresten ausgestattete Hunde?

An einem Freitagvormittag geriet ich, nachdem ich mich vor der Banalität der Kaufhäuser von Pera ziemlich gelangweilt hatte, in die Nähe des Palastes des Sultans.

Das war der Tag und, weil es Mittag läutete, auch der Zeitpunkt des Selamlik. Der Chef der Gläubigen begab sich in die Moschee und man konnte ihn für einen Augenblick hinter dem Spalier seiner Soldaten sehen.

Der Palast ist nur hundert Meter von der Moschee Hamidie entfernt. Von der Höhe des Minaretts herab rief ein Muezzin mit zum Himmel gestreckten Armen zum Gebet.

Abdul-Hamid erscheint in seinem halboffenen Wagen. Der Sultan ist mit einem schwarzen Gehrock ohne Dekoration und ohne Zeichen bekleidet und trägt einen Fes, dessen gewollte Schlichtheit einen Kontrast zu den Paschas in ihren von Goldstickerei starrenden Gewändern schafft, die einen von Brokat und Gold glitzernden Festzug bilden.

Drei laute, langanhaltende und klagende Schreie grüßen Seine Allmächtigkeit.

Aber Abdul-Hamid hat bereits seinen Wagen verlassen und schreitet die drei Stufen zur Moschee hinauf...

Nach der Andacht erscheint der Sultan wieder, hält selbst die Zügel der beiden weißen Rosse, die aufstampfen und schnell dem Palast zutraben. Die Masse der Zeremonienmeister, feiste Paschas, rennen atemlos, von ihren Degen behindert, im Flimmern des Geschmeides hinterher. All die glänzenden Uniformen stoßen aneinander, behindern sich und halten eine demütige Distanz zu dem Herrn im Gehrock... das Ganze erscheint wie die Farce eines plebejischen Kaisers.

Kann man bei Wanderungen in Istanbul einen ottomaneren Eindruck bekommen?

Ein Schiff fahrt uns am Goldenen Horn entlang bis in die süßen Gewässer von Eyoub, dem Dorf der Toten: weiße Steine und Zypressen längs der Straßen, auf denen nur selten Passanten zu sehen sind, Gräber, die sich auf eine Art und Weise zwischen die Häuser zwängen, daß man glauben könnte, man hätte einen makaberen Recken auf einen großen Friedhof gebaut.

Von Eyoub aus muß man ganz Istanbul durchkreuzen, um zur Hagia-Sophia und zum Basar zu gelangen. Zunächst kommt man in ein schmutziges Ghetto mit verfallenden Gemäuern, eine Art Leprastation, in die die Türken die Juden eingepfercht haben. Dann höhlenhafte Wege, Treppen, man steigt nach oben und die Luft wird in der Nähe der Moscheen reiner. Unten das verborgene Leben, hier das vertrauliche Geheimnis der unzulänglichen, verschlossenen Wohnungen: man ahnt hinter den vergitterten Fenstern die eifersüchtigen Freuden des Harems.

Auf den Straßen sieht man kein Frauengesicht, die Musselinschleier der Jaschmaks lassen nur große Augen verschwommen erkennen - das Raffinierte ist, daß man die Lippen versteckt.

So gibt es noch mehr zu entheiligen.

Ist denn die Scham etwas anderes als subtile Verderbtheit?

Die Gemüsehändler und Hühnerverkäufer stehen im Wind auf den Plätzen. Breite Sonnenschirme aus grobem Leinen schützen die hohen Stühle, auf denen sich die Verkäufer und die Lastträger rasieren lassen. Im Laden des Metzgers werden vor allem gekochte Schafsköpfe verkauft. Auf den Feinschmeckertischen der Milchverkäufer stehen die Becher mit Mandelmilch, Honig und Loukoum.

Alle Männer, welche Tracht, ob europäisch oder türkisch, sie auch tragen, sind mit dem roten Fes mit schwarzem Troddel bekleidet: man sieht keine Hüte.

Vor den Moscheen, deren Kuppeln alle mit emporragenden Minaretten versehen sind, vor Schah-Sadeh, Soleimanie, auf der Schwelle der Hagia-Sophia ziehen an dem Brunnen, auf den sich die vertrauten Tauben stürzen, die Gläubigen ihre Schuhe zur reinigenden Waschung aus.

Der große Basar ist ein Irrgarten von Galerien, eine überdachte Stadt oder ist es nicht eher wie ein riesiger Tempel des Handels? Mit tausend Kreisgängen, fast so groß wie Boulevards, vielen düsteren, abgewürgten Sackgassen und überall ohne Unterbrechung winzige Lager, Tresen, enge Läden und ein emsiges, eingeweihtes Volk.

Alles ist zu kaufen: von den reichsten Stoffen aus Armenien und Bagdad, Diamanten vom Cap, Parfüms, reinen Essenzen in edelsteingeschmückten Zierfläschchen, bis hin zu den gewöhnlichen Kurzwaren und den türkischen Artikeln der Pariser Bazare.

Inmitten der damaszierten Waffen, der in Gold eingelegten Dolche, der langen Gewehre mit edelsteingeschmückten Kolben werden kleine Kindersäbel für 95 Centimes angeboten.

Draußen, in den angrenzenden Straßen, die wuchernden Auslagen, die Stände der Trödler, in- und aufeinander geschachtelte Nischen wie in einem Patiencespiel.

Und in unmittelbarer Nähe der kleinen Handelsstände, ein Lager aus Holzbaracken, in denen so viele Familien wohnen, der ewigen Sorge um eine Zigarette ausgeliefert, die unausgelöscht zufällig hingeworfen wird - all die den Flammen geweihten Hütten.

Eines Nachts kam der Nachtwächter, der mit seinem schweren Stock auf das Pflaster schlägt, um die Stunden anzuzeigen, schlug sehr schnell und schrie sehr laut. Auf seinem Weg kam ein Geschrei in der Straße auf und wurde vom Echo wiederholt: es brennt in Istanbul. Zum Brand, zum Brand! Von allen Seiten kommt eine brüllende Menge angerannt.

Von Galata geht’s im Laufschritt auf die Brücke des Goldenen Horns - ich folge ihr im Schein der voranspringenden Fackeln.

Ein unheilverkündender Lichtschimmer scheint wie ein Nordlicht genau über dem Bazar auf.

Das Gerenne geht weiter, die weniger Robusten bleiben schwarmweise zurück, es geht durch tückische Schlammlöcher der gewundenen Straßen in die Richtung der Feuersbrunst.

Eine ganze Siedlung aus Brettergebäuden brennt heillos nieder.

Dem Feuer fällt heute Nacht ein Häuserblock zum Opfer: aber morgen?

Man kam sogar von Scutari aus über den Bosporus herübergelaufen, denn Scutari ist ebenfalls eine Anhäufung von Wohnungen, die zum größten Teil aus Holz sind. Das ist die Schwestersiedlung von Istanbul.

Die Funken fallen in Garben aufs Pflaster und Rauch wirbelt auf.

Mit Stockschlägen drängen die Polizeioffiziere unvorsichtige Neugierige zurück.

Der Brand wird stärker.

Die zu kurzen Wasserschläuche der Pumpe funktionieren genau so schlecht wie immer und freiwillige Feuerwehrmänner, die städtischen Wasserträger, gießen die Ironie einiger Wassereimer auf die Glut.

Ach! diese Feuerwehrleute. Ich habe welche im Morgengrauen gesehen, als die Glut mangels Brennbarem zu Asche wurde, ich habe sie nicht etwa mit leeren, sondern mit - mit Beute möchte ich sagen - gefüllten Eimern fortgehen sehen.

Die Bevölkerung läuft zum Feuer und verliert dabei nicht immer seine Zeit: Solidarität, Plünderung!

Seltsames Land mit widersprüchlichen Eindrücken.

Die Türkei ist paradox.

Das ist die absolute Autokratie und der Sultan trägt statt einer Krone den demokratischen Fes.

Subversiven Philosophien wird der Weg durch einfache Tatsachen freigelegt.

Konstantinopel, in dem Tausende von Hunden streunen, kennt noch keinen Fall von Tollwut. Der magere Hund von Galata hat bislang noch niemanden gebissen. Und warum?

Er hat keinen Maulkorb und keinen Herrn!

Ein Spion

Trotz der eher selten um den Fes gebundenen Turbane und der diskreten Jaschmaks der Frauen entspricht Konstantinopel mit seinen schlammigen Straßen nicht dem Orient, den man sich vorgestellt hat.

Es ist der Osten Europas und weiter nichts.

Sollte die asiatische Türkei anders sein? Ganz sicher – mit Damaskus und Jerusalem, obwohl diese Nekropole spezielle Erinnerungen hervorrufen.

Aber wahrscheinlich tritt die eigentliche warme Erscheinung des Orients erst an den vom Indischen Ozean umspülten Ufern hervor.

Bevor ich Konstantinopel verließ, wollte ich mir den Bosporus ansehen und - als wohlwollender Tourist - meine Hände ins Schwarze Meer tauchen.

Der Bosporus liegt wie ein breiter Fluß, und manchmal an einer brüsken Biegung wie ein See, ein von üppigen Hügeln umgebener Talkessel, ausgebreitet da.

Die Dörfer, die am Weg liegen, Therapia, Bujukdere, Kavaka, sind eine von der Sonne beschienene wahre Freude im Grünen.

Kavaka in Anatolien ist die letzte Ortschaft auf der asiatischen Seite vor den Ausläufern der Meeresenge. Die Cholera, die zur Zeit in Trebizonde wütet, zwingt allen, die vom Schwarzen Meer her kommen, eine Quarantäne auf: weiter als nach Kavaka zu reisen, würde bei der Rückfahrt einen Lazarettaufenthalt bedeuten. Das Schiff fährt nicht weiter.

Zu Lande, auf den Straßen, oder eher auf den Wegen im Gebirge, die zum Meer fuhren, hat man einen von Soldaten bewachten sanitären Gürtel gezogen.

Hier heißt es nicht nur, daß man die Quarantäne nicht durchbrechen darf, sondern dieser besonders befestigte Ort ist außerdem ein strategischer Punkt, den die Türken eifersüchtig bewachen.

Ich wollte aber dennoch gerne passieren...

Dieser Wunsch, für einen Augenblick, bevor ich kehrtmache, die sandigen Ufer des Schwarzen Meeres zu betreten, ist zweifellos eine Kinderei. Mich hat er tyrannisch erfaßt. Und da die Wege, bis auf einen Hohlweg, der als ungangbar bezeichnet wird, bewacht sind, nehme ich den Weg des Gewitterregens.

Der steile Abhang ist wie geätzt, die verkrümmten Bäumchen sind ein unsicherer Halt, ich gleite aus, halte mich an Ästen fest, setze meinen Fuß auf Gestein, das sich oft, um mich zu begleiten, zu höflich losmacht. Nach einer halben Stunde abwechslungsreicher Gymnastik mit Abspringen, Zerkratzen und Zerreißen verspüre ich, in der Talschlucht angekommen, eine positive Erleichterung.

Dieses angenehme Gefühl hält nicht lange an: Ein Posten steht mir gegenüber, hält mich an, schreit und kreuzt das Bajonett.

Auf sein Rufen hin kommen aus einer naheliegenden, im Unterholz versteckten Hütte andere Soldaten angelaufen.

Das ist der Alarmzustand eines Postens.

Ich kann mich nicht verständlich machen.

Man nimmt mich fest.

In Konstantinopel, wohin man mich mit starkem Geleit zurückbrachte, gibt man mir, ein paar Stunden später, unerwartete Erklärungen: ich hätte versucht, die Wachsamkeit der mit der Bewachung eines Pulverturms des Roumeli-Fortes beauftragten Männer zu täuschen.

Mein Ziel? Spionage!...

Spion! Und darüber hinaus russischer Spion, bitte sehr.

Ich würde mich jetzt noch amüsieren, wenn es sich dabei nicht um die Ursache meines Mißgeschicks gehandelt hätte, welches mir, um diese Zeilen zu schreiben, die Freizeit des Gefängnisses verschafft hat.

Nachdem man mich mit einiger Beharrlichkeit auf russisch verhört hatte, versuchte man es auf französisch und alles wurde klar.

Aber man forderte Papiere.

Ich wies überzeugend nach, daß ich mit der Regierung meines Landes so schlecht stand, daß man diese nicht verdächtigen könnte, mich mit Missionen zu beauftragen.

Nachdem mein Inkognito enthüllt, meine Identität aufgedeckt und zweifellos die Aufmerksamkeit des französischen Konsuls geweckt war, hielt ich es für besser, meine Abreise zu beschleunigen. Ich nahm das erste Schiff, welches die Levante anlief. Ich hatte vor, nach Jaffa zu reisen, um von dort aus auf dem Landweg Palästina zu besuchen.

Ich hoffte, die geweckte, unliebsame Aufmerksamkeit noch besser in die Irre führen zu können, indem ich ostentativ meinen Platz für Jaffa reservierte, wohin ich mich aber nicht unmittelbar begab. Tatsächlich ging das Schiff, welches ich auswählte, zunächst in Mytilene, Smyrna, Chio, Rhodos, Zypern, Beirut vor Anker und hatte Anschluß zu anderen Dampfern, auf denen meine Fahrkarte einen Monat lang gültig war.

Ich würde diese Gelegenheit zur größten Freude meiner in bewegte Horizonte verliebten Reise nützen.

An Bord waren das Vorderdeck, die Brücke und das Zwischendeck von Türken in Beschlag genommen, deren überhandnehmende Smalas[6] sich auf Matten, Teppichen und Matratzen ganz nach ihrer Laune ausbreiteten, um die Inbesitznahme der Ligerstätte eines jeden durch die Abgrenzung mit Koffern unter Beweis zu stellen.

Das Schiff quoll im wahrsten Sinne des Wortes von einer hitzigen Bevölkerung über, die sich in einem Gemisch von Farben und Gekreische einrichtete.

Ein sehr schmaler Durchgang wurde freigehalten und trotzdem mußte man aufmerksam den Fußhaken stellenden Hindernissen ausweichen.

Ich suchte einen kleinen Platz für mich, um meine Decke für die Nacht auszubreiten.

Das war nicht leicht. Die Versammlung schien Roumi-feindlich[7]. Ich hatte einen lärmenden Erfolg, als ich mich kühn auf einen engen Platz zwängte, den man zwischen einem feierlichen Rabbi mit Korkenzieherbart und drei schönen und verschüchterten Armenierinnen freigelassen hatte...

Sie ließen sich nur langsam zähmen.

Und, um nichts zu überstürzen, vermied ich es zunächst, sie allzusehr anzusehen.

Stehend betrachtete ich von meinem eroberten Platz aus andere Launige: die Wellen.

Bei der Ausfahrt aus dem Marmarameer strotzt die Dardanelle von Befestigungen und Kanonen, wie auf der anderen Seite von Konstantinopel Kavaka, ein bewaffnetes Beobachtungsschiff auf dem Schwarzen Meer. Wir passieren Tenedo. Wir streifen Mytilene (einst Lesbos), das mit dem Alter tugendhaft geworden ist, und das ist viel weniger pittoresk.

In Smyrna habe ich einige Tage verbracht.

Moscheen und Bazare, ein verkleinertes Istanbul, aber mit einer Besonderheit. Auf den Straßen aus breiten Steinplatten sieht man den schreitenden Rhythmus der Kamele.

Die Stadt, deren Häuser mit roten Ziegelsteinen gedeckt sind, ist nur wegen des alten Schlosses sehenswert, das sie überragt: das Castel dei Genovesi, eine prächtige Ruine mit Türmchen wie vom Blitz getroffen.

Es kamen dann Chios, Samos und die Inseln, die Inselgruppen, die so aussehen, als ob sie durch große Mühlenarme mit weißem Segeltuch miteinander in Verbindung stünden.

Rhodos, von gezackten Mauern umgeben; die verschlossene Stadt liegt wie eingeschlafen hinter ihren spitzbogenförmigen Toren; die Ritterstraße, deren Häuser mit Chimären verzierte Wasserspender haben und auf den Fassaden Wappen und Sprüche, das Kreuz Jerusalems und Maltas. Wenn der Orden Spuren hinterlassen hat, wird die Geschichte zur Legende über den berühmten Koloß: man weiß nicht einmal, wo er die ehernen Füße hinsetzte.

In Zypern haben die Kriegsmönche nur wenig Andenken hinterlassen, es sei denn, man wolle die granatroten Komtureiweine als solche bezeichnen.

Kein Nachklang der Vergangenheit.

Keine lokalen Eigentümlichkeiten - die Engländer haben sich eingebürgert.

Man trifft rote Waffenröcke, die Straßen heißen „Street“ oder „road“ und ein Fahrrad hat mich aus meiner Träumerei gehupt!

An einem der darauffolgenden Morgen hielt das Schiff vor Beirut.

Die kupfer- und goldfarben glänzende Sonne ging über dem verschneiten Libanon auf. Als ich meine Füße aufs Land setzte, war ich immer noch wie geblendet. Bald wurde aber das Auge wieder lebendig in dem Licht, dessen Glanz durch die quer über die Straßen gespannten Leinen gedämpft wurde. Unter den steinernen Arkaden in den Gassen war es frisch und schattig – frisch wie in einem Keller, im feuchten und grünen Schatten eines bemoosten Gewölbes.

Das ist im Viertel von Alt-Beirut.

Es gibt aber auch die moderne Stadt, über die nichts zu berichten ist - ein Unterpräfekturplatz mit einem Musikpavillon und die Straße dehnt ihre verstaubte Schleife nach Damaskus aus...

Leider mußte ich allzu schnell zum Schiff zurück, andernfalls hätte ich eine Woche lang auf den nächsten Dampfer warten müssen: immer noch die Piasterfrage!

Ein schlecht versorgter Spion!

Je mehr ich mich dem Ziel näherte, desto ungeduldiger sehnte ich mich übrigens danach, in Jaffa zu landen und die Umgebung von Jerusalem auskundschaften zu können.

Ich Konsul

Jaffa!

Während die Anker geworfen wurden, kam eine kleine Rotte von robusten Booten an den Dampfer herangerudert.

Die kleine Rotte tanzte auf der launischen, rollenden See.

Die Boote manövrierten sich möglichst nah an das Schiff und die Fährleute schrieen, gestikulierten und gaben sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit der Passagiere am Bug auf sich zu lenken, dieser guten Jerusalempilger, die als unerfahrene und wenig gelassene Reisende schon ihre Beförderung an Land aushandelten.

Nach der Ankerung und dem Hinablassen des Fallreeps wurde dann das Schiff im ganzen gewalttätigen Sinne des Wortes geentert: es war wirklich so, als ob Seeräuber es gestürmt hätten.

In einem großen Durcheinander stürmten die Fährleute das Deck; diese langen, sonnengebräunten Burschen mit hellen Anzügen und nackten Beinen schwärmten in alle Richtungen aus, rissen das Reisegepäck mit Gewalt an sich und nahmen die Passagiere in Beschlag, indem sie sie an den Kleidern packten, sie mitschleiften und sich um sie rissen. Jeder schimpfte und versprach, billiger zu sein als sein Kollege, so daß die sanften Pilger ganz verwirrt und bestürzt waren.

Ich konnte Zusehen, wie ein ehrwürdiger Pope aus Odessa, der seinen jungen Sohn mit den Armen umschlungen hielt, ob er wollte oder nicht zu einem der Boote mitgerissen wurde, während man seine Frau gewaltsam in ein anderes brachte und seine kleine Tochter, die vor Angst einen blutroten Kopf hatte, in einem dritten herzzerreißend schrie...

Der Kommandant blieb ruhig mit einigen privilegierten Passagieren der ersten Klasse auf der Brücke und lächelte. Das Schauspiel amüsierte ihn sehr:

Die armen Leute wurden verladen.

Ich hatte mich in ein Boot geworfen, das die gewinnsüchtigen Fährleute weiter beladen wollten, obwohl es jetzt voll war. Wir waren aber von den Wellen so durcheinandergeworfen, daß sie sich doch entschlossen abzuhauen.

Fünf aufrecht stehende Männer ruderten rhythmisch mit den breiten Stangen, begleitet von einer Art kehligem Gesang, der manchmal wie ein wilder Notruf klang, wenn größte, von weit hoch herunterfallende Wogen uns in tiefste Abgründe stürzten.

In diesem heftigen Schaukeln versuchte der Bootsbesitzer, uns zu prellen: unter dem Vorwand des schweren Wetters wollte er uns den doppelten Preis bezahlen lassen und zwar sofort. Er ging sehr gewandt von einem zum andern. Eine einzige falsche Bewegung hätte genügt, und wir alle wären gekentert. Einige Wochen vorher waren achtundzwanzig Personen dort - auf diese Weise - am Klippengürtel ertrunken.

Jaffa kündigte sich als ein eher ungastlicher Ort an.

Endlich erreichten wir die steile Küste.

Ich sprang aus dem Boot.

Kaum hatte ich den Fuß aufs Land gesetzt, als ungefähr zehn Männer - Türken und Levantiner - mich umstellten und aufforderten, ihnen zu folgen.

Wohin? - Das würde ich schon merken. Ich zögerte. Sie packten mich.

Es wäre kindisch gewesen, Widerstand zu leisten. Die türkische Polizei um Hilfe rufen? Sie stand billigend da und war sogar bereit, diesen Leuten Beistand zu leisten.

Ich ging also in der Mitte dieses sonderbaren Geleits durch die steilen, engen Straßen bis zur Oberstadt.

Letzten Endes - was hatte ich zu befürchten? Alles würde sich aufklären. Bloß ein zusätzliches Abenteuer - vielleicht diesmal ein lustiges.

Als wir vor einem großen Gebäude angekommen waren, auf dem die französische Fahne flatterte, sagte man zu mir:

„Hier ist es, kommen Sie, das ist das Krankenhaus!“

Es war tatsächlich das Krankenhaus. Eine offensichtlich im voraus benachrichtigte Schwester hieß mich im Sprechzimmer willkommen, wo sich schon der Anstaltsgeistliche und ein Dominikanermissionar befanden, der mit seinem Fes und seinem weißen Kostüm mit den schweren Falten edel wie ein Kalif aussah. Sie sagten: „Guten Tag!“ und ich wartete in der Stille dieser Inszenierung, die meine Neugier stark entfachte.

Wie ein Wirbelwind kam jemand herein, mit einem goldbestickten Barett auf dem Ohr und einer Hundepeitsche in der rechten Hand:

„Ich Konsul verhaften Sie!“

All das war einfach verrückt. Was? Sollte dieser vor mir gestikulierende Halbwilde, diese groteske Erscheinung, Frankreich vertreten?

Unser Konsul sprach also nicht einmal meine Sprache...

Ich wurde auf Kauderwelsch festgenommen.

Und warum wurde ich verhaftet? Warum nahm man mich dort fest - kurz vor Jerusalem?

Das erklärte mir der Mann in seinem radebrechenden Dialekt: er habe Anweisungen.

Alle Konsuln der Levante hätten den Befehl bekommen, meine Person festzusetzen.

Meine Ankunft sei angekündigt worden.

In Port-Said, in Alexandria oder in den Barbareskenprovinzen wäre mir dasselbe passiert: man hätte meinen Steckbrief. Man wüßte weiter, daß ich wegen Anstiftung zum Mord verurteilt sei:

„Sie, großer böser Mensch!“ war sein Schlußwort.

Vertrauen haben nur die Narren

Laute, bewaffnete Kerle mit vielen Tressen kamen herein.

Aus dem Sprechzimmer, in dem der einheimische Konsul mir meine Festnahme bekanntgegeben hatte, wurde ein Polizeirevier.

Der Missionar und der Geistliche blieben stillschweigend und verlegen stehen - als bestellte Zeugen. Ich gratulierte ihnen zu dieser Rolle. Das - vielleicht subventionierte? - Krankenhaus sei für einen Hinterhalt geeignet...

Kawasse[8] und Drogmans[9] in Paradeuniform, diese Art Janitscharen der Konsuln, kamen zu mir und durchsuchten mich.

Geld und Personalien, Briefe von Freunden und Reisenotizen wurden mir abgenommen; man entriß mir meine Reisetasche und zwar mit solcher Brutalität, daß ich einen Augenblick die Geduld verlor und einen Drogman mit einer Ohrfeige zurückdrängte.

Die darauffolgende Rauferei war für meine Kleider ziemlich grausam sowie für meinen Hut, den sie deformierten; auch eine gute Handvoll Haare verlor ich dabei. Die Leute des Konsulats schleppten mich durch die Krankenhausgärten bis zu einem Pavillon, wo ich in einem fest vergitterten Raum eingeschlossen wurde.

Der sonderbare Diplomat mit dem lustigen Jargon kam hinter die Gitter, um mich zu verhöhnen: ich sei sehr im Unrecht, nicht zufrieden zu sein. Frankreich sei im Orient mächtig. Alles sei ordnungsgemäß. Ich sei gemäß guten, alten Verträgen festgenommen worden.

„Die Kapitulationen[10], erinnern Sie sich... ein Abkommen der Hohen Pforte mit dem großen Franyois dem Ersten.“

Vierzehn Tage blieb ich in meiner Zelle und wurde scharf im Auge behalten. Man hatte diesen Raum deswegen gewählt, weil man ihn für sicherer als das Gefängnis hielt.

Ich wurde auf eine schmeichelhafte Art mit einem großen Aufwand von Vorsichtsmaßnahmen umgeben.

Unweit von meinem Zimmer hatten die Janitscharen ihr Zelt aufgeschlagen und ich konnte ihnen zuhören, wie sie bis spät in die Nacht ihr eintöniges Lied sangen; ich konnte auch sehen, wie einer von ihnen mit gleißendem Säbel vor meinem Fenster auf und ab ging.

Manchmal erspähte ich unter den Palmen in den Gartenalleen eine weiße Haube, die schnell wieder verschwand. Man hätte glauben können, es seien große, durch Blicke verscheuchte Vögel.

Alle Tage waren gleichförmig und ohne die Illusion eines besseren Morgens. Mein Schicksal war leider allzu deuüich sichtbar - bald würde ein Schiff mich ohne weitere Umstände fortbringen.

Es war eine Auslieferung.

Wegen Pressevergehens ausgeliefert! Wegen Franpois dem Ersten!!

Und in Aussicht stand die Heimat, die mich wieder in ihre Arme schließen wollte - in ihre Gefängnismauern.

Die Flucht

Das Postschiff aus Frankreich war für den folgenden Tag angekündigt; es war aber so schlechtes Wetter, daß es Jaffa vielleicht nicht anlaufen könnte. Dann würde ich weitere vierzehn Tage unter der Obhut der Janitscharen verbleiben.

Es wurde Nacht, ohne daß der Wind sich gelegt hätte, der heulend die langen Stämme der Bananenbäume zerbrach, wie er es auf offener See wohl mit den Masten tat.

Trotz des Sturmes ging der wachhabende Türke weiter um den Pavillon herum - mit dem Säbel in der Faust.

Erst als um elf Uhr eine Regenflut niederprasselte, flüchtete sich der Wachposten unter das Zelt, in dem seine Kollegen mindestens zum zwanzigsten Mal die kleine Tasse dickflüssigen Kaffees leerten...

Dann machte ich mit einer dem eisernen Bett entnommenen Stange ruhig das Loch in der Wand wieder frei, wodurch wahrscheinlich früher ein Ofenrohr ging. Dieses Loch war nur schlecht geflickt. Ich vergrößerte es. Manchmal rollte etwas Schutt auf den Boden, aber der ununterbrochen niederfallende Regen, der gegen die Zeltbahn peitschte, machte meine Wächter taub.

Ich beeilte mich nicht, und hielt sogar ab und zu inne, um mir eine Zigarette anzuzünden.

Ich sah mir selbst bei meiner Flucht zu.

So ist es: die größte Belustigung im Leben ist diejenige, die man sich selbst gönnt - indem man sich sozusagen spaltet. Und ich dachte dabei an andere Fluchtversuche, ohne diese allzu tragisch zu nehmen. Vor allem war ich neugierig.

Ich hatte die Lampe heruntergeschraubt, so daß sie nur noch ein Nachtlicht ausstrahlte, und ging jetzt mit großen, entschlosseneren Schlägen auf die Öffnung los.

Die eiserne Stange benützte ich bald als einen Hebel und bald als einen kräftig stoßenden Rammbock.

Es gab ein riesiges Gepolter - eine Lawine von Kupfer und altem Eisen. Ich bin ertappt! Aber nein! Im Nebenzimmer hatte ein herunterfallender Backstein das ganze Küchengerät umgeworfen und trotzdem hatten sich die Männer im Zelt nicht gerührt.

Schon konnte ich meinen Kopf durch die gewonnene Öffnung wagen.

Das Nebenzimmer war eine Art Küche und Eßraum, in dem wahrscheinlich die Schwestern ihre Mahlzeiten einnahmen. Noch einige Anstrengungen und das Loch war breit genug, um mich durchzulassen.

Es konnte wohl eins sein.

Doch die Tür des Eßraums war zugeschlossen: ich war also nur von einer Zelle in die andere übergewechselt!... Glücklicherweise war eins der hohen Fenster nicht vergittert, so daß ich nur geräuschlos auf den eingeweichten Gartenboden hinauszuspringen brauchte.

Ach, wenn man zum erstenmal die frische Luft einatmet! Was für ein Gefühl der Freude trotz strömenden Regens! Und was für eine Art Erstaunen über den Erfolg. Ein übrigens noch nicht endgültiger Erfolg, da die Ringmauer eine stolze Höhe hatte.

Ich konnte mich in der Dunkelheit schlecht orientieren, die vielleicht durch den einzigen blassen Strahl der flackernden Lampe unter dem Zelt noch verwirrender war.

Im Finstern herumtastend, stolperte ich und blieb plötzlich stehen, ganz unbeweglich, zum Verwechseln mit den umherstehenden Dingen, ging dann doch weiter, kam zu einem Schuppen, wo Holz aufgeschichtet war. Ich kletterte darauf und konnte mit erhobenen Armen die Kante der Mauer erreichen.

Glasscherben machten meine Finger blutig; es gelang mir jedoch, mich hochzuziehen und ich lag bald auf der schmalen Kante langgestreckt, wobei ich mir Körper und Beine aufkratzte.

Fünf oder sechs Meter unter mir war die Straße...

Ich blieb im Regen liegen, wie zu einer Rast.

Das Krankenhaus hob sich durch seine gewaltige, dunklere Masse hervor, ich konnte immer noch den Pavillon erkennen, aus dem ich gerade ausgebrochen war, und weiter unten die Janitscharen, die unter dem Zelt in ermüdeten Haltungen kauerten.

Es war ein seltsames Schauspiel.

Dann blickte ich wieder auf den breiten, diskreten und stillen Weg. Fünf Meter! Ich mußte. Ich ließ mich also vertrauensvoll zu dieser Freundin herunterfallen - der großen Landstraße.

Ihr Empfang war hart: ich hinkte beim Aufstehen. Das gab sich aber bei den ersten Schritten.

Ich war frei.

Jerusalem

Ich irrte auf gut Glück durch die stürmische Nacht.

Ich ging sehr schnell, da ich manchmal zu hören glaubte, wie die Janitscharen mich verfolgten. Es war aber nur der Wind, der vom Meer blies, oder das Echo meiner eigenen Schritte in der schlafenden Stadt.

Ich durchstreifte Jaffa eilig und, während ich den Schatten der niedrigen Häuser suchte und die kurzen, steilen Fußwege und Gassen hinabeilte, hämmerte sich mir die Frage ein: was tun?

Allmählich heiterte sich der Himmel auf. Der Regen hörte auf. Der bleiche Tag brach an. Ich befand mich auf den steilen Felsen am Meeresufer und sah auf offener See zwei Schiffe liegen: einen französischen Dampfer und ein Segelschiff mit englischer Fahne. Das war meine Rettung. Aber es war kein Fährmann an der Küste zu sehen und die ersten einheimischen Bauern machten sich schon zur Arbeit auf. Es war ein bedrohliches Erwachen Was tun?

Ein Mann sprach mich an und ich verstand nicht, was er mir sagte.

Ich würde auffallen und man würde mich denunzieren; kein Europäer kann in dieser Gegend herumlaufen, ohne zwangsläufig die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Außerdem war jetzt zweifellos meine Flucht bemerkt worden. Die Jagd hatte schon begonnen.

Ich mußte fliehen und mich beeilen.

Ich ging den steilen Abhang der wie ein Amphitheater gebauten Stadt wieder hinauf.

Ich beabsichtigte jetzt, mich landeinwärts durchzuschlagen.

So könnte ich am Ende meines Tagesmarsches Jerusalem sehen und vielleicht würde mich unter diesem Himmel, an dem der Stern der Heiligen Drei Könige einmal geleuchtet hatte, das Schicksal zu einem unvermuteten Zufluchtsort fuhren...

Ich ging vorwärts.

Ich verwarf den Wunsch, den Jordan und jene Ufer des Toten Meeres zu sehen, wo einst Sodom und Gomorrha, die heruntergekommenen Gesellschaften, die ursprüngliche Propaganda der Tat über sich ergehen lassen mußten.

Würde ich wenigstens die Heilige Stadt betreten können?

Von ihr fühlten sich meine Energien wie von einem Magnet angezogen.

Ich ging hartnäckig auf ungewissen Wegen voran.

Und ab und zu empfand ich das Bangen der so nah vor dem Gelobten Land - vergeblich - vor Ungeduld vergehenden Hebräer.

Die Fahne

Als ich die letzten Häuser erreichte und gerade meinen Weg durch die weite Ebene aus feinem Sand auf der Karawanenstraße einschlagen wollte, begegnete mir eine Gruppe von Einheimischen, die mich mit mißtrauischem Blick betrachtete.

Sie diskutierten und ich konnte aus ihren Gesten erkennen, daß sie tatsächlich über mich sprachen. Nachdem sie ungefähr dreißig Meter weitergegangen waren, blieben sie plötzlich stehen.

Und ich konnte spüren, ohne mich umzusehen, daß ihre Blicke unverwandt auf mich gerichtet waren.

Nach kurzer Besprechung kehrten sie um und folgten mir schnellen Schrittes.

An der Fassade eines Hauses zeigte ein altes verfärbtes Wappen das englische Konsulat an. Die Tür war halb geöffnet.

Ich sprang hinein.

Es war höchste Zeit - die Leute kamen herangelaufen.

Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, stand ich vor einem ehrenhaften Semiten, der trotz der frühen Morgenstunde mit heftigen Hammerschlägen eine schwere Verpackungsarbeit verrichtete.

Sein mit einer Brille verziertes Gesicht blieb gelassen.

Ich entschuldigte mich.

Er führte mich in eine Art Büro, eine echte Rumpelkammer, die mit aufgerissenen Kisten, Registern und Ausschußwaren überfüllt war. An den weißgekalkten Wänden hing unter den von den Fliegen beschmutzten Preislisten und Schildern ein schreiendes Farbporträt der Königin Victoria.

Mein Gastgeber, der würdige Schieber, war der getreue Konsul Ihrer Gnädigsten Majestät.

Ich ließ mich ohne Begeisterung auf vertrauliche Mitteilungen ein.

Er schüttelte den Kopf und äußerte seine Meinung nicht.

Ich fuhr fort und erklärte ihm, dieser Winkel freies Territorium sei für mich der angebrachte Zufluchtsort. Es ginge um die britische Ehre.

„Wenn Sie etwas Geld hätten...“, gab er mir glattzüngig zu verstehen.

Da sein Kollege mir aber bis zu den Manschettenknöpfen alles abgenommen habe... Er könne nichts dafür, er fürchte sich vor dem Ärger. Außer dem französischen Dampfer, auf dem mein Platz reserviert war, gebe es wohl vor Jaffa ein englisches Schiff, das sei aber nicht praktisch. Und die Geldfrage tauchte wieder auf.

Er zappelte und machte ausweichende Gesten.

Er beehrte mich noch mit einigen undeutlichen einsilbigen Worten, ging dann in den Flur zurück, öffnete die Haustür und begann wieder, seine Kisten mit Nägeln zu beschlagen.

Kein Mensch schlich um das Haus - ein gutes Zeichen.

Es würde nicht unmöglich sein, mich bei hereinbrechender Nacht zu verkleiden und das englische Schiff zu erreichen.

Dann würde man sich mit dem Kapitän verständigen können.

Das Segelschiff, das wußte ich jetzt, sollte Orangen nach Glasgow verladen und Gibraltar anlaufen.

Spanien hatte großen Reiz für meine Fahrt ohne Reiseplan.

Trotz des zurückhaltenden Empfangs war ich entschlossen, hier auf die günstige Stunde zu warten. Die böse Miene des Händlers amüsierte mich letztlich. Mein Entschluß stand fest.

Ich ließ mich auf einer Kiste im unantastbaren Konsulat nieder.

Ich war müde und schlief ein.

Es war ungefähr acht Uhr, als ich durch laute Schreie aufgeweckt wurde. Der Konsul war verschwunden. Das Haus wurde von einer Bande von Türken in Burnussen überfallen.

Ich erkannte zwei meiner Wächter.

Die Bande schien von einem Drogman des französischen Konsulats angeführt zu werden, der zu diesem ruhmreichen Unternehmen eine breite Trikolore auf seinem blauen Anzug mit goldenem Litzenbesatz aufgesteckt hatte.

Ach, an entfernten Ufern die Nationalfarben Wiedersehen!

Das Weiß-Blau-Rot der Fahne! Die Ergriffenheit gewinnt Oberhand, die Augen werden feucht. Das ist die Beschützerin, die große Freundin.

Als ob man das eigene Heim Wiedersehen würde.

Zivilisation, Fortschritt, menschliche Rechte - stolze Erinnerungen. Das ritterliche Banner. Hoch die Herzen!

Laßt den Leierkasten spielen...

Das Geleier wird altmodisch. Bald werden die von der Cook- Reiseagentur herumgeschleppten Touristen die einzigen sein, die jene sonderbare Gattung Zweifüßler verewigen, denen die Trikolore Tränen in die Augen treibt. Mitten in den malerischen Landschaften und der Natur jetzt näher nehmen die Empfindungsfähigkeiten die Banalität der Fahne besser wahr. Für das Auge selbst ist sie eine Gegenfreude im Land der magischen Szenerien.

Es ist ein schreiendes Bild aus der „Epinal-Ästhetik“.

Nun, was das Herz betrifft - sprechen wir davon. Keiner der Landstreicher, die durch die Welt gehetzt werden, weil sie zu laut gedacht haben, ähneln dem Hund, der seine Prügel liebt. Sie sind erbarmungslos mit dem Stock der symbolischen Fahne geschlagen worden - und sie haben verstanden.

Und wenn sie die Fahne nicht auspfeifen, so nur aus Verachtung.

Zivilisation, Fortschritt, menschliche Rechte! Hier wurde das unantastbare Asyl verletzt. Das Individuum mit der Trikolore überfiel mich laut schimpfend; seine Helfershelfer packten mich und zerrten mich aus dem Konsulat.

Ich kämpfte nicht mehr, so sehr mir dabei übel wurde, und dachte: „Sei’s drum!“.

Die triumphierenden Frankotürken hetzten mich mit den Fäusten im Rücken. Wir stürzten und rutschten zum Ufer hinab.

Hinter uns wurde die Menge größer und, als wir bei den Booten anhielten, drängte sich die ganze Bevölkerung an der schmalen Küste.

Die energischen Handgriffe ließen mich nicht los, zwängten das Fleisch unter meinen Kleidern ein. Zehn Männer klammerten sich abergläubisch an mich, als ob ich dank irgendeinem geheimnisvollen Zauber noch einmal hätte entfliehen können.

Dann kam der französische Konsul, ganz außer Atem.

Sachkundig lobte er das Ganze und ließ mir noch dazu die Beine fesseln.

Worauf wartete man noch, um Schluß zu machen und mich an Bord zu bringen, so daß alles vorbei war?

Der Konsul wurde feierlich.

Man wartete auf etwas, das schon hätte hier sein müssen, das man aber zumindest in dem Boot sehen würde, das zum Abtransport des Flüchtlinges bestimmt war - auf etwas Unentbehrliches.

Etwas Offizielles.

Auf dieses Etwas mußte ich eine dreiviertel Stunde unter den Hohnrufen eines bunten Pöbels warten. Man hatte dieses Etwas von sehr weit hergeholt, vom anderen Ende der Stadt, vom Konsulat:

Es war die Fahne.

Für die Mörder

Ich war auf den Bootsboden geworfen worden.

Obwohl ich so gefesselt war, daß ich nur schwer atmen konnte, hatten mich die Drogmans noch zusätzlich an die kleine Bank gebunden. Ein hinten sitzender Kawaß hielt die Konsulatsfahne hoch, die sich gegen den Wind bäumte. Die kurzen, heftigen und trotzigen Wellen stießen gegeneinander und schlugen weiß an die rotgelben Klippen. Wir schaukelten zwischen den Felsriffen des Fahrwassers voran.

ln einem solchen Fall erblickt man, das kann ich garantieren, die: Klippen ohne Freude - so zusammengeschnürt wird man von einer dummen Ängstlichkeit erfaßt.

Außerdem hat diese Art, im Strick eingewickelt zu reisen, tausend und einen Nachteil, von denen der geringste darin besteht, auf die anderen... einen abscheulichen Eindruck zu machen. So sah mich die Mannschaft schief an, als man mich wie ein wenig zerbrechliches Paket an Bord des französischen Dampfers verlud.

Der Wachoffizier nahm mich in Verwahrung.

Mit einer echt militärischen guten Laune ließ er mich gleich losfesseln, gab die Fesseln ihren rechtmäßigen Besitzern zurück und begnügte sich damit, seinen Matrosen folgenden Befehl zu erteilen, indem er auf mich deutete:

„Legt dem da Ketten an!“

Es ist ein einfacher, netter Apparat: eine Stange mit zwei beweglichen Ringen, die als Fesseln für die Füße dienen. Wenn man solche Juwelen trägt, ist Liegen die angenehmste Position; es empfiehlt sich, sich rücklings auszustrecken, und jede weitere Bewegung zu vermeiden, die die Knöchelhaut wundreiben könnte. Was bei den Kipp- und Rollbewegungen des Schiffes nicht leicht sein konnte.

Vielleicht gewöhnt man sich daran?

Vorn auf dem Deck ging ich in diese Lehre.

Diese althergebrachte Qual mit der Stange wurde durch eine andere Art der ungemein modernisierten Pein noch vergnüglicher: Passagiere und Matrosen zogen neugierig um mich herum.

Sie behandelten mich wie ein in die Falle gegangenes Tier.

Sie nahmen mich in Augenschein und beäugten mich ausführlich. Ich war ihnen als Augenweide für ihre perverse Bosheit ausgeliefert. Das war mindestens der Pranger.

Mir tun die kläglichen Mörder leid, die in den überseeischen Städten geschnappt werden und für die diese gemischten Foltern die Regel sind. Was für eine verzweiflungsvolle Rückfahrt! Wie lang müssen ihnen die Tage unter den erbarmungslos prüfenden, schaulustigen Blicken werden! Wie stechend diese Stunden, in denen man nicht einmal Mitleid genug hat, um sie einen Augenblick allein zu lassen - allein mit ihrer Niedergeschlagenheit. Ach, warum verweist man nicht die Unglücklichen nach unten in den Frachtraum! Ein dunkler Kerker oder was man sonst will – nur nicht die angstvolle Kettenstrafe auf Deck. Warum, aber warum den qualvollen Weg zur Guillotine noch barbarisch verschärfen?

Natürlich verstärkte sich das unangenehme Erlebnis für mich nicht so sehr - ich kehrte nicht zurück, um Deibler ausgehändigt zu werden. Es traf mich vor allem dadurch, daß es mich einige zusätzliche barbarische Sitten kennenlernen ließ, gegen die die dem Henker Geweihten nicht Beschwerde führen können. Vielleicht ist es nicht schlecht, daß diese barbarischen Grausamkeiten ab und zu jemanden treffen, der sie denunzieren kann.

Ich habe das Recht verdient, meine Stimme für das menschliche Vieh zu erheben, das zum nationalen Schlachthaus zurückgebracht und noch dazu gefoltert wird.

Allerdings muß man sich sagen, daß die grausamsten Vorfälle seltene Empfindungen hervorbringen, die man ungelegen genießt.

Wo Schatten ist, da ist auch Licht.

Übrigens sollte der erstbeste Mensch gelegentlich das erleben können, was einfache Verbrecher erleiden müssen.

All das war doch nur ein ziemlich grober Scherz.

Ich hatte mich wieder aufgerichtet, saß jetzt auf dem nassen, glatten Deck und bot den Schaulustigen die Stirn.

Die spaßliebenden Schiffsjungen waren nicht die hartnäckigsten.

Es gab die herumstreichenden Touristen, die leise miteinander sprachen und sich verachtend und angeekelt gaben. Ein Engländer, der den weißen Helm mit dem grünen Schleier trug, näherte sich; er führte eine Milady am Arm, die über diese im Programm nicht angekündigte Unterhaltung mit ihren langen Zähnen lächelte.

„Sie Schurke, was haben Sie denn gemacht?“ fragte der Gentleman.

Dann sprach ich mit langsamer, bedeutungsvoller und tiefer Stimme:

„Ich habe eine alte Frau in dreizehn Stücke geschnitten. Und Kopfschmerzen habe ich dabei bekommen.“

Auf hoher See

Das französische Schilf „La Gironde“ der „Messageries maritimes“, an dessen Bord ich mich so unbequem eingerichtet befand, fuhr über Port Said und Alexandria nach Marseille.

Je weiter wir auf hohe See kamen, desto mehr legte sich der Wind.

Der ganze Tag war still und der Abend - einer dieser Abende, an denen alle auf Deck Zusammenkommen.

Die Anwesenheit eines auf dem Vorderdeck gefesselten Mannes war bis hin zum Tisch der ersten Klasse gedrungen. Vermutlich war mein Name weitergegeben worden. Nach dem Abendessen kam ein sehr eleganter Herr in den Fünfzigern mit wallendem Bart zu mir zu Besuch und rief mit sehr zorniger Stimme:

„Ich weiß, wer Sie sind!“

Er ereiferte sich, gestikulierte und trommelte die Passagiere zusammen, indem er sagte, ich sei eine Art Anarchist und das Beste sei, mich über Bord zu werfen:

„Ins Wasser mit dem Anarchisten!“

In der komischen Überspanntheit eines blutgierigen Bourgeois überhäufte er mich mit Dummheiten und zwar mit einem so großen Aufwand an drolligen Schimpfwörtern, daß ich mit schallendem Gelächter erwidern mußte.

Es war sicher nicht der passende Augenblick, um die mir am Herzen liegende Idee darzulegen, die sich außerdem nur ungefähr durch das Wort „Anarchie“ erklären läßt.

Mein Benehmen steigerte die Wut des alten Herrn aufs höchste. Aus Angst vor einem Schlaganfall mußten seine Freunde ihn mit Gewalt entfernen.

Als wir am folgenden Tag Port Said anliefen, ging dieser vornehme Tollwütige mit weiteren Gepäckstücken an Land.

Und der Kapitän, nachdem er von diesem lächerlichen Streich gehört hatte, war damit so wenig zufrieden, daß er mir die Ketten abnehmen ließ... Es wunderte ihn, daß man einen wehrlosen Menschen provozieren konnte.

Ist das nicht doch immer so gewesen?

Dieser Kapitän war ein naiver und gutmütiger Mann, ein ungehobeltes und gutes Kind, der zehn Jahre lang durch die chinesischen Meere gefahren war. Er gab mir eine Kabine, erlaubte mir, nach Lust und Laune herumzugehen, und als er bemerkte, daß mein - von den Janitscharen zerbeulter - Hut sehr auffällig war, war er so höflich, mir einen nicht allzu abgenutzen Filzhut anzubieten.

Ich habe diesen grauen Filzhut aufbewahrt - den Hut des guten Kapitäns!

Zehn Tage lang war es eine schöne Reise auf diesem großen See unter blauem Himmel. In den sternklaren Nächten vergaß ich für Stunden, daß ich ins Gefängnis steuerte. Als Vorposten der Pyramiden passierten wir das immer noch junge Alexandria, dann die hellviolette Insel Kreta am Horizont, das wechselnde Panorama des Meeres und die immer wieder auflebende Freude der freien Fahrt...

Bald würde ich darauf verzichten müssen.

Als ich die wilde Natur am Fuße der Berge Kalabriens erblickte, nahm ich die Ironie meiner Lage noch schärfer wahr.

Am selben Abend fuhren wir die italienische Küste entlang, durch die Meerenge von Messina, wo der Ätna schnarchend schläft. Die Fischerboote lagen ganz in der Nähe des Dampfers. Man konnte in den Dörfern die Bauern sehen, die von den Feldern zurückgekehrt waren. Mich packte ein unerbittliches Verlangen, als ich die Küste so nah fühlte, und die Lust erfaßte mich, mich ins Wasser zu stürzen und zum Ufer zu schwimmen – um meine Freiheit wieder zu erobern.

Aber zu viele Leute waren an Bord noch wach, die sich über die Reling beugten und aufmerksam hinausschauten, und die Nacht wurde nicht dunkel.

Vielleicht kamen mir auch die Bedenken eines Gefangenen auf Ehrenwort?

So viele Vorurteile, die den Geist nicht mehr belästigen, lähmen doch immer noch unsere Aktionen.

Man zögert.

Das, was man Ehrgefühl nannte, wird zur Gewissensfrage.

Damit der außergewöhnliche Wärter, der ein guter Mensch wair, nicht den geringsten Ärger bekommt, verzichtet man, ohne sich zu wehren, auf das einzige Gut, das dem Leben Wert gibt.

Die Besiegten haben Kleingeld für die letzten Geschäfte, bei denen sie geprellt werden.

Die Stunde verging. Es war nicht mehr möglich, etwas zu riskieren.

Die ländliche Küste verschwand.

Wir passierten die Meerenge wieder, die sich zwischen den Charybdis- und Scylla-Klippen unheildrohend eröffnet.

Bald sollte das Mittelmeer wieder wie eine schöne einlullende See aussehen. Tage und Nächte, deren Zauber einen wiegt. Wir umschifften die Insel Sardinien und an einem hellen Morgen tauchte Marseille vor uns auf.

Als das Schiff nahe bei dem Anlegeplatz La Joliette vor Anker gegangen war, betraten zwei Figuren im Gehrock die Brücke und ließen den Kapitän holen, der sie mir alsbald vorstellte.

Der erstere war ein Vertreter des Innenministeriums und damit beauftragt, mir mitzuteilen, meine Festnahme in Jaffa sei nicht gesetzmäßig.

Folglich setzte man mich auf freien Fuß.

Der andere, der im Dienst der Justiz stand, fügte ganz einfach hinzu:

„Ja, aber da Sie hier sind, muß ich Sie festnehmen.“

Ein räudiges Schaf

In dem großen Hof, in den ich geführt wurde, waren ungefähr vierzig Männer, die auf und ab gingen oder in kleinen Gruppen an sonnenbestrahlten Stellen hockten.

Ein Wärter mit prüfendem Auge ließ den klappernden Rosenkranz eines Schlüsselbundes durch seine Finger gleiten.

Meine Ankunft erregte ein größeres Aufsehen - man umschwärmte den Ankömmling und überhäufte ihn mit Fragen. Wie lange sollte er sitzen? Was haben Sie verbrochen? Schwindelei oder Erpressung? Eine kleine Arbeit mit dem Messer?

Man sprach auch von Vergewaltigung.

Die Häftlinge verlangten nach meinen Titeln. Gehörte ich zur Gaunerwelt oder war ich ein Raubmörder? Und ich antwortete:

„Es kommt darauf an...“

Diese weise Antwort brachte mir die Sympathie eines alten rückfälligen Ganoven ein, der sich gleich als mein Kumpan betrachtete. Er zog mich von den anderen fort und sagte zu mir:

„Nimm Dich in Acht, Alter!“

„Wieso?“

„Ja nun, wenn Du etwas in den Taschen hast - Brot oder noch Tabak - dann wird es Dir geklaut. Es wäre besser, wenn Du es mir anvertrauen würdest. Unter Kavalieren versteht man sich doch - ich war vor zwölf Jahren Notar...“

„Ach so!“

„Außerdem sehe ich sehr wohl“, fügte er in einem anderen Ton hinzu, „mein Lieber, mein lieber Herr, daß wir uns verstehen werden. Diese Leute gehören nicht zu unserer Gesellschaft. Es sind lauter Taugenichtse. Ich werde Ihnen meinen Fall erzählen. Ich bin unschuldig.“

Und der gute Mann machte sich daran, mir sein Unglück bis in die kleinsten Einzelheiten zu schildern.

Er war ein kleiner Greis mit schlauen Augen, tänzelnder Redeweise und den Bewegungen eines Diebes: ein seltsamer Typ von einem Fachmann.

Er hatte bestimmt wenig banale Abenteuer erlebt.

Er war ein Künstler in seiner Art und ich stellte ihn mir gerne in pittoreske „Geschäfte“ verwickelt vor.

Er dachte aber nur daran, seine Unschuld zu beweisen. Seinen Reden nach war er ein ehrlicher Kleinbürger, hinter dem böse Feinde her waren. Auf das Gesetz hatte er immer geachtet:

„Das ist etwas Heiliges, mein lieber Herr!“

Willkürlich verdarb er seinen Stil und verleugnete sein Leben. Der alte Schwindler wurde zum verschämten Dieb.

Ich begann, ihn zu verachten.

Eine Art Athlet mit wilder Miene schloß sich uns an:

„Dieser da ist ein Freund“, sagte mein Kumpan, „der Arme hat auch kein Glück gehabt.“

„Ach, Monsieur, wenn Sie nur wüßten“, meinte dieser, „wie ungerecht es war! Mein Boß hat sich auf das Messer gestürzt - ein Messer, das ich zufällig in der Hand hatte - und er hat sich weh getan. Bin ich schuld daran? Nun - sie haben mich verurteilt! Zu sechs Monaten. Das ist wirklich ungerecht! Trotzdem habe ich Ehrgefühl. Ich gehöre nicht zum Pöbel. Ich, Monsieur, greife die Bosse nicht an.“

Andere Häftlinge kamen zu uns; wir gingen langsam um den Hof herum, ein wenig gegeneinander gedrängt, und dieser Spaziergang machte mich aus verschiedenen Gründen nervös. Die meisten dieser Männer traten als Opfer ohne Rachegefuhl auf.

Instinktiv neigten sie sich vor der Autorität, dem Eigentum und dem Gesetz.

All diese Parias duckten sich.

Gerade diejenigen, die sich zu einem Diebstahl bekannten - die ein Paar Schuhe oder eine Hammelkeule aus der Auslage gestohlen hatten, als sie mit leerem Magen und nackten Füßen leben mußten - gerade die suchten nach Entschuldigungen.

Fast hätten sie von der Polizei noch gut gesprochen. Als ein Straßenjunge, der, glaube ich, wegen Landstreicherei festgenommen worden war, als einziger ausrief: „Nein! Ich hab die Nase voll von den Bullen!“, erwiderte ein anständiger Taschendieb unter allgemeiner Zustimmung kategorisch:

„Es muß aber doch Gendarmen geben!“

Diesen erniedrigten unschönen Haltungen gegenüber verheimlichte ich nun meinen Ekel nicht mehr - taten sie nicht gerade deswegen so fromm, weil sie mich für einen „feinen Herrn“ - , vielleicht für einen zweifelhaften Bankerotteur, aber trotzdem für einen gewissenhaften Menschen hielten?!

Nun, wenn es so war - dann war es verfehlt.

Und ich erklärte ihnen sehr schnell, Ehrlichkeit sei nichts anderes, als sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein und man müsse für seine Handlungen einstehen. Empfinde einer, daß er nicht wie ein Schwachkopf oder wie ein Irrsinniger, sondern im Gegenteil bewußt gehandelt habe, dann solle er stolz behaupten:

„Das habe ich aus dem und dem Grund getan, weil ich in Not war und keiner mir die Hand reichte, weil ich ausgebeutet wurde und mein Ausbeuter mir übel wollte.

Ich habe das getan und ich habe recht getan.

Das ist die Ehre.“

Der Wächter war näher gekommen und schon redete er mich barsch an:

„He, Sie, der Lange da, der große Reden hält, hetzen Sie Ihre Kumpanen nicht auf! Wollen Sie nicht den Mund halten?... Was sind denn das für herausfordernde Blicke?... Kommen Sie mit zum Herrn Direktor!“

Ich folgte ihm bis zum Oberwärter und die Angelegenheit wurde schnell geregelt.

„Wieso?“ sagte der Chef mit strenger Stimme, „hier sind Unglückliche, die freilich unrecht gehandelt haben - eine schlechte Tat ist so schnell vollbracht! Aber nicht all diese Kerle sind verdorben. Sie sind nicht unrettbar verloren... und jetzt wollen Sie sie mir verderben... Los! In die Zelle mit Ihnen!“

So wurde der kriminelle Schriftsteller, der ich bin, von den „gemeinrechtlichen Verbrechern“ getrennt.

Das letzte Gasthaus

Nach einem Monat im Gefängnis von Marseille begleiteten mich zwei Polypen neuen Typs mit Lackstiefeletten und Zylindern nach Paris.

Für sie war das ein Glücksfall, die Gelegenheit, ein oder zwei Tage auf unseren Boulevards zu verbringen - die kleinen Cannebières!

Das Vergnügen, das sie sich davon erhofften, versetzte sie in eine joviale Stimmung.

Mir gegenüber waren sie fast dankbar: hätte ich ihnen Gehör geschenkt, so hätte ich zusammen mit ihnen im Bahnhofsrestaurant von Lyon zu Abend gegessen.

Wir trennten uns, als sie mich im Depot absetzten.

Drei Tage später kam ich ins Sainte-Pélagie-Gefangnis.

Ungefähr zehn politische Gefangene lebten dort übrigens in ziemlich schlechtem Einverständnis im Prinzenpavillon.

Ich war der elfte.

Als Signal, daß ein Brief eingetroffen war oder sich ein Besucher gemeldet hatte, läutete die Klingel einmal für den Ältesten unter uns und elfmal für mich!

Bald aber, da einige ihre Strafzeit abgesessen hatten, wurde nur noch zehn-, und dann neunmal geklingelt. Einige wurden begnadigt und es kam sogar eines Tages zu einer ganzen Reihe von Freilassungen auf Bewährung. Man klingelte nur zweimal, um meinen Rang zu kennzeichnen. Dann gab mir der Älteste seinen Platz und sein Zimmer mit den höheren Fenstern, ich wurde selbst zum Ältesten - ein einziges Klingeln - und zwar noch für lange Zeit.

Wie viele Häftlinge habe ich Weggehen sehen!

Sogar diejenigen, die ich hatte ankommen sehen, wurden schnell ersetzt - kurze Strafen, bloße Scherze! Einer war jedoch schauderhaft und grauenvoll: das Spiel, das man mit dem armen Gardrat spielte, dessen Todeskampf von Pélagie nach La Santé und von La Santé nach Pélagie hin- und hergeschleppt wurde.

Als dreißigjähriger Lizentiat der Geisteswissenschaften hatte Gardrat unerschrocken die Geschäftsführung bei uns übernommen, zu einer Zeit, in der die Geschäftsführer seltener wurden, gerade in dem Augenblick also, als die ersten Verfolgungen wegen Bildung einer Kriminellen Vereinigung begannen.

Es dauerte nicht lange, bis das Strafurteil kam.

Nach London geflüchtet, wurde er von dort durch die Not vertrieben, der er die ersten Hustenanfälle in den kalten Nächten auf den Bänken des Hyde-Parks verdankte, und er kam nach Frankreich zurück.

Er wurde in Paris festgenommen und die feuchten Zellen der Concièrgérie setzten das Werk der Krankheit fort. Dann vollendete es die Strafverwaltung.

In Sainte-Pelagie tat es jedem weh, den unglücklichen Jungen zu sehen, wie er sich so hoffnungslos schmächtig über die große, strenge Treppe des alten Klosters schleppte. Er versuchte, beim Hinuntergehen zu atmen und mußte gegen die Anfälle kämpfen, die ihn erschütterten und dazu zwangen, mit gestrecktem Hals und weit geöffnetem Mund auf jedem Absatz stehenzubleiben - Luft, er rang nach Luft und hoffte unbestimmt darauf, gleich in dem düsteren Hof ohne Sonne wieder zu Atem kommen zu können...

Wie oft haben wir diesen armen, so leidgeprüften leichten Körper in unseren Armen wieder nach oben gebracht!

Der seiner täglichen Besuche überdrüssig gewordene Gefängnisarzt ließ Gardrat ins Sante-Krankenhaus bringen, wo die Disziplinarvorschriften so streng sind, daß man ihn mehrere Tage lang daran hinderte, mir Nachrichten zukommen zu lassen. Übrigens bewirkten seine Proteste nur, daß er nach Sainte-Pelagie zurückverlegt wurde.

Als er zurückkam, hustete er buchstäblich sein Leben aus.

Es war Juni. Am 14. Juli geruhte die Verwaltung, sich an Gardrat zu erinnern.

An diesem Nationalfeiertag wurde er wieder ins Santé geschickt!

Ein herzergreifendes Ereignis fand dort statt.

Man machte sich die frühen Morgenstunden zunutze, in der wir noch schliefen: ich will nicht sagen, daß er in die grüne Minna stieg - das konnte er nicht mehr - , man zog den Sterbenden vielmehr hinein.

Wir haben etwas später erfahren, daß man seinen Körper, den mitleidswürdigen Körper eines Märtyrers, auf einem Obduktionstisch zerstückelt hat.

Das ist die Wirklichkeit - wie der Tod auf junge Menschen lauert.

Zweimal war er in weniger als einem Jahr im Gefängnis zu Gast.

Ein anderer Häftling, Jean Lécuyer, dessen Odyssee ungefähr die gleiche wie diejenige Gardrats war, verlebte seine vorletzten Tage im „Großen Grab“, der finsteren Zelle.

Als das Ende ganz nahe war, gab man Lécuyer eine ironische Freiheit - diejenige, zum Sterben ins Krankenhaus zu gehen. So wie einer der Verwaltungsärzte es dem Kranken selbst mit der einnehmendsten Stimme sagte:

„Sie können sich nicht vorstellen, wieviel Ärger man hier mit einem Todesfall hat. Das will gar kein Ende nehmen – Befund, Schreibereien, üble Nachreden... Im Krankenhaus geht es dagegen ganz reibungslos!“

Es geht sogar sehr schnell! Jean Lécuyer lebte keine weiteren vierzehn Tage.

Es scheint, wir sind weit von diesen legendären Zeiten entfernt, in denen man in Pelagie gelacht haben soll.

Auch wenn nichts Tragisches vorkommt, ist es das trübsinnige allmähliche Versinken von kämpferischen Menschen, die auf das Kloster wenig vorbereitet sind. All diese Gefangenen, deren gewöhnliches Delikt darin besteht, die Freiheit allzusehr zu lieben, vergehen in der erzwungenen Untätigkeit eines zwitterhaften Gefängnisses vor Ungeduld, in das die aufregenden Nachrichten aus der Außenwelt eindringen.

Der unterdrückte und verkleinerte Kampfinstinkt verschärft die Rauheit des Charakters, erzeugt fruchtlose Streitereien und kindische Böswilligkeiten.

Nein, Sainte-Pélagie ist keine brüderliche Akademie der aufsässigen Philosophie, so etwas wie die Villa Medicis der Unzufriedenen. Ich erinnere mich an die Villa in Rom, wo ich mehrmals Stunden im Atelier guter Freunde verbracht habe:

„Das ist hier unser Sainte-Pelagie!“ pflegten sie zu sagen.

Sie täuschten sich. Hier noch mehr als dort geht die schöne Lust zur Arbeit verloren. Vielleicht gibt es nur in den am wenigsten verlockenden Aspekten eine Analogie:

Sainte-Pélagie ist die Klatschstube aus „Pot-Bouille“!

Ich will nicht in die Einzelheiten eines hausbackenen, banalen Lebens abschweifen, in dem man manchmal einen ganzen Tag lang Ramsch spielt, um nicht zu reden... die Sprechstunden mit dem Wärter in einer Ecke des Raumes und am Abend, wenn es neun Uhr schlägt, die Ankunft des Schlüsselträgers, der den riesigen Riegel unserer Zimmer quietschen läßt.

Und was soll man über die Briefe sagen, die dem Unbedenklichkeitsvermerk unterworfen sind, und über den roten Zickzack der Unterschrift des Direktors, mit der die Zeitungen - sogar „Le Temps“ - nach Durchsicht gewürdigt werden?

Heimlich tausche ich einige Worte mit den gemeinrechtlichen Gefangenen aus, den „Gehilfen“, die unsere Treppen fegen.

Ich erfahre häßliche Geschichten und daß die Wärter, die uns gegenüber eher höflich sind, sich auf der anderen Seite grausam zeigen.

Jeden Tag werden bis zu zwanzig Männer mit trocken Brot bestraft; im Winter gibt es keine Heizung und die feuchten Kerker nehmen die Häftlinge arg mit.

Man kommt gliederlahm, an Rheumatismus leidend und schwindsüchtig heraus.

In den Werkstätten herrscht schamloser Handel: von halb sechs Uhr früh bis halb acht am Abend keine einzige Pause außer einer Stunde für die beiden Mahlzeiten, die magere Brühe.

Und was verdienen die Geschicktesten?

Sechzig Centimes - von denen dreißig für die Verwaltung sind.

Viele andere bringen es nur auf zwei oder drei Sous.

Tatsächlich werden zum Beispiel für die Geldbeutel – man bringt ihnen bei, Portemonnaies zu machen! - , für jene Geldbeutel aus Stahl, die überall 1 Franc 45 Centimes kosten, dem Häftling 12 Centimes bezahlt!

Und die Schuldner!

Denn auch wenn Clichy nicht mehr existiert, ist es jetzt noch schlimmer. Die geringste Geldstrafe zieht die Haft nach sich, so daß Leute, die nicht einmal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden, doch dem Zuchthaussystem ausgeliefert werden.

Zu bestimmten Stunden kann man ihre Schritte hören, wie ihre Holzpantinen im Takt auf dem Hofpflaster klappern. Das nennt man „die Fleischwurst“. Sie gehen in einer Reihe, immer nach dem Befehl: links, rechts, links!

So sieht also die moderne Art und Weise aus, das Verbrechen der Armut zu sühnen...

Wie kann man sich weiter über die kleinen Schikanen auslassen, die wir in diesem Gefängnis ertragen mußten, das letzten Endes für uns nur eine Art von einem vergrämten Wirt schlecht geführtes Gasthaus ist, während sich aus den Nebengebäuden eine schmerzvolle, unterdrückte Klage erhebt.

Gerade dieser Klage müssen wir Gehör verschaffen.

Der sittliche Wert des Regimes muß durch offensichtliche Tatsachen sichtbar gemacht werden. Gerade hat ein Häftling (S., Nummer 986) ein Jahr im Gefängnis verbracht.

In diesem Jahr hat er vier Tage Kerker bekommen, weil er in der Werkstatt geredet hat.

Einen Monat vor seiner Entlassung bittet er den Direktor um die Erlaubnis, seinen Bart wachsen zu lassen, damit sein unbehaartes Kinn nicht seinen Aufenthalt im Gefängnis entlarvt.

Abgelehnt - weil er im Kerker war.

Solche Ablehnungen finden täglich statt.

So werden Menschen faktisch daran gehindert, zur Arbeit zurückzufinden. Sie gehen sozusagen mit dem Brandmal weg. Sie wagen es nicht, sich irgendwo vorzustellen oder sie werden schlecht empfangen. Und dann?...

Ein anderer Häftling, der in sechs Monaten (und zum ersten Mal) mit einem Tag trocken Brot bestraft wurde, bekommt auch keine Erlaubnis. Man sinne über die Antwort nach, die ihm vom Gefangnis-Ramollot erteilt wurde:

„Das nächste Mal, wenn Sie zurückkommen, sollten Sie sich besser benehmen!“

Traurige Zeiten, in denen einen nichts mehr ergreifen kann, die Massen stumpf sind und die Schriftsteller nichts wagen.

Eine resignierte Duldung betrübt Paris.

Von „Groß-Sibirien“ aus, der letzten Zelle oben, von der man weit über die ganze Stadt sehen kann, grüble ich, den Kopf an den Gitterstäben, und in der Halbtrauer ihrer grauen Fassaden sind die Häuser trist. Die Erschlaffung, die die stolze Disziplinlosigkeit eines Volkes ersetzt, gibt mir eine schlafsüchtige Stadt zu sehen:

Wer rüttelt sie wach?

Paris scheint eine Totenstadt zu sein - oder, noch unversöhnlicher - ein Gefängnis. Und in der hellsichtigen Täuschung des Blickes haben am Horizont alle Fenster Gitter wie mein eigenes...

Und ganz in der Ferne, über das Pitié-Krankenhaus und über Mazas hinaus, hinter der Juli-Säule, auf der das Genie der Freiheit wie ewig an die riesige Schleifkugel gefesselt zu sein scheint - ein dunkelgrüner Hügel: der Friedhof Père Lachaise.

Das Grabmal des Massenmörders Thiers wirkt neben dem Familiengrab von Casimir Périer wie ein greller Aufruf.

Dann ganz oben auf dem Hügel der Schornstein des Krematoriums. Heute morgen wirbelt in stürmischem Wind ein leichter Rauch hinauf. Zu dieser Stunde wird die Leiche unseres Mitgefangenen Lécuyer verbrannt.

Der kleine, weiße Rauch wirbelt auf, steigt in die Luft und verweht...

V. Von beiden Seiten

Durch die Gitterstäbe

Im Besucherzimmer werden die Besucher der ersten Stunde immer seltener. Es macht Spaß, sich einmal im Gefängnis umzusehen, wie man wahrscheinlich früher einen Ausflug zur wiederaufgebauten Bastille machte. Einmal, nicht zweimal.

Dann ist Sainte-Pélagie so weit...

Manchmal frage ich mich, übrigens ohne Beunruhigung, ob es nicht irgendein schlimmes Gerücht über mich gibt, ob mir nicht irgendeine Schandtat zur Last gelegt wird und ob ich das Stillschweigen der damaligen Tischgenossen einer aufrichtigen Zurückhaltung zu verdanken habe.

Nicht einmal das.

Anderthalb Jahre - eine lange Zeit. Es ist ein Tod. Und man geht nicht mehr zum Friedhof.

Man wird aber doch hinauskommen - und ziemlich lebendig sogar.

Auch ohne Verbitterung gegen das Versagen der Kameradschaft. Es ist ein Dienst, der einem geleistet wird. Auf den Boulevards kann man sich bei den zufälligen Begegnungen und den ausgetauschten Banalitäten manchmal fast einbilden, man ginge nicht allein. Heilsam ist dann die kleine Verletzung der Selbstliebe, die einen im Gefängnis erkennen läßt, wie schnell man vergessen wird. Das ist gut - um so stärker wird man.

Das ist die wiederholte Lehre der Isolierung: Wir existieren nur durch uns selbst.

Je weniger Beziehungen man in diesen Zeiten der abstumpfenden „braver-Kerl-Haltung“ unter Literaten unterhält, um so besser. Das kollegiale und freimaurerische Getue bedeutet so viele Fesseln.

Sprengen wir sie!

Um es klar und frei zu sagen: so wenig Leute wie möglich kennen! Man fühlt sich leichter, sicherer.

Während all der Monate habe ich die Genossen gesichtet.

Bestimmte erprobte Treue genügen. Freunde bleiben. Und ich weiß ja, wie zeitraubend das Leben ist und schwer - und wie sehr es sie in Anspruch nimmt. Soll ich hinzufugen, daß die letzten Verfolgungen gegen die „Verbrecher“ einige der Besten von denen, die ich liebe, nach Mazas gebracht haben?

Gerade diese vermisse ich am meisten.

Ich ertrage die Haft besser, als diejenigen, die mich kennen, es geglaubt haben.

Meine leidenschaftliche Liebe zur Freiheit denkt nach: bin ich hier bedeutend weniger frei als in dem Leben in diesem Land, in dem es verboten ist, das laut zu sagen, was man denkt? Ich überlege. Ich arbeite ein wenig. Und geht es mir in meiner Zelle, wo ich mich isolieren kann, schlechter, werde ich weniger verletzt als mitten in der ahnungslosen Menge des 14. Juli oder der russischen Festlichkeiten?

Auch jenseits der Gitter ist es wie im Gefängnis.

Eine zunehmende Verachtung für die Nichtigkeit dessen, was man heute die Freiheit des Bürgers nennt, hinterläßt weniger Schmerz, wenn man hört, wie republikanische Riegel hinter einem zugeschoben werden. Das ist nur die Materialisierung einer Knechtschaft, die vielleicht bei dem aufgedeckten Schauspiel, das das Leben außerhalb der Gefängnisse einem aufzwingt, noch heftiger empfunden wird.

Unabhängigkeit existiert nur noch durch den Geist: diese Unabhängigkeit behält man trotz des Wärters.

Für die meisten ist im gesellschaftlichen Räderwerk die Freiheit nur noch ein Wort ohne Gegenstand.

Man atmet nicht in vollen Zügen - man verkümmert.

Man müht sich ab, man ißt schlecht und denkt noch weniger.

Das dumme Leben! Immer und überall eng, kleinlich und häßlich. Von meinem Fenster aus, das schräg auf die Straße geht, habe ich wie der hinkende Teufel auf einen ganzen Häuserblock eine indiskrete Aussicht.

Wie alle sich zu langweilen und wenig zu leben scheinen!

Sogar dieses kleine Ehepaar, das jeden Abend um acht nach Haus kommt und an dem sauber gedeckten Tisch vor den beiden Geranien am Fenster ißt.

Das Tischtuch ist weiß.

Gewohnheiten haben dem Brot, der Butter- und der Salzdose ihren immer gleichen Platz zugewiesen und der Liter Wein steht auf dem kleinen Untersatz aus Holz.

Beide sind penibel und besorgt, mit einer argwöhnischen Falte auf der Stirn; der Mann, wahrscheinlich ein Kommis, dem es nicht gelingt, die Abstumpfung eines leeren Tages abzuschütteln, und die Frau, die zwölf Stunden in einem Geschäft arbeitet. Wie bei der Arbeit sitzen sie pünktlich an dem sauber gedeckten Tisch.

Die wohlbedachte, stille und mechanische Pünktlichkeit ihrer Existenz verleiht ihnen, ich weiß nicht was für ein automatisches Aussehen mitten in der vertrauten Ordnung der Gegenstände.

Vor einigen Abenden waren sie noch lebendiger, irgendetwas in der gewohnten Harmonie schien aus der Ordnung gebracht, ohne daß sie verstanden, was das eigentlich war.

Sie hatten ungeduldige Gesten und suchende Blicke.

Als erster bemerkte es der Mann:

Unter dem Liter Wein fehlte der kleine Untersatz.

Zwei Stunden lang wurde dann gezankt...

Und ich stelle mir jetzt den Kommis vor, wie er den ganzen Tag mit langweiligen Arbeiten hinter einem Schalter beschäftigt ist:

Ich bin hinter meinen Gitterstäben freier!

Der Ekel würde einen zum ungetrübten Gleichmut bringen, wenn nicht der zähe Haß wieder wach würde beim Lesen der hörigen Zeitungen, die täglich zusammen mit den gemeinen Kommentaren der Tintenkleckser über irgendwelche neuen Niederträchtigkeiten berichten - Rechtsverweigerung, Überschreitung der Amtsgewalt, Verhöhnung derjenigen, die vom Schicksal oder in einer Revolte besiegt wurden.

Man hätte Lust, das genauer zu prüfen, es wäre gut, die Lakaien und ihre Herren anzuzeigen - die wirkliche kriminelle Vereinigung: Schecks, Chroniken und geheime Gelder...

Man leidet unter dem aufgezwungenen Stillschweigen.

Man wird die stummen Tage nachholen.

Monate und Monate vergehen. Es ist gut, daß ich kein Gnadengesuch unterzeichnet habe, wie es mir mit der Versicherung vorgeschlagen worden war, es würde wohlwollend aufgenommen werden.

Es war damals bloß eine Art Falle: ich bin tatsächlich einer der wenigen, die nach Verbüßung der Hälfte ihrer Haftzeit keine Freilassung auf Bewährung bekommen, die sozusagen ein Recht ist.

Nach so vielen anderen ist jetzt noch einer unserer Genossen gemäß diesem Recht entlassen worden und wir sind nur noch zu zweit in diesem großen Gebäude, in dem wir wie Gespenster umhergehen...

Ich beklage mich nicht: meinem zweiten mir zur Last gelegten Artikel, der bedeutend weniger unverfänglich war als der erste, hatte ich nur, als ich bei meiner Rückkehr von Jaffa noch einmal beim Schwurgericht vorgeführt wurde, sechs zusätzliche Monate zu verdanken, die mir übrigens wegen des Skandals erlassen wurden, der durch meine ungesetzliche Festnahme verursacht worden war. Es geht also nur um achtzehn Monate, die zur Neige gehen.

Fröhlich sehe ich zu, wie ihr Ende näher kommt...

Für meine letzten treuen Besucher wird es eine Überraschung geben.

Im Besucherzimmer wartet eine Veränderung auf sie, in dem großen leeren Raum, in dem vier einzelne Stühle der ganze Komfort waren. Jetzt ist es fast zum Salon geworden - und was für ein Stil!

Ich erwarte einen Schrei des fröhlichen Erstaunens.

Und er kommt auch. Als die Freunde und ehemaligen Mitarbeiter, die an diesem Nachmittag zu mir zu Besuch kommen, den großen Tisch aus altem Eichenholz und die breiten Bänke mit Rückenlehnen - Bänke aus einer Werkstatt oder einem Kloster - sehen, schreien sie auf und jubeln: sie haben... das Mobiliar aus dem Zeitungslokal erkannt!

Sie finden in Sainte-Pélagie unseren Redaktionssaal wieder.

Dann setzt man sich um den Tische herum, der vom Polizisten Clement so oft nach Dynamit in Federbüchsen abgesucht wurde. Der gute, alte verdächtige Tisch! Der gute Freund, was für ein Schicksal! Aber was für eine schöne Haltung auch, wie du da streng, glänzend und gut gewachst mitten im Besucherzimmer vor dem ehrfurchtsvollen Auge des Wärters stehst.

Wir hatten doch wegen Kündigung aus unserem Keller in der Rue Bochard de Saron ausziehen müssen, der seit der Zwangseinstellung der Zeitung nur noch von Genossen ohne Wohnsitz als Schlafstelle benutzt wurde: der Eigentümer wollte den Mietvertrag nicht erneuern.

Das war sein gutes Recht, so wie es in Sainte-Pelagie traditionsmäßig mein Recht war, für meine Zelle einige Schreibsachen zu bekommen.

Drumont hatte sein Zimmer möbliert: mir wurde auch freie Hand gelassen.

Nur - da der riesige Tisch und die großen Bänke nicht durch meine Zellentür gingen, sind sie im Besucherzimmer geblieben, das ist alles...

Wir sind wie zuhause.

Witziger Umschwung. Beinahe könnten meine Freunde sagen: Wir schlafen in unseren Stellungen!

Sind das keine Kriegsehren?

Seien wir bescheiden. Man erinnert sich an die Zeit, in der die - leider in dem Debakel verkaufte - Orgel in unserem Kellergewölbe erklang, wenn unsere Manuskripte fertiggestellt waren.

Stünde nicht der Wärter in seiner Ecke, man würde das Gefängnis vergessen.

„ENDEHORS“ hat wieder ein Heim!

Scheinabgang

Die Ereignisse treffen ironisch aufeinander:

So wurde ich sehr weit von hier und am 1. Januar 93 festgenommen, am selben Tag also, an dem der unverbesserliche Arton vor dem wohlwollenden Auge des Agenten Dupas die Tauben auf dem Markus-Platz in Venedig neckte. Ich wurde am 1. Juli 94, am Tag des Begräbnisses des Herrn Carnot auf freien Fuß gesetzt, so daß dieser Tag der Nationalfeier und der offiziellen Winselei sich für mich als ein Glückstag ankündigte.

Ich schäme mich darüber.

So war es nur gerecht, wenn eine Wolke meine Freude überzog.

Eine schwere und schmutzige Wolke, die nicht lange auf sich warten ließ: sie wurde durch eine Gruppe von Polizisten verkörpert, die vor der Tür von Sainte-Pélagie auf der Lauer lag und wie eine Gewitterwolke auf mich zukamen, sobald ich den ersten Fuß auf den Bürgersteig gesetzt hatte.

Jemanden festnehmen, der gerade achtzehn Monate im Schutz der Strafverwaltung verbracht hat, das ist zunächst verwirrend; wird er aber noch dazu beschuldigt, einer kriminellen Vereinigung anzugehören, dann scheint die Sache ernsthafter und wahrscheinlicher, wenn man sich daran erinnert, daß man im Gefängnis bestimmt Beziehungen zum Anstaltsdirektor gehabt hat.

Da man mich vor seiner Tür festnahm und zwar noch bevor ich sie wieder geschlossen hatte, blieb mir nur eins übrig:

Ein Schritt zurück.

Ich tat es und floh zu meinem Komplizen.

Der Wärter, zugleich Türsteher und Gepäckaufbewahrer, der sich meiner Rückkehr nicht mit Gewalt widersetzte, wurde wahrscheinlich später ziemlich derb gerügt.

Tatsächlich war die Situation seltsam:

Ein entlassener Gefangener, dessen Name aus dem Register gestrichen wurde und dessen Abgang stattgefunden hat, befindet sich immer noch da, widerspenstig wie ein Mieter, der entschlossen ist, sich nicht ausquartieren zu lassen.

Ich kehrte in mein Zimmer zurück, verbrannte schnellstens bestimmte Papiere, die meinen Koffer zu einem kompromittierenden Gegenstand machten, und wartete...

Ich brauchte nicht lange zu warten.

Acht Soldaten der Wachtmannschaft mit Unteroffizier, Oberaufseher und zwei Schlüsselträgem, eine imponierende Truppe, kamen zu mir und forderten mich auf, den Platz zu räumen.

Bereitwillig wich ich vor diesen uniformierten Schergen, den netten Soldaten Frankreichs, die kaum verstehen konnten, was los war, und sich albern in den Hüften wiegten, indem sie erstaunte Blicke auf die Flamme warfen, die im Kamin die letzten Blätter verbrannte.

Vor der Tür lauerten die Polizisten immer noch geduldig.

Ich wechselte die Eskorte und wir gingen zum nächsten Polizeirevier in der Rue Cuvier, an der Ecke eines der Eingänge zum Botanischen Garten.

Der diensthabende Unteroffizier, ein Alter mit argwöhnischem Auge, bemerkte nicht unbesorgt, daß ich eine lockere Seidenschleife trug: um der Verantwortung für einen Selbstmord mit der Halsbinde zu entgehen, nahm er sie in Beschlag.

So betrat ich das Loch unkorrekt gekleidet.

Freilich blieb das in dem schwarzen und stinkenden Loch unbemerkt, in das ich geschoben wurde, da ich als Kollegen drei Betrunkene hatte, die einzig und allein damit beschäftigt waren, sich laut rülpsend zu erbrechen und den Boden um sich herum zu überschwemmen.

Später wurde auch ein Bekannter von mir, Vater Lapurge, hereingeführt, der im Quartier Latin wegen gar nicht banaler Lieder berühmt ist, in denen immer wieder das Wort „Dynamit“ als Reim knallt.

Kahlköpfig, wohlbeleibt und mit einem rosafarbenen, sanftmütigen Gesicht ist Vater Lapurge Maurer von Beruf.

Und dabei so ruhig und sanft.

Er sieht so aus, als ob er ein kleiner Händler aus dem Marais- Viertel wäre - und versetzt die Gegend um das Pantheon herum in Schrecken.

Ich bat ihn gerade darum, mir eine seiner pikrinsäurehaltigen Romanzen vorzusingen, als ein Schutzmann mich holte.

Der Kommissar wollte mich sehen.

„Nun“, sprach er mich rundheraus an, „Sie schaffen es also nicht, hinauszukommen, und dabei ist das Loch in der Rue Cuvier gar nicht so gut wie Sainte-Pélagie, sicher nicht! Es stinkt hier. Sagen Sie, wollen Sie hier in der Wachstube bleiben? Das tut man nicht fürjeden, wissen Sie. Aber bitte keine schlechten Scherze! Ich darf auf Ihr Ehrenwort rechnen, nicht wahr?“

„Ach, was für eine Frage, Herr Kommissar! Sie wissen doch, wer ich bin...“

„Aber ja, aber ja... früher habe ich auch in den Zeitungen geschrieben. Ich kenne das!“

Und dieser Freund der Presse entfernte sich mit sehr überlegener und verständnisvoller Miene und einer schützenden Geste.

Auf der hölzernen Bank des Büros wartete ich stundenlang, und hörte Polizisten, die der Reihe nach zurückkamen, um über die Beerdigungsfeierlichkeiten Bericht zu geben:

„Ach ja, jede Menge Hitzschläge! Ich mußte drei Kerle ins Pitié-Krankenhaus bringen!“

„Mein Lieber, da hättest Du die Feuerwehrleute aus Chatou vorbeimarschieren sehen sollen: toll!“

„Es gibt drei Leichenwagen voller Blumen... totschick!“

„Alle Straßen sind verstopft, die grüne Minna kommt nicht vor heute Abend!“

„Was können das für welche sein, mit der Baskenmütze und den Kniebundhosen?“

„Das weiß ich nicht. Es gibt ja so viel. Da gibt’s welche mit ’nem Federhut, Stiefeln und breiten Mänteln. Und andere im Jagdanzug... nur haben sie keine Hörner!“

„Ach, das ist noch gar nichts gegen die Typen mit dem Zweispitz und dem gelben Anzug!“

„Was sollen die vertreten?“

„Es ist die Delegation der Ehemänner!“ brüllte der Unteroffizier und er schlug mit der Faust auf den Tisch.

Man brüllte vor Lachen. Nie war dem Unteroffizier lauter zugestimmt worden. Man lachte sich schief und krumm. Jetzt sprachen die Wachtmeister von der „Kavalkade“.

„Das macht aber Durst!“

Und all diese Männer mit den weißen Handschuhen und dem Trauerflor erweckten unwiderstehlich den Eindruck, sie seien Faschingstotenträger.

Armer, schlecht beweinter Carnot!

Man dachte zwar nicht an den Verstorbenen, aber auch kaum an mich.

Nachdem sie etwas getrunken hatten, gingen die Wachtmeister hinaus, um vor dem Polizeirevier frische Luft zu schnappen.

Es war der richtige Augenblick.

Mir gegenüber stand ein mit Kapuzinerblumen geschmücktes Fenster zum Botanischen Garten hin offen. Ich durchquerte es schnell wie einen Laubring und begann, durch die Alleen zu laufen...

Ein dünnes Drahtnetz, das ich durchbrochen hatte, und das Geräusch meines Falls machten sie aufmerksam:

„Haltet ihn!“

Ich rannte quer durch die staunende Masse sonntäglicher Spaziergänger:

„Haltet ihn!“

Hinter mir hatte sich schon eine brüllende Meute gesammelt. Ich konnte wahrnehmen, wie eine zunächst verschämte Grausamkeit aufkam, die immer kühner wurde.

Die Menge wurde wach und setzte sich in Bewegung.

Und zwar alle.

Und von überall her.

Die Stimme schwoll allmählich an, ein undeutliches Gemurmel, das jetzt durch Frauenschreie schriller wurde, und es gab sogar Kinder, die mir ihr Sprungseil in die Beine warfen.

Ich bog ab, aber unglücklicherweise in dieselbe Straße, in der ungefähr hundert Meter weiter das Polizeirevier war:

„Haltet ihn! Haltet ihn!“

Es war das Halali. Ich mußte geradeaus weiter laufen, während durch die Rufe alarmierte Männer sich vom versammelten und mir den Weg versperrten.

Ein Typ pflanzte sich vor mir mit ausgestreckten Armen auf:

„Hier kommt keiner durch!“

Als Antwort schlug ich dem Amateurpolizisten mit der Faust ins Gesicht, während immer lauter gerufen wurde:

„Haltet ihn, es ist ein Anarchist!“

Da täuschte sich das Volk nicht:

Da der Amateur schlecht gekleidet war, wurde er für den Anarchisten gehalten!

Mit rührender Geschlossenheit rückte man dem mutigen Staatsbürger gewaltsam auf den Pelz:

„Aber ich bin es nicht!“ flehte er.

Vergeblich. Und das Ganze passierte so plötzlich und mit solchem Schwung, daß der Biedermann schon halb erschlagen war, als die Wachtmänner ankamen.

„Ich bin es nicht, ich bin es nicht!“ wiederholte er, indem er sich an meiner Jacke festklammerte.

„Willst Du den Mund halten“, sagten die Wachtmeister, indem sie ihm ins Gesicht schlugen, „Du bist noch schuldiger als er!“

In der allgemeinen Verwirrung glaubten diese betrunkenen Rüpel, der erbärmliche und übereifrige Kerl habe meiner Flucht Vorschub leisten wollen. Gleichzeitig wurde ich festgenommen und ziemlich rauh ins Polizeirevier zurückgebracht.

Die gemeine und lynchsüchtige Menge brüllte uns im Vorbeigehen an; im Spalier hoben alle ihre Fäuste und Stöcke in dem hysterischen Verlangen, anonyme Schläge auszuteilen.

Feiges Volk!

Und der Verwundete wurde ihr Zielobjekt!

Mein Schutz war, daß ich unverletzt und besserangezogen war und erhobenen Hauptes und festen Blickes einherschritt. Ein ranziger Fehltritt und ich wäre wie der andere behandelt worden.

Ich betrat das Polizeirevier nicht einmal mehr; der Polizeiwagen war gerade vorgefahren und wir fuhren zum Depot, während der gute Staatsbürger an meiner Stelle ins Loch gesperrt wurde.

 

Auf der Straße

Sollte ich sagen: von Mazas bis Jerusalem - und zurück (über Marseille, Sainte-Pélagie und das Depot)? Das könnte ich denken. Anläßlich der Beerdigung von Carnot treffe ich im Depot die Handvoll Genossen wieder, die bei jedem Feiertag einschließlich dem ersten Mai festgenommen werden.

Üblicherweise enden für sie diese Feierlichkeiten in Mazas.

Doch läßt mich fast augenblicklich der Direktor holen:

Ich sei frei.

Schwachsinnige Polizisten haben mich zu früh festgenommen. Sie haben die Dienstvorschrift überschritten, der gemäß sie mir wenigstens einige Stunden Freiheit gönnen müssen - die moralische Zeit also, um ein Vergehen begehen zu können. Na ja, wenn man es so eilig hat!

Der Schnitzer gibt mir einige Tage Frist. Und ich gehe ohne weitere Hemmnisse...

Um die Concièrgérie herum sind die kleinen Straßen und die Quais still, eine Art Übergang vor den schreienden Boulevards.

Schon sind die meinem Leben geraubten achtzehn Monate Vergangenheit.

Nur die Gegenwart ist von Bedeutung.

Ein Rekonvaleszent mag bei seiner ersten Entlassung verstört sein - ich habe die Lethargie des Gefängnisses schneller abgeschüttelt, weil die Art der Entlassung so heftig war. Jetzt betäuben mich die Passanten, die ich leicht streife, die lärmenden Wagen und die scharfe Luft nicht. Meinen Schritten ist der Pariser Pflasterstein immer noch vertraut.

Wo führen sie mich hin?

Etwa zu den Anarchisten?

Hier muß ich Schlüsse ziehen - ich bin kein Anarchist.

Vor dem Schwurgericht, sei es während der Untersuchung oder während der Sitzungen, habe ich diese Erklärung nicht geben wollen. Meine Worte der Wut oder des Mitleids wurden als anarchistisch bezeichnet - ich wollte keine lange Schlußrede vor der Drohung halten.

Jetzt aber gefällt es mir, meine ursprünglichen Gedanken zu präzisieren, das, was seit jeher mein Wille ist.

Und sie sollen sich nicht in Andeutungen verlieren.

Genauso wenig in der Anarchie zusammengeschlossen wie in den verschiedenen sozialistischen Richtungen eingereiht. Ein befreiter Mensch sein, einer, der alleinstehend immer weiter sucht - ohne aber durch einen Traum gebannt zu sein. Stolz genug sein, um sich außerhalb von Schulen und Sekten zu behaupten:

Der Außenseiter.

Die scherzhaften Novellisten haben einen eher oberflächlichen Kommentar über das „Draußen“ („Endehors“) gegeben und ausgerufen: „Es ist aber doch drinnen!“, als man uns ins Gefängnis warf.

Hier hebt sich nun vom grauen Hintergrund jeden Zweifels ab und tritt mit dem Glanz seiner kräftigen Farbe hervor:

- der Wille zum Leben.

Und das heißt, außerhalb der unterjochenden Gesetze zu leben, außerhalb der engen Regeln und sogar außerhalb der ideal für die zukünftigen Zeiten formulierten Theorien.

Leben, ohne an das göttliche Paradies zu glauben und ohne allzuviel auf das irdische zu hoffen.

Für die Gegenwart und außerhalb der Täuschung der zukünftigen Gesellschaften leben; leben und dieses Leben im hochmütigen Vergnügen des gesellschaftlichen Kampfes ertasten.

Das ist mehr als eine Geistesverfassung: es ist eine Wesensart - und zwar sofort.

Lange genug hat man die Menschen vorangetrieben, indem man ihnen die Eroberung des Himmels ankündigte. Wir wollen noch nicht einmal darauf warten, bis die ganze Erde erobert ist.

Jeder soll für seine Freude vorangehen.

Und wenn einige auf dem Weg stehenbleiben, wenn es Menschen gibt, die nichts wachrütteln kann, wenn es zu Sklaven geborene Menschen, unverbesserlich heruntergekommene Völker gibt, dann um so schlimmer für sie! Verstehen heißt, an der Spitze stehen. Und die Freude besteht darin, zu handeln. Wir haben nicht genug Zeit, um auf der Stelle zu treten: das Leben ist kurz. Individuell wollen wir den Stürmen entgegenlaufen, die uns fordern.

Man hat gesagt, es sei Dilettantismus. Er ist aber weder kostenlos noch platonisch: wir bezahlen für ihn...

Und fangen wieder von vorne an.

 

NAMENSVERZEICHNIS

Abdul-Hamid II. (1842-1918): Sultan der Türkei von 1876 bis 1909.

d ’Artagnan (um 1611-1673): Edelmann aus der Gaskogne und Kapitän der Musketiere von Ludwig XIV. Wurde durch Alexandre Dumas’ Roman „Die drei Musketiere“ (1814) berühmt.

Bertilion, Alphonse (1853-1914): Wissenschaftler, Erfinderder anthropometrischen Methode zur Identifizierung der Verbrecher.

Bondy: Ortschaft im Seine-Departement. Der umliegende Wald war lange Zeit ein berühmtes, gefährliches Räubernest.

La Cannebière: Prachtboulevard von Marseille, von der Stadtmitte zum alten Hafen.

Carnot, Sadi (1837-1894): Ingenieur und Politiker. Präsident der Republik seit 1887, wurde von dem Anarchisten Caserio in Lyon ermordet.

Clichy: Pariser Schuldturm in der Rue de Clichy.

La Concièrgérie: altes Pariser Gefängnis, das sich im Justizpalast befindet. Dort befanden sich während der Großen Revolution die zum Tode durch die Guillotine Verurteilten vor ihrer Hinrichtung.

Deibler: der derzeitige französische Scharfrichter.

Drumont, Edouard (1844-1917): Publizist und Politiker, einer der Führer der derzeitigen rechtsextremistischen, antisemitischen Partei. Begründer der Zeitung „LA LIBRE PAROLE“ (DAS FREIE WORT).

Epinal: Hauptstadt des Vogesen-Departements, wo seit dem Ende des 18.Jahrhunderts eine Art naiver Volksmalerei in Form von bemalten Bilderbögen betrieben wurde.

François der Erste (1494-1547): König von Frankreich von 1515 bis 1547.

Henry, Emile: hatte am 12. Februar 1894 eine Bombe ins Cafe Terminus in Paris geworfen; er wurde am 21. Mai desselben Jahres hingerichtet (wie seine Gesinnungsfreunde Vaillant und Caserio).

Der hinkende Teufel: Anspielung auf den Helden des gleichnamigen Romans - „LE DIABLE BOITEUX“ - von Lesage (1668-1747).

Lherot de Beaurepaire: Zo d’Axa hat diesen Namen aus den zwei folgenden, wirklichen Namen zusammengesetzt: Lherot war dieser Kellner im Restaurant Véry, der Ravachol (bei der Polizei) denunziert hatte. Nachdem die Anarchisten als Rache das Restaurant Véry - auf dem Boulevard Magenta - in die Luft gesprengt hatten, suchte Lherot, der dem Attentat unverletzt entkam, als Gefängniswärter in der Strafanstalt Melun Deckung. Beaurepaire - oder genauer: Quesnay de Beaurepaire - war der Generalstaatsanwalt, der mit der Verfolgung der Anarchisten beauftragt war.

Mangin, Arthur (1824-1887): frz. Literat und populärwissenschaftlicher Schriftsteller. Nahm an der Revolution von 1848 teil.

Pallikaren: griechisch: „die Tapferen“. Die Soldaten, die während des Unabhängigkeitskrieges Griechenlands gegen die Türkei kämpften.

Pellisson, Paul (1624-1693): Schriftsteller, Historiker und Mitglied der Academie Franpaise. Freund von Mademoiselle de Scudéry. Wurde, obwohl unschuldig, 5 Jahre in der Bastille eingekerkert (1661-1666).

Périchon: Symbolfigur des spießbürgerlichen Familienvaters auf der Reise, aus dem populären Theaterstück von Labiche (1815-1887).

Périer, Casimir (1777-1832): Bankier und Politiker. Leitete als Ministerpräsident ab 1831 die Unterdrückung der Aufstände in Paris und Lyon.

Pot-Bouille: Anspielung auf den gleichnamigen Roman von Zola.

Ramollot. Spitzname in der Soldatensprache für alte, nur in militärischen Schablonen denkende Offiziere. Wurde 1883 durch Charles Leroys Buch „LE COLONEL RAMOLLOT“ (OBERST RAMOLLOT) popularisiert.

Sainte-Pelagie: Dieses frühere Büßerinnenkloster wurde im Jahre 1792 zum Gefängnis, wo vor allem seit Napoleon I. politische Gefangene untergebracht wurden. Zahlreiche bekannte, wegen Pressevergehen verurteilte Schriftsteller und Journalisten saßen vor und nach Zo d’Axa in Sainte-Pelagie, bis es im Jahre 1899 niedergerissen wurde.

Vaillant: frz. Anarchist, warf am 9. Dezenber 1893 eine Bombe in die Abgeordnetenkammer, die aber niemanden tötete. Die Historiker (z.B. Bernard Thomas in „LES PROVOCATIONS POLICIERES“) sehen in dem Akt heute eine ohne das Wissen Vaillants manipulierte Polizeiprovokation, die die Verabschiedung von Repressionsmaßnahmen gegen die Bewegung ermöglichte; Vaillant wurde guillotiniert.

Villa Medicis: Seit 1801 kulturelle Stiftung für französische Künstler in Rom.

Thiers, Adolphe (1797-1877): Rechtsanwalt, Journalist und Staatsmann. Als Präsident der Republik im Jahre 1871 leitete er die Niederwerfung der Pariser Kommune.

 

[1] Bresci: italienischer Anarchist, der 1900 den König Umberto den 1. ermordet hatte.

[2] Einer nicht verifizierten Legende nach soll Zo d’Axa das aus dem väterlichen Vermögen geerbte Geld in 30 Teile geteilt haben, die der Jahreszahl entsprachen, die er nach eigener Schätzung noch leben würde.

[3] 1. Mai 1892 (Anm. d. Hg.)

[4] Anspielung auf den betreffenden Bischof, der den Namen Cauchon hatte. Französisch cochon — Schwein. (Anm. d. Hg.)

[5] im Original englisch; pickpocket — Taschendieb (Anm. d. Hg.)

[6] ursprünglich: Zeltlager für Familie und Gefolge eines Kriegsherrn (Anm. d. Hg.)

[7] Roumi: Arabische Bezeichnung für die Christen (Anm. d. Hg.)

[8] Polizisten (Anm. d. Hg.)

[9] frühere Bezeichnung für Dolmetscher und Vermittler in der Levante (Anm. d. Hg.)

[10] in diesem Fall: Vertrag, durch den die Rechte der christlichen Untertanen in den muselmanischen Ländern geregelt wurden. (Anm. d. Hg.)