Titel: Die allgemeine Lage
AutorIn: Kropotkin, Peter
Datum: 1885
Quelle: Aus: Peter Kropotkin – Worte eines Rebellen. rowohlt 1972. S.12-15
Bemerkungen: Französischer Originaltitel: "La situation". Erschienen in Original-Ausgabe unter dem Titel: Kropotkin, Petr A.: Paroles d'un révolté. Aus dem Französischen von Pierre Ramus (Rudolf Grossmann).

Unzweifelhaft gehen wir mit großen Schritten einer Revolution entgegen, einer Bewegung, die, in einem Lande ausbrechend, sich wie in 1848, durch alle benachbarten Länder ausbreiten und, die bestehende Gesellschaftsordnung bis ins Innerste erschütternd, die Quellen des Lebens erneuern wird.

Um unsere Behauptung zu stützen, brauchen wir nicht einmal die Aussagen eines berühmten, deutschen Geschichtsforschers1 oder eines sehr bekannten italienischen Philosophen2 anzuführen, die beide, nachdem sie die moderne Geschichtsforschung vertieft haben, zum Schluß kommen, daß eine große Revolution gegen Ende des Jahrhunderts unvermeidlich ist. Wir müssen nur das Bild beobachten, das sich in den letzten zwanzig Jahren vor unseren Augen entrollt hat: wir müssen nur sehen, was um uns her geschieht.

Wir werden dann zum Ergebnis kommen, daß sich zwei vorherrschende Tatsachen vom grauen Hintergründe dieses Gemäldes hervorheben: Das Erwachen der Völker, Seite an Seite mit dem moralischen intellektuellen und wirtschaftlichen Bankerott der herrschenden Klassen; und die ohnmächtigen, versagenden Anstrengungen der wohlhabenden Klassen, um dieses Erwachen zu verhindern.

Ja, das Erwachen der Völker!

In der dumpfen Fabrik, wie in der dunklen Arbeiterkneipe, in den Dachstuben, wie in den tropfenden Gängen des Bergwerkes entwickelt sich heute eine ganz neue Welt. In diesen düsteren Massen, die die Bourgeoisie in dem Maße verachtet, wie sie sie fürchtet, aus deren Schoß aber immer der Geist hervorgegangen ist, der die großen Erneuerer der Menschheit beseelte – da werden die schwersten Probleme der Nationalökonomie und der politischen Organisation, eines nach dem anderen aufgestellt, besprochen und auf neue Art, nach den Anforderungen der Gerechtigkeit, gelöst. Die Krankheiten der gegenwärtigen Gesellschaftsorganisation werden schonungslos aufgedeckt. Neue Bestrebungen entstehen, neue Ideen beginnen, sich zu entwickeln.

Die Meinungen kreuzen sich und wechseln ins Unendliche; aber zwei Hauptideen tönen bereits immer deutlicher aus diesem Stimmengewirr heraus: Die Abschaffung des privaten Eigentummonopols, der Kommunismus einerseits; und andererseits die Abschaffung des Staates, die freie Gemeinde, die internationale Vereinigung der arbeitenden Bevölkerungen. Zwei Wege streben demselben Ziele: der Gleichheit, zu. Nicht jener lügnerischen Formel der Gleichheit, welche die Bourgeoisie auf ihre Fahnen und ihre Gesetzbücher schreibt, um die Arbeitenden besser knechten zu können; sondern der wahren Gleichheit: Erde, Kapital, Arbeit für Alle.

Die herrschenden Klassen können lange versuchen, diese Bestrebungen zu unterdrücken. Sie können die Menschen einkerkern, die Schriften konfiszieren. Die neue Idee dringt doch in die Geister, bemächtigt sich der Herzen, wie vor Zeiten der Traum von den reichen und freien Ländern im Morgenland sich der Herzen der Leibeigenen bemächtigte, als sie den Reihen der Kreuzfahrer zuströmten. Die Idee kann für einen Augenblick schlummern; wenn man sie daran hindert, sich offen zu zeigen, kann sie den Boden untergraben; sie wird aber alsbald wieder erscheinen, stärker als je. Die Flut, die für einen Augenblick gesunken, steigt um so höher. Und vom Augenblick an, daß ein Versuch gemacht wird, die neue Idee zu verwirklichen, wird dieselbe sich den Augen aller Menschen in ihrer ganzen Einfachheit, mit all ihrer Anziehungskraft zeigen. Ein einziger gelungener Versuch – und das Bewußtsein ihrer Kraft wird die Völker zu heldenhaftem Tatenmut hinreißen.

Dieser Augenblick kann nicht mehr fern sein. Alles bringt ihn näher: das Elend selbst, das den Armen zum Denken zwingt, und die Zeiten der Arbeitslosigkeit, die den denkenden Menschen den engen Banden der Werkstatt entreißt, um ihn auf die Straße zu werfen, wo er die Laster und gleichzeitig die Unfähigkeit der herrschenden Klassen erkennen lernt.

Und während dieser Zeit, was tun sie, diese herrschenden Klassen?

Während die Naturwissenschaften einen Aufschwung nehmen, welcher an jenen des XVIII. Jahrhunderts, beim Herannahen der großen französischen Revolution erinnert; während kühne Erfinder jeden Tag neue Horizonte für den Kampf des Menschen mit den feindlichen Naturkräften eröffnen – bleibt die Sozialwissenschaft der Bourgeoisie stumm: sie käut ihre alten Theorien wieder.

Und weisen vielleicht diese herrschenden Klassen im praktischen Leben einen Fortschritt auf? – Keineswegs! Sie sind hartnäckig darauf versessen, die Fetzen ihrer alten Flaggen flattern zu lassen, den gemeinen Individualismus, die Konkurrenz zwischen den einzelnen Menschen und zwischen den Nationen, die Allmacht des zentralisierenden Staates zu verteidigen.

Sie gehen vom Schutzzollsystem zum Freihandel, vom Freihandel zum Schutzzollsystem über; von der Reaktion zum Liberalismus und vom Liberalismus zur Reaktion; vom Atheismus zum Muckertum und vom Muckertum zum Atheismus. Immer ängstlich, den Blick immerfort nach rückwärts gewandt, sind sie immer mehr und mehr unfähig, irgend etwas Dauerndes zu schaffen. Alles, was sie getan haben, hat ihre Versprechungen direkt Lügen gestraft.

Sie haben uns versprochen, diese herrschenden Klassen, uns die Freiheit der Arbeit zu sichern – und sie haben uns zu Sklaven der Fabrik, des Unternehmers, des Arbeitsaufsehers gemacht. Sie haben sich verpflichtet, die Industrie zu organisieren, uns den Wohlstand zu sichern – und sie haben uns die endlosen Wirtschaftskrisen und das Elend gegeben; sie haben Volksbildung versprochen – und es uns unmöglich gemacht, zu lernen; politische Freiheiten versprochen – und uns von Reaktion zu Reaktion geschleppt; den Frieden versprochen – und den Krieg, den endlosen Krieg herbeigeführt.

Sie haben alle ihre Versprechen gebrochen.

Aber das Volk ist dies müde; es fragt sich, wie es daran ist, nachdem es sich so lange von der Bourgeoisie betrügen ließ.

Die Antwort liegt in der heutigen wirtschaftlichen Lage Europas?

Die Krisen, ehedem ein vorübergehendes Übel, sind ständig geworden. Die Baumwollekrise und die Krise in der Metallurgie, der Uhrmacherei, alle brechen sie auf einmal aus und setzen sich bleibend fest.

Es gibt zur Zeit mehrere Millionen arbeitslose Arbeiter in Europa; zehntausende wandern bettelnd von Stadt zu Stadt oder rotten sich zusammen, um mit Drohungen Arbeit oder Brot zu fordern. Wie die französischen Bauern in 1787 zu tausenden auf den Landstraßen herumirrten, ohne auf dem reichen Boden Frankreichs, den die Aristokraten für sich mit Beschlag belegt hatten, ein Stückchen Boden zum Bebauen und eine Hacke zum Bearbeiten desselben zu finden – ebenso bleibt heute der Arm des Arbeiters unbeschäftigt, ohne das Rohmaterial, und das Werkzeug zu finden, das zum Produzieren notwendig, aber von einer Handvoll Müßiggänger mit Beschlag belegt ist.

Große Industrien werden vernichtet, große Städte veröden. Elend in England, besonders in England, denn da ist es, wo die «Nationalökonomen» ihren Prinzipien am stärksten Anwendung verschafft haben; Elend im Elsaß; Hungersnot in Spanien und Italien. Arbeitslosigkeit überall; und mit der Arbeitslosigkeit die Armut, die Not: bleiche Kinder. Frauen, die in einem Winter um fünf Jahre älter werden; Krankheiten, die mit großen Schritten die Arbeiter niedermähen – dahin sind wir durch ihre Herrschaft der Bourgeoisie gekommen!

Und sie reden uns noch von Mehrproduktion! Mehrproduktion! Dieweil der Kohlengräber, der Berge von Steinkohlen aufhäuft, nicht genügend hat, um sich im bittersten Winter ein Feuer zu gönnen? Während der Weber, der Kilometer von Stoffen herstellt, seinen zerlumpten Kindern ein Hemd versagen muß? Während der Maurer, der die Paläste baut, in einer elenden Höhle wohnt, und die Arbeiterin, die Meisterstücke von angekleideten Puppen verfertigt, nur ein zerlöchertes Umschlagtuch hat, um sich gegen alle Unbilden des Wetters zu schützen!

Ist es das, was sie «Organisation der Industrie» nennen? Man würde eher sagen, daß dies eine geheime Verschwörung der Kapitalisten ist, um den Arbeiter durch den Hunger gefügig zu machen.

Das Kapital, dieses Arbeitsprodukt der Menschheit, häuft sich in den Händen einiger Menschen an, und – so sagt man uns – zieht sich wegen mangelnder Sicherheit der Anlage von der Landwirtschaft und Industrie zurück.

Aber wo verkriecht es sich denn, wenn es aus den Geldschränken herauskommt?

Donnerwetter! Man kann es vorteilhafter anlegen! Es dient dazu, die Paläste der Reichen einzurichten; es wird gebraucht, um Kriege zu nähren. Oder man gründet eines Tages eine Aktiengesellschaft, keineswegs um etwas – was immer es sei – zu produzieren, sondern einfach, um in ein bis zwei Jahren skandalös bankrott zu machen, sobald sich die großen Gründer zurückgezogen und als «Erträgnis aus der Idee» einige Millionen eingesteckt haben. Oder aber mit diesem Kapital werden überflüssige Eisenbahnen gebaut, etwa über den Gotthard, in Japan, in der Saharawüste, wo immer man will - wenn nur die Rothschilde, die Gründer, der Oberingenieur und der Unternehmer jeder einige Millionen dabei verdienen! Mit besonderer Vorliebe aber stürzt sich das Kapital in die Spekulation: ins große Börsenspiel. Der Kapitalist spekuliert auf die voraussichtliche Preiserhöhung von Korn oder Baumwolle, oder auf eine politische Konjunktur, auf die Hausse, welche durch das Gerücht irgendeiner «Reform» oder einer diplomatischen Note entsteht; und oft – man sieht es alle Tage - mischen sich die Agenten der Regierung selbst in diese Spekulationen, um ihre Geschäfte dabei zu machen. Das Börsenspiel, das die Industrie zugrunde richtet, das nennen sie eine vernünftige Führung der Geschäfte! Dazu müssen wir sie – so sagen sie – erhalten!

Kurz, das wirtschaftliche Chaos kann nicht ärger sein!

Doch dieses Chaos kann nicht mehr lange dauern. Das Volk ist es müde, diese Krisen, welche durch die Habgier der herrschenden Klassen hervorgerufen werden, zu ertragen: Es will arbeitend leben und nicht für zwei oder drei Jahre erschöpfender, manchmal sicherer, aber immer schlecht bezahlter Arbeit Jahre des Elends – mit erniedrigender «Wohltätigkeit» vermischt – ertragen!

Der Arbeiter fängt an, die Unfähigkeit aller Regierenden einzusehen, ihre Unfähigkeit, die neuen Bestrebungen der Arbeitenden zu verstehen; ihre Unfähigkeit, die Industrie zu leiten, die Produktion und den Austausch der Produkte zu organisieren.

Das Volk wird bald das Ende der Bourgeoisherrschaft verkünden. Es wird seine Angelegenheiten in seine eigenen Hände nehmen, sobald der geeignete Augenblick dazu gekommen ist.

Dieser Moment kann infolge der Übel selbst, die an der Industrie nagen, nicht mehr lange zögern. Sein Kommen wird beschleunigt werden durch den Zerfall der Staaten, der sich heute mit rapider Schnelligkeit vollzieht.