Titel: Das Lohn-System
AutorIn: Kropotkin, Peter
Quelle: Entnommen am 5.6.2015 von www.anarchismus.at
Bemerkungen: Originaltext: Anarchistisch-communistische Bibliothek, Heft 4. Peter Krapotkine – Das Lohn-System. Uebersetzt aus dem Englischen und herausgegeben von der Gruppe „Autonomie“, London. Nachdruck ohne Impressum und Jahresangabe. Digitalisiert von www.anarchismus.at. Der Text wurde sprachlich aktualisiert und an heute gebräuchliche Schreibweisen angepasst – etwa geräth zu gerät, Collectivismus zu Kollektivismus, Principien zu Prizipien, Capital zu Kapital, Communismus zu Kommunismus etc.

I. Repräsentativ-Regierungen und Arbeitslohn

In ihren Plänen, die Rekonstruktion der Gesellschaft betreffend, begehen die Kollektivisten einen zweifachen Fehler. Während sie von der Abschaffung der Herrschaft des Kapitals sprechen, wünschen sie dennoch zwei Einrichtungen aufrecht zu erhalten, welche gerade die Grundlage dieser Herrschaft bilden, nämlich die Repräsentativregierungen und das Lohnsystem.

Was die Repräsentativregierung anbelangt, so bleibt es uns absolut unverständlich, wie intelligente Leute (und dieselben fehlen nicht unter den Kollektivisten) fortfahren können, Anhänger nationaler und Gemeinde-Parlamente zu sein, nach all den Lehren, welche uns über diesen Gegenstand ertheilt wurden, sei es in England oder in Frankreich, in Deutschland, der Schweiz oder in den Vereinigten Staaten Amerikas. Während man deutlich sehen kann, dass die parlamentarische Regierung überall in Verfall gerät, während ihre Prinzipien an sich — und nicht mehr die blosse Anwendung derselben — von allen Seiten aus kritisiert werden, wie können da gebildete Männer, die sich revolutionäre Sozialisten nennen, ein schon längst zum Tode verdammtes System aufrecht zu erhalten suchen.

Es ist allbekannt, dass die Repräsentativregierung ein System ist, welches von der schlauen Bourgeoisie ausgearbeitet wurde, um gegen das Königtum Front zu machen und zu gleicher Zeit ihre Herrschaft über die Arbeiter aufrecht zu erhalten und zu befestigen. Es ist die charakteristische Form der Bourgeois-Herrschaft. Ebenso ist es bekannt, dass die Bourgeoisie niemals ernstlich annahm, dass ein Parlament oder Gemeinderat wirklich eine Nation oder Stadt repräsentiert; einigermassen Gebildete wissen, dass dies unmöglich ist. Durch das Aufrechterhalten der parlamentarischen Regierung hat die Bourgeoisie einfach gesucht, dem Königtum und der landbesitzenden Aristokratie einen Damm entgegenzusetzen, ohne dem Volke Freiheiten zu gewähren. Es ist ferner klar, dass, wie das Volk sich seiner Interessen bewusst wird und wie die Verschiedenheit dieser Interessen zunimmt, so das System unbrauchbar wird. Und das ist es, warum die Demokraten aller Länder nach Linderungen oder Verbesserungen suchen, und keine Enden. Sie versuchen das Referendum und entdecken, dass es wertlos ist; sie sprechen von proportioneller Vertretung, von der Vertretung der Minoritäten und anderen parlamentarischen Utopien. Mit einem Wort, sie suchen das Unauffindbare aufzufinden, d.h. eine Vertretungsmethode, welche die Myriaden der verschiedenen Interessen der Nation repräsentieren soll; aber sie sind gezwungen anzuerkennen, dass sie auf einer falschen Fährte sind und die Intelligentesten von ihnen verlieren das Vertrauen in Regierungen durch Delegation.

Es sind blos die Sozialdemokraten und Kollektivisten, die dieses Vertrauen nicht verlieren, die versuchen, die sogenannte nationale Vertretung aufrecht zu erhalten; und das ist es, was wir nicht verstehen können.

Wenn ihnen unsere anarchistischen Prinzipien nicht passen, wenn sie dieselben für unanwendbar halten, so sollten sie, nach unserem Dafürhalten, doch wenigstens auszufinden suchen, welches andere Organisationssystem sich wohl gut einer Gesellschaft ohne Kapitalisten oder Privateigentümer anpassen liesse. Aber das Bourgeoissystem aufzunehmen — ein System schon in Verfall, ein fehlerhaftes System, wie noch je eines — und dasselbe mit einigen unschuldigen Ausbesserungen, wie das vorgeschriebene Mandat oder das Referendum, deren Nutzlosigkeit längst erwiesen, als gut zu proklamieren für eine Gesellschaft, welche die soziale Revolution überstanden, das ist, was uns absolut unverständlich erscheint, es sei denn, dass sie unter dem Namen soziale Revolution etwas von Revolution sehr Verschiedenes verstehen, ein geringfügiges Herumflicken an der bestehenden Bourgeois-Herrschaft.

Ebenso verhält es sich mit dem Lohnsystem. Wie können sie das Fortbestehen des Lohnsystems unter irgend welcher Form anerkennen, nachdem sie die Abschaffung des Privateigentums und den gemeinschaftlichen Besitz der Arbeitsinstrumente proklamiert haben? Und doch ist es das, was die Kollektivisten tun, indem sie die Wirksamkeit von Arbeitsscheinen rühmen.

Es ist begreiflich, wenn die englischen Sozialisten im ersten Teil dieses Jahrhunderts die Einführung von Arbeitsscheinen predigten; sie suchten einfach Kapital und Arbeit miteinander auszusöhnen. Sie wiesen die Idee, gewaltsam Hand an das Eigentum der Kapitalisten zu legen, zurück. Sie waren so wenig Revolutionäre, dass sie sich sogar bereit erklärten, sich einer kaiserlichen Gewalt zu unterwerfen, wenn diese ihre Cooperativ-Gesellschaften begünstige. Sie blieben von Grund aus, wenn auch wohlmeinende Glieder der Mittelklasse; und das ist es (Engels sagt so in seinem Vorwort zum kommunistischen Manifest), warum die Sozialisten jener Periode unter der Mittelklasse zu finden waren, während die fortgeschrittenen Arbeiter sich zum Kommunismus bekannten.

Wenn später Proudhon dieselbe Idee aufnahm, so ist dies wieder leicht zu verstehen. Was suchte er in seinem Mutualist-System, wenn nicht, das Kapital weniger schädlich zu machen, trotz Beibehaltung des Privateigentums, welches er vom Grund des Herzens aus verabscheute, aber doch als notwendig erachtete, zur Garantie des Individuums gegen den Staat? Weiter, wenn National- Ökonomen, mehr oder weniger der Mittelklasse angehörend, Arbeitsscheine zulassen, das ist zu verstehen. Ihnen macht es wenig Unterschied, ob der Arbeiter mit Arbeitsscheinen oder mit Münze, die das Bildniss der Monarchie oder der Republik trägt, bezahlt wird. Sie wollen bei dem kommenden Umsturz das Privateigentum retten, in Wohnhäusern, dem Grund und Boden, den Getrieben oder wenigstens in Wohnhäusern und dem zur Warenproduktion nötigen Kapital. Und um dieses Eigentum beizubehalten, sind Arbeitsscheine ganz zweckentsprechend.

Wenn der Arbeitsschein gegen Juwelen und Equipagen ausgewechselt werden kann, so wird der Hausbesitzer denselben bereitwillig als Mietzins annehmen. Und so lange die Wohnhäuser, das Feld und das Maschinengetriebe der bürgerlichen Klasse angehören, so lange wird es erforderlich sein, irgend etwas dieser zu erstatten, ehe sie euch erlaubt, auf ihren Feldern oder in ihren Fabriken zu arbeiten, oder in ihren Häusern zu logieren. Es wird erforderlich sein, Lohn an den Arbeiter zu zahlen, entweder in Gold oder in Papiergeld, oder in Arbeitsscheinen, umtauschbar für Bequemlichkeiten aller Art.

Aber wie können diese neue Lohnform und die Arbeitsscheine von Denjenigen anerkannt werden, welche zugeben, dass Häuser, Felder und Fabriken nicht mehr länger Privateigentum sind, sondern der Commune oder der Nation gehören?

II. Das kollektivistische Lohnsystem

Wir wollen dieses System der Arbeitsentlohnung, wie es von den englischen, französischen, deutschen und italienischen Kollektivisten [1] aufgestellt wird, einmal genau betrachten.

Es kommt ungefähr auf dieses heraus: jedermann arbeitet, sei es auf Feldern, in Fabriken, in Schulen, in Spitälern und was sonst nicht. Der Arbeitstag ist geregelt vom Staat, welchem das Land, die Fabriken, die Kommunikationsmittel und alles Übrige gehören. Jeder Arbeiter, nachdem er ein Tagewerk vollbracht, erhält einen Arbeitsschein, gestempelt, nehmen wir an, mit diesen Worten: Acht Stunden Arbeit. Mit dieser Note kann er sich irgend eine Sorte von Waren verschaffen, in den Lagerhäusern des Staates oder den verschiedenen Korporationen. Der Schein ist auf solche Weise teilbar, dass für eine Stunde Fleisch, für zehn Minuten Streichhölzer, oder für eine halbe Stunde Tabak damit gekauft werden kann. Anstatt zu sagen: „für zwei Pfennige Seife“, wird man nach der kollektivistischen Revolution sagen: für fünf Minuten Seife.

Die meisten Kollektivisten, welche an dem Unterschiede zwischen komplizierter (skilled) und einfacher (unskilled) Arbeit von den Bourgeois-Ökonomen (und auch von Marx) aufgestellt, festhalten, sagen uns, dass komplizierte oder professionelle Arbeit so und so viel mal höher bezahlt werden sollte, wie einfache Arbeit. So sollte eine Stunde der Arbeit des Arztes als von gleichem Wert betrachtet werden, wie zwei oder drei Stunden Arbeit der Wärterin oder wie drei Arbeitsstunden des Erdarbeiters. „Professionelle oder komplizierte Arbeit wird eine Vervielfachung von einfacher Arbeit sein“, sagt der Kollektivist Grönlund, denn diese Sorte Arbeit erfordert eine mehr oder weniger lange Lehrzeit.

Andere Kollektivisten, die französischen Marxisten z.B., machen diesen Unterschied nicht. Sie proklamieren „Lohngleichheit“. Der Arzt, der Lehrer und der Professor werden (in Arbeitsscheinen) nach demselben Massstabe bezahlt, wie der Erdarbeiter. Acht Stunden verwendet auf Krankenbesuch im Hospital, werden den gleichen Wert haben, wie acht Stunden auf Erdarbeiten oder in dem Bergwerk oder der Fabrik verwendet.

Andere machen noch eine weitere Konzession; sie lassen gelten, dass unangenehme oder ungesunde Arbeit, wie die in Abzugskanälen, nach einem höheren Massstabe angerechnet werden möchte, wie angenehme Arbeit. Eine Stunde Dienst in dem Graben, sagen sie, mag für zwei Stunden der Arbeit des Professors zählen.

Wir müssen noch hinzufügen, dass gewisse Kollektivisten für die Entlohnung der Korporationen im Grossen eintreten. So mag eine Körperschaft sagen: „Hier sind hundert Tonnen Stahl; um diese zu produzieren, haben hundert Arbeiter unserer Korporation zehn Tage gebraucht; da nun unser Arbeitstag aus acht Stunden besteht, so macht das achttausend Arbeitsstunden für hundert Tonnen Stahl, also acht Stunden die Tonne“. Daraufhin wird ihnen der Staat achttausend Arbeitsscheine auszahlen à eine Arbeitsstunde, und diese achttausend Noten werden so unter die Kollegen in der Giesserei verteilt, wie es diesen am Besten dünkt.

Und wieder, wenn hundert Kohlenbergwerker zwanzig Tage gebraucht haben, um achttausend Tonnen Kohlen zu graben, so werden die Kohlen zwei Stunden die Tonne wert sein und die sechszehntausend Noten à eine Stunde, welche die Bergwerker- Genossenschaft erhält, werden unter die Mitglieder nach deren Gutachten verteilt.

Entstehen Streitigkeiten, protestieren die Bergwerker und sagen, eine Tonne Stahl solle blos sechs Arbeitsstunden kosten statt acht, oder der Professor schlägt seinen Tag zweimal so hoch an wie die Wärterin, dann wird der Staat einschreiten und diese Streitigkeiten schlichten.

Dies ist in wenigen Worten die Organisation, welche die Kollektivisten aus der sozialen Revolution entspringen zu sehen wünschen. Wie wir gesehen haben, sind ihre Prinzipien, Kollectiv-Eigentum in den Arbeitsinstrumenten und die Entlohnung jedes Einzelnen im Verhältnis zu der Zeit, die er auf produktive Arbeit verwendet, die Produktivität seiner Arbeit in Betracht gezogen. Was ihr politisches System anbelangt, so würde es die parlamentarische Regierung sein, verbessert durch den öfteren Wechsel mit den am Ruder stehenden Personen, das vorgeschriebene Mandat, das Referendum, das ist, die allgemeine Abstimmung mit Ja und Nein, über Fragen, welche dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden. Wir müssen nun offen gestehen, dass uns dieses System als zur Realisation völlig unfähig erscheint.

Die Kollektivisten beginnen mit der Proklamation eines revolutionären Prinzips — die Abschaffung des Privateigentums — und sobald sie es proklamiert haben, verleugnen sie es, indem sie eine Produktions- und Konsumtions-Organisation einführen, welche an sich dem Privateigentum entspringt.

Sie proklamieren ein revolutionäres Prinzip und — unbegreifliche Vergesslichkeit — ignorieren die Folgen, welche ein Prinzip so verschieden von allen existierenden notwendigerweise nach sich ziehen muss. Sie vergessen, dass gerade der Akt der Abschaffung des individuellen Eigentums an den Produktionsmitteln (Land, Fabriken, Kommunikationsmittel, Kapital) die Gesellschaft in ein absolut neues Fahrwasser leiten, dass er die Produktion von oben bis unten umwandeln muss; und nicht blos die Produktions-Methode, sondern deren Endzwecke, dass alle alltäglichen Beziehungen der Individuen untereinander abgeändert werden müssen, sobald das Land, die Maschinen und alles Übrige als Gemeineigenthum gelten. Sie sagen: „Kein Privateigentum“, und sogleich beeilen sie sich, das Privateigentum, wie es sich täglich offenbart, aufrecht zu erhalten. „Ihr seid eine Gemeinde für Produktionszwecke“, sagen sie, „die Felder, die Werkzeuge, die Maschinen, gehören euch insgesamt. Alles was bis auf diesen Tag hervorgebracht wurde — diese Manufakturen, diese Eisenbahnen, diese Ladeplätze, diese Bergwerke — gehört euch Allen. Es wird nicht der geringste Unterschied gemacht betreffs der Teilnahme, welche irgendeiner von euch in der Vergangenheit an dem Herstellen dieser Maschinen, dem Graben dieser Minen oder dem Bauen dieser Eisenbahnen genommen hat.

„Aber von morgen an müsst ihr genau abwägen, wieviel Anteil jeder von euch am Herstellen der neuen Maschinen, am Graben der neuen Minen zu nehmen hat. Von morgen an müsst ihr den genauen Teil auszufinden suchen, welcher jedem von euch von dem neuen Produkt zufällt. Ihr habt jede Minute eurer Arbeitszeit zu zählen, ihr müsst aufpassen, auf dass nicht vielleicht ein Augenblick von eures Nachbars Arbeit wertvoller sei, wie einer der euren“.

„Ihr habt eure Arbeitsstunden und – Minuten zu berechnen, und da durch die Stunde nichts bestimmt wird, da in einer Baumwollspinnerei ein Arbeiter vier Maschinen zu gleicher Zeit beobachten kann, in einer anderen aber nur zwei bedient, so habt ihr die verwendete Muskelkraft, die Gehirn – und Nerventätigkeit abzuwägen. Ihr habt die Jahre eurer Lehrzeit gewissenhaft zu verrechnen, so dass ihr euren Anteil an der Produktion in der Zukunft genau abschätzen könnt. Und dies Alles, nachdem ihr erklärt habt, dass der Anteil, den ihr in der Vergangenheit genommen, ganz und gar nicht in Anschlag zu bringen ist“.

Nun, es ist uns klar, dass, wenn eine Nation oder eine Gemeinde sich eine Organisation gäbe wie diese, sie auch nicht einen Monat existiren könnte. Eine Gesellschaft kann sich nicht organisieren auf zwei sich absolut gegenüberstehenden Prinzipien, zwei Prinzipien, welche sich bei jedem Schritt widerstreiten. Und die Nation oder die Commune, welche sich auf diese Weise organisierte, wäre gezwungen, entweder zum Privateigentum zurückzukehren, oder sich sofort in eine kommunistische Gesellschaft umzuwandeln.

III. Ungleiche Entlohnung

Wir haben gesagt, dass die meisten kollektivistischen Schriftsteller verlangen, die Entlohnung in einer sozialistischen Gesellschaft solle sich richten nach dem Unterschied zwischen qualifizierter oder professioneller und einfacher Arbeit. Sie behaupten, dass eine Arbeitsstunde des Ingenieurs, des Architekten oder des Arztes, wie zwei oder drei Stunden Arbeit des Maurers oder der Wärterin gerechnet werden sollte. Und derselbe Unterschied, sagen sie, sollte gemacht werden zwischen solchen Arbeitern, deren Handwerke eine längere oder kürzere Lehrzeit erfordern und zwischen einfachen Taglöhnern.

Dieses ist in der bestehenden Bourgeoisgesellschaft der Fall; es muss auch der Fall sein in der zukünftigen kollektivistischen Gesellschaft.

Ja, aber diesen Unterschied festzusetzen, bedeutet das Beibehalten aller Ungleichheiten, wie sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft vorherrschen. Es heisst, im Vorhinein eine Grenze ziehen zwischen dem Arbeiter und zwischen Denen, welche ihn regieren. Es ist immer noch die Teilung der Gesellschaft in zwei verschiedene Klassen. Die Aristokratie der Gebildeten über die Plebejer mit den schwieligen Händen gestellt: eine Klasse verurteilt zum Dienste der anderen; es heisst, eine Klasse die andere durch Händearbeit nähren und kleiden, während dieser durch ihre Mussestunden die Gelegenheit gegeben wird, zu lernen, wie Denen zu gebieten, welche sich für sie plagen.

Ja noch mehr: es heisst, die Grundzüge, welche die bürgerliche Gesellschaft auszeichnen, aufnehmen und durch eine soziale Revolution sanktionieren. Es heisst, einen Missbrauch als Prinzip aufstellen, welchen man heute als in einer alten, ihrem Untergang nahen Gesellschaft verdammt.

Wir wissen sehr gut, was man uns erwiedern wird. Man wird uns von „wissenschaftlichem Sozialismus“ erzählen. Die Bourgeois-Ökonomen und auch Marx wird man zitieren, um zu beweisen, dass man gute Ursache hat, eine Lohnskala einzuführen: denn die „Arbeitskraft“ des Ingenieurs kostet die Gesellschaft mehr, wie die „Arbeitskraft“ des Erdarbeiters. Und in der Tat, haben die Ökonomen nicht zu beweisen gesucht, dass, wenn der Ingenieur zwanzigmal so viel Lohn erhält, wie der Erdarbeiter, es deshalb geschehe, weil die „notwendigen“ Kosten zur Produktion eines Ingenieurs viel bedeutender sind, wie die, welche erforderlich sind, einen Erdarbeiter zu produzieren. Sie konnten nicht mehr anders, nachdem sie einmal die undankbare Arbeit übernommen hatten, zu beweisen, dass Produkte sich austauschen, im Verhältnis zu der in ihnen enthaltenen, gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Ohne dieses wäre die Werttheorie Ricardo’s, von Marx aufgenommen und auf eigene Rechnung ausgegeben, nicht stichhaltig.

Aber wir wissen auch, wieviel Wahres in all diesem enthalten ist. Wir wissen, dass, wenn heute dem Ingenieur, dem Gelehrten und dem Arzt hundertmal so viel bezahlt wird, wie dem gewöhnlichen Arbeiter, es nicht wegen den „Produktions-Kosten“ dieser Herren geschieht. Es ist die Folge des Monopols auf Bildung. Der Ingenieur, der Gelehrte und der Arzt ziehen einfach ihren Profit aus ihrer eigenen Sorte von Kapital – ihrem Diplom, ihren Zeugnissen – gerade wie der Fabrikant seinen Profit aus der Fabrik zieht, oder wie der Adelige ihn aus seinem Geburtsrecht und seinem Titel zu ziehen pflegte. Das Universitäts-Diplom ist an Stelle der Geburtsliste der Adeligen aus alter Zeit getreten.

Was den Arbeitgeber anbelangt, welcher dem Ingenieur zwanzigmal so viel bezahlt, wie dem Handarbeiter, so ist die einfache Rechnung: wenn ihm der Ingenieur jährlich £4000 an Produktionskosten sparen kann, so bezahlt er ihm dafür £800. Und wenn er einen Werkführer sieht, der ein echter Sklaventreiber ist und ihm £40O in Handarbeit ersparen kann, so beeilt er sich, ihm £80 oder £9O jährlich anzubieten. Er gibt £1OO aus, wo er auf £1000 Gewinn rechnet; und das ist der Kernpunkt des kapitalistischen Systems.

Welche Logik ist denn darin, von den Produktionskosten der Arbeitskraft zu sprechen und zu sagen, dass ein Student, welcher eine fröhliche Jugend auf der Universität verlebte, ein Recht auf zehnmal höheren Lohn hat, wie des Bergarbeiters Sohn, welcher sich seit seinem elften Jahre in der Grube abhärmte? Ebenso gut hätte man Ursache zu sagen, dass der Kaufmann, welcher zwanzig Jahre Lehrzeit in einem Komptoir durchgemacht, ein Anrecht auf seine £4 den Tag hat, während er jedem seiner Arbeiter nur 4S. bezahlt.

Noch Niemand hat jemals die Produktionskosten der Arbeitskraft abgeschätzt. Und wenn ein Faulenzer die Gesellschaft mehr kostet wie ein ehrlicher Arbeiter, so ist es, wenn Alles in Betracht gezogen (die Kindersterblichkeit unter den Arbeitern, die Verheerungen durch unregelmässige Lebensweise, die frühzeitigen Sterbefälle), immer noch die Frage, ob nicht ein derber Taglöhner die Gesellschaft mehr kostet, wie ein Künstler.

Will man uns vielleicht sagen, dass z.B. der 1s. per Tag einer Londoner Arbeiterin und die 3d. per Tag der Auvergner Spitzenmacherin, welche über ihrer Arbeit erblindet, die Produktionskosten dieser Frauen repräsentieren? Es ist uns ganz genau bekannt, dass sie oft sogar für geringeren Lohn arbeiten, aber wir wissen auch, dass sie es nur tun, weil sie, dank unserer „vortrefflichen Organisation“, ohne diesen lächerlichen Lohn Hungers sterben würden.

Die bestehende Lohnskala erscheint uns als ein zusammengesetztes Produkt der Steuern, der gouvernementalen Vermittlung, des kapitalistischen Monopols — in einem Wort, des Staates und des Kapitals. Nach unserer Meinung sind alle Theorien, von Ökonomen über die Lohnskala aufgestellt, nur erfunden, um dadurch die bestehende Ungerechtigkeit zu rechtfertigen. Es ist unnötig, sie zu berücksichtigen.

Aber man wird nicht verfehlen, uns zu sagen, dass die kollektivistische Lohnskala auf alle Fälle ein Fortschritt sein wird. Es wird wenigstens besser sein, wird man sagen, eine Klasse von Leuten zu haben, die zwei oder dreimal soviel erhalten, wie den gewöhnlichen Lohnsatz, als Rothschild’s, die in einem Tage mehr in die Tasche stecken, als ein Arbeiter in einem ganzen Jahre verdienen kann. Sie wird wenigstens einen Schritt näher zur Gleichheit bilden.

Uns erscheint sie als einen Schritt weiter davon entfernt. In eine sozialistische Gesellschaft den Unterschied zwischen einfacher und professioneller Arbeit einzuführen, würde heissen, durch die Revolution einen Akt der Brutalität sanktionieren und als Prinzip aufstellen, welchem wir uns heute blos unterwerfen, und ihn doch die ganze Zeit als ungerecht erachten. Es würde eine Handlungsweise sein, nach der Manier der Herren vom 4. August 1789, welche in hochtrabenden Phrasen die Abschaffung der Feudalrechte proklamierten und am 8. August diese selben Rechte wieder bestätigten, indem sie die Jahresrente bestimmten, durch welche die Bauern von den Adeligen zurückgekauft werden konnten. Oder wieder, wie die der russischen Regierung in der Zeit der Emanzipation der Leibeigenen, als sie proklamierte, dass nunmehr das Land dem Adel gehöre, während es vorher als eine Misshandlung an den Bauern erachtet wurde, deren Land zu verkaufen.

Oder nehmen wir ein bekannteres Beispiel: Als die Commune von 1871 entschied, den Mitgliedern des Kommunalrates 12s. 6d. täglich auszuzahlen, und die National-Gardisten hinter der Schanze erhielten blos 1s. 3d., da applaudierten gewisse Personen diesem Beschluss, als einen Akt grosser demokratischer Gleichheit. Aber in Wirklichkeit tat die Commune dadurch nichts Anderes, als, sie bestätigte die herkömmliche Ungleichheit zwischen Offizieren und Gemeinen, Regierern und Regierten. Für ein opportunistisches Parlament wäre dieser Beschluss ein glänzender gewesen, aber für die Commune war er eine Verneinung ihres eigenen Prinzipes. Die Commune ward ihrem eigenen revolutionären Prinzip untreu und verdammte es gerade durch diesen Akt.

In dem gegenwärtigen System, worin ein Bismarck oder ein Salisbury sich selbst Tausende jährlich bezahlen, während ein Arbeiter sich mit weniger denn Hundert begnügen muss, wenn wir sehen, dass dem Werkführer zwei- oder dreimal soviel bezahlt wird, wie dem Arbeiter, und dass selbst unter den Arbeitern verschiedene Abstufungen bestehen, von 7s. oder 8s. per Tag bis herunter zu den 3d. der Näherin, so ist uns das zuwider.

Wir verdammen diese Abstufungen. Wir missbilligen nicht nur die hohen Gehälter der Minister, sondern auch den Unterschied zwischen den 8s. und den 3d. Das Eine ekelt einem so viel an, wie das Andere. Wir betrachten Beides als ungerecht; wir sagen, hinweg mit dem Privilegium auf Bildung wie mit dem Privilegium der Geburt.

Wir sind, Einige von uns, Anarchisten und Andere, Sozialisten, gerade weil uns diese Privilegien empören.

Wie können wir da auch noch diese Privilegien als Prinzip erheben? Wie können wir erklären, dass Privilegien auf Bildung die Grundlage einer Gesellschaft der Gleichheit sein sollen, ohne dieser selben Gesellschaft einen Schlag zu versetzen? Wessen man sich heute unterwirft, dem wird man sich nicht mehr unterwerfen in einer Gesellschaft, welche auf Gleichheit beruht. Der General über dem Soldaten, der reiche Ingenieur über dem Arbeiter, der Arzt über der

Wärterin empören uns jetzt schon; können wir sie dulden in einer Gesellschaft, welche in‘s Leben tritt, indem sie die Gleichheit proklamiert?

Sicherlich nicht. Die öffentliche Meinung, angehaucht von dem Geiste der Gleichheit, wird gegen solche Ungerechtigkeit revoltieren, sie wird sie nicht dulden. Es lohnt sich nicht der Mühe, auch nur den Versuch zu machen.

Das ist es, warum gewisse Kollektivisten, welche die Unmöglichkeit einsehen, in einer Gesellschaft, welche durch den Hauch der Revolution begeistert ist, eine Lohnskala aufrecht zu erhalten, eifrig für Lohngleichheit eintreten. Aber hier stossen sie gegen ebensogrosse Schwierigkeiten, und ihre Lohngleichheit wird zu einer Utopie, zur Realisation ebenso ungeeignet, wie die Lohnskala der anderen.

Eine Gesellschaft, welche von allen sozialen Reichtümern Besitz ergriffen und proklamiert hat, dass Alle ein Anrecht an diese Reichtümer haben, welchen Teil sie auch an der Erschaffung derselben in der Vergangenheit genommen haben mögen, wird gezwungen sein, jede Idee über Lohn aufzugeben, solle er in Geld oder in Arbeitsnoten bestehen.

IV. Gleiche Löhne gegen freien Kommunismus

„Jedem nach seinen Werken“, sagen die Kollektivisten, oder vielmehr gemäss seiner Dienste, die er der Gesellschaft leistet. Und dies ist das Prinzip, welches sie als gesellschaftliche Grundlage empfehlen, nachdem die Revolution alle Arbeitswerkzeuge und Alles zur Produktion Notwendige zum Gemeineigentum gemacht hat.

Nun, wenn die soziale Revolution so unglücklich sein sollte, dieses Prinzip zu proklamieren, so würde dies eine lange, lange Verzögerung des menschlichen Fortschritts bedeuten, und ein Bauen auf Sand sein; es würde das gewaltige soziale Problem ungelöst lassen, welches uns durch die vergangenen Jahrhunderte aufgebürdet worden ist.

Es ist wahr, dass in einer Gesellschaft wie der unserigen, in welcher wir sehen, dass je mehr ein Mann arbeitet, desto weniger Bezahlung er erhält, das Prinzip auf den ersten Blick ein Ausdruck der Gerechtigkeit zu sein scheint. Aber im Grunde ist es nur die Sanktion aller bestehenden Ungerechtigkeiten. Mit diesem Prinzip fing das Lohnsystem an, um da zu enden, wo es heute steht: in schreiender Ungleichheit und allen Greueln der gegenwärtigen Zustände. Und es hat so geendet, weil von dem Tage an, da die Gesellschaft anfing die Dienste in Geld oder in anderen Sorten von Löhnen abzuschätzen, von dem Tage, an welchem gesagt wurde, dass jeder nur das bekommen solle, was ihm durch Arbeit zu verdienen gelingt, die Geschichte des Kapitalismus (mit Hilfe des Staats) im Voraus geschrieben war. Seine Keime waren in diesem Prinzip eingeschlossen.

Müssen wir denn wieder zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren und noch einmal den Prozess der kapitalistischen Evolution durchmachen? Unsere Theoristen wünschen dies; aber glücklicherweise ist dies unmöglich. Die Revolution wird kommunistisch sein; oder sie wird in Blut ertränkt werden

Die Dienste, welche der Gesellschaft geleistet werden, sei es Fabrik-, Feld- oder geistige (moralische) Arbeit, können nicht in Geldeinheiten abgeschätzt werden. Es kann weder für ihren sog. „Tauschwert“ noch ihren Gebrauchswert ein genaues Mass gefunden werden. Wenn wir 2 Leute vor uns haben, die jahrelang täglich 5 Stunden für die Commune in zwei verschiedenen ihnen zusagenden Berufsarten arbeiten, so können wir sagen, dass Alles in Allem genommen ihre Arbeiten ungefähr gleichwertig sind. Aber ihre Leistungen können nicht so in Bruchteile aufgelöst werden, dass das Produkt eines jeden Tages, einer jeden Stunde und einer jeden Minute des Einen das Produkt des Anderen für dieselbe Zeit wert sein würde.

Höchstens können wir sagen, dass ein Mensch, der sich täglich seiner Musse oder freien Zeit im Dienste der Commune 10 Stunden lang beraubt, der Gesellschaft mehr gegeben hat, als Derjenige, welcher täglich nur 5 Stunden arbeitet oder wohl gar keinen Teil seiner Zeit in nützlicher Arbeit verwendet. Aber wir können nicht das, was er in irgend 2 Stunden, 2 Tagen oder 2 Jahren vollbracht hat, nehmen und sagen, dass dies Produkt genau zweimal so viel wert ist als das des Anderen, und beide demgemäss ablohnen.

Um dies zu tun, müssten wir Alles übersehen, was in der Industrie, Agrikultur und dem ganzen Leben der Gesellschaft vielfach zusammengesetzt ist; dies System würde die gänzliche Nichtberücksichtigung des Zusammenhangs der früheren und gegenwärtigen Arbeiten der Individuen und der Gesellschaft als ein Ganzes sein. Es würde heissen, sich in das Steinalter zurückversetzen, während wir im eisernen Zeitalter leben.

Nehme man, ganz einerlei was, ein Kohlenbergwerk zum Beispiel — und sehe, ob die geringste Möglichkeit vorhanden ist, die Dienste eines jeden Individuums, das mit Kohlengewinnung beschäftigt ist, zu messen und abzuschätzen.

Sehet den Mann an der ungeheuren Maschine, welche den Fahrstuhl in einem modernen Bergwerk hinunterlässt oder hebt. Er hält in seiner Hand einen Hebel, welcher die Maschine in Bewegung setzt, zum Stillstand bringt oder umkehrt. Er hält den Fahrstuhl an, sendet ihn im Nu in einer entgegengesetzten Richtung hinweg; er lässt ihn mit schwindelerregender Schnelle hinab in die Tiefe. Er folgt einem Zeiger an der Wand, welcher ihm auf einer kleinen Skala zeigt, wo sich der Fahrstuhl zu irgend einer Zeit in der Grube befindet. Seine ganze Aufmerksamkeit ist auf diesen Zeiger gerichtet, und wenn derselbe eine gewisse Ebene erreicht hat, bringt er plötzlich den Lauf des Fahrstuhls keinen Meter über oder unter der gewünschten Stelle zum Stillstand. Dann, wenn kaum die Zahl der „Hunde“ geleert und weggeräumt ist, kehrt er den Hebel um und der Fahrstuhl geht wieder in den leeren Raum.

Während 8 oder 10 Stunden gibt er dem Werke anhaltend seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Lässt sein Gehirn nur einen Augenblick den Dienst versagen, der Fahrstuhl wird in die Höhe gegen die Welle fliegen, dieselbe zertrümmern, die Seile zerreissen, die Menschen zermalmen und alle Arbeit in der Mine zum Stillstand bringen. Im Falle er 3 Sekunden nach jeder Umkehrung des Hebels verliert, würde die Ausbeute einer Mine mit allen modernen Verbesserungen um 20 bis 50 Tonnen täglich verringert werden.

Nun denn: ist er es, der dem Bergwerk die grössten Dienste leistet? Oder ist es vielleicht der Knabe, welcher von unten das Signal zum Aufziehen des Fahrstuhls gibt? Oder ist es der Bergmann, der jeden Augenblick sein Leben in der Tiefe wagt und der eines Tages durch Grubengase oder Feuerdämpfe getötet werden wird? Oder der Ingenieur, welcher die Kohlenader verlieren und die Leute veranlassen würde, blosses Gestein auszuhauen, durch einen blossen Fehler in der Zusammenstellung seiner Berechnungen? Oder endlich, ist es, wie die Ökonomisten behaupten (denn auch sie sind für Entlohnung gemäss der „Taten“, welche sie in ihrer eigenen Weise berechnen), der Eigentümer, der sein ganzes Erbteil in das „Konzern“ gesteckt hat und der vielleicht im Widerspruch mit allen früheren Vermutungen gesagt hat: „Grabe da, du wirst ausgezeichnete Kohle finden.“

Alle Arbeiter im Kohlenbergwerk tragen im Verhältniss ihrer Kräfte, Ausdauer, Intelligenz und Geschicklichkeit das Ihrige zur Gewinnung von Kohle bei. Und das Geringste, was wir verlangen können, ist, dass Alle ein Recht haben zu leben, ihre Bedürfnisse und sogar ihre Launen und Liebhabereien zu befriedigen, nachdem die unabweislichen Bedürfnisse Aller befriedigt worden sind.

Aber wie können wir ihre Leistungen abschätzen?

Und dann: ist die Kohle, welche sie gegraben haben, gänzlich das Ergebniss ihrer Arbeit? Ist sie nicht auch das Resultat der Arbeit Derjenigen, welche die Eisenbahnen nach und von den Minen gebaut haben. Und wie steht‘s mit der Arbeit Derer, die den Boden bebaut und die Felder besät und die Ernten eingebracht haben, womit die Bergleute ernährt werden, und mit Denjenigen, welche das Eisen ausgegraben und geschmiedet, das Holz im Wald gehauen und die Maschinen gebaut haben, welche die Kohlen verbrauchen u.s.f.?

Keine scharfe Linie kann zwischen dem Werk des Einen und dem der Anderen gezogen werden. Dasselbe nach den Arbeitsprodukten zu messen, ist lächerlich. Es zu teilen, um es nach Stunden, Tagen etc. zu schätzen, führt ebenfalls zur Lächerlichkeit. So bleibt denn nur ein Weg: die Erzeugnisse der Arbeit gar nicht zu messen, sondern das Recht Aller, welche an der Produktion Teil genommen haben, auf die Bedürfnisse und Genüsse des Lebens anzuerkennen.

Nehmt irgend einen anderen Zweig menschlicher Tätigkeit, nehmt unsere Existenz als ein Ganzes und sagt mir, wer von uns den grössten Antheil der Produkte, den höchsten Lohn in Anspruch zu nehmen berechtigt ist?

Der Arzt, welcher die Krankheit erraten, oder die Wärterin welche die Heilung des Patienten durch ihre Mühe und Sorgfalt gesichert hat? Der Erfinder der ersten Dampfmaschine, oder der Knabe, der eines Tages, als er es müde war, den Strang zu ziehen, welcher ehemals das Ventil öffnete, um den Dampf unter das Piston (Kolben) zu lassen, das Seil an dem Hebel der Maschine befestigte und fortging, um mit seinen Kameraden zu spielen, ohne zu ahnen, dass er den Mechanismus erfunden hatte, der ein wesentlicher Teil aller modernen Maschinen ist, nämlich das automatische Ventil? Der Erfinder der Lokomotive oder der Newcastle Arbeiter, welcher erklärte, dass hölzerne Eisenbahnschwellen den Platz von steinernen einnehmen müssten, weil sie elastischer seien als die von Stein, welche ehemals die Züge vom Geleise zu werfen pflegten wegen ihres Mangels an Elastizität? Der Lokomotivführer oder der Signalmann oder Weichensteller, der den Zug anhält oder den Weg für ihn öffnet?

Oder nehmt das transatlantische Kabel. Wer hat am meisten für die Gesellschaft getan: Der Ingenieur, welcher darauf bestand, dass das Kabel Telegramme übermitteln könne, während die gelehrten Elektriker erklärten, dass dies unmöglich sei? Oder Maury, der Sachkundige, welcher vom Gebrauch dicker Leitungsdrähte abriet und die Legung von solchen empfahl, die nicht dicker als ein Spazierstock seien? Oder waren es die Freiwilligen, welche kamen von — Niemand weiss woher — und Tag und Nacht auf dem Verdeck des „Great Eastern“ zubrachten, aufmerksam jeden Fuss des Kabels untersuchten und vorsichtig jeden Nagel auszogen, welchen die Aktionäre der maritimen Gesellschaft in ihrer Unwissenheit in die isolierende Umhüllung des Kabels hatten eintreiben lassen, was ihn unbrauchbar machte?

Und auf einem noch weit grösseren Gebiete, dem wahren Gebiete des menschlichen Lebens, mit seinen Freuden, seinen Sorgen und den verschiedenen Vorkommnissen, denen es unterliegt, kann nicht jeder von uns Personen nennen, die ihm in seinem Leben so grosse, wichtige Dienste geleistet haben, dass er jegliches Verlangen, dieselben in Geld abzuschätzen, mit Entrüstung zurückweisen würde? Diese Dienste mögen ein blosses Wort, nichts als ein Wort zu rechter Zeit, oder es mögen Monate oder Jahre von Aufopferung gewesen sein. Werdet ihr diese Dienste, die wichtigsten von allen, in Arbeitsscheinen bezahlen?

„Die Werke eines jeden!“ Die menschliche Gesellschaft könnte nicht zwei aufeinanderfolgende Generationen bestehen, sie würde in 50 Jahren von der Erde verschwinden, wenn jeder nicht unendlich Mehr gäbe, als er in Geld, „Noten“ oder bürgerlicher Anerkennung zurückerhält. Es würde die Ausrottung unserer Rasse bedeuten, wenn die Mutter nicht ihr ganzes Leben zur Erhaltung ihrer Kinder zu opfern bereit wäre; wenn jedermann nicht ausgäbe, ohne die Kosten zu zählen; wenn Menschen nicht ganz besonders geneigt wären, da zu geben, wo sie auf keine Belohnung rechnen können.

Wenn die Gesellschaft der Mittelklasse dem Ruin entgegengeht, wenn man in eine Sackgasse geraten ist, aus welcher es kein Entrinnen gibt, ohne die Axt an den Giftbaum des Lohnsystems und die Institutionen der Vergangenheit zu legen, so kommt dies gerade daher, dass wir zu viel gerechnet haben — eine famose Methode für Müssiggänger und gemeine Kerle (blackguards). Es kommt daher, weil wir uns haben verleiten lassen, nicht zu geben, ohne zu empfangen; weil wir gewünscht haben, aus der Gesellschaft eine Handelsgesellschaft zu machen, gegründet auf Soll und Haben.

Die Kollektivisten wissen dies. Sie begreifen einigermassen, dass die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn sie folgerecht das Prinzip „Jedem nach seinen Werken“ ausführt. Sie vermuten, oder fürchten, dass die Bedürfnisse — wir sprechen jetzt nicht von Launen — des Einzelnen nicht stets mit seinen Leistungen im Einklang stehen.

Deshalb sagt De Paepe: „Dies gänzlich individualistische Prinzip wird gemildert werden durch soziale Intervention für die Erziehung der Kinder und jungen Leute und soziale Einrichtungen für die Hilfe und Pflege der Kranken und Gebrechlichen und Asyle für alte Arbeiter etc.“

Sie wissen, dass ein 40jähriger Mann mit drei Kindern grössere Bedürfnisse hat, als ein Jüngling von zwanzig Jahren; dass eine Frau, die ihr Kind säugt und schlaflose Nächte an seiner Wiege zubringt, nicht so viele Werke verrichten kann, wie der Mann, der einen ruhigen Schlaf genossen hat.

Sie scheinen zu verstehen, dass ein Mann oder eine Frau durch übermässige Arbeit für die Gesellschaft entkräftet, unvermögend sind, so viele Werke zu verrichten, wie diejenigen, welche ihre Arbeitsstunden gemächlich verausgaben und ihre „Noten“ in den privilegierten Beamtenstuben der Staats-Statistiker in Empfang nehmen.

Und sie beeilen sich, ihr Prinzip zu mildern. O, gewiss, sagen sie, die Gesellschaft wird ihre Kinder erziehen! O, gewiss, sie wird die Alten und Gebrechlichen unterstützen. Gewiss; Bedürfnisse und nicht Taten werden das Mass der Kosten bestimmen, welche die Gesellschaft sich selbst auflegen wird, um das Prinzip der Leistungen zu mildern.

Was? Wohltätigkeit? Menschenliebe durch den Staat organisiert? Verbessert das Findelhaus, errichtet Alters- Versorgungs- und Krankenkassen, und das Prinzip wird gemildert sein!

Sodann, nachdem sie den Kommunismus verleugnet, nachdem sie mit Wohlbehagen den Grundsatz „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ verlachten, ist es nicht in die Augen springend, dass sie ebenfalls einsehen, dass die grossen Ökonomen etwas vergessen hatten — die Bedürfnisse der Produzenten? Und dann eilen sie, dieselben anzuerkennen. Nur muss es der Staat sein, welcher sie abzuschätzen hat. Es muss der Staat sein, welcher ausfinden wird, ob nicht die Bedürfnisse zu den Werken im unrichtigen Verhältniss stehen, um, wenn dies der Fall ist, diese Bedürfnisse auch zu befriedigen. Es wird der Staat sein, welcher Almosen an Diejenigen austeilt, die ihre Unterwertigkeit anerkennen. Von da bis zum Armengesetz und Armenhaus ist nur ein Schritt.

Es ist nur ein Schritt; denn sogar diese Stiefmutter eurer Gesellschaft, welche uns zuwider ist, hat es auch notwendig gefunden, ihr individualistisches Prinzip zu mildern. Auch sie hat Konzessionen im kommunistischen Sinne zu machen, und unter derselben „Wohltätigkeitsform“.

Sie verteilt Pfennigmahlzeiten, um die Plünderung ihrer Stores zu verhindern. Sie baut auch Hospitäler, oft sehr schlechte, oft gute, um den Verwüstungen von ansteckenden Krankheiten vorzubeugen. Auch sie, nachdem sie blos für die Arbeitsstunden gezahlt, empfängt die Kinder Derjenigen, welche sie selbst in’s äusserste Elend gestürzt hat. Sie berücksichtigt auch die Bedürfnisse — in der Form von Armenhaus-Wohltätigkeit.

Armut, die Existenz der Armen, war die erste Ursache des Reichtums. Sie war es, welche den ersten Kapitalisten schuf. Denn ehe die Aufhäufung des Mehrwertes, von welchem so viel gesprochen wird, beginnen konnte, war es notwendig, dass arme Teufel vorhanden waren, welche lieber ihre Arbeitskraft verkauften, als dass sie Hungers starben. Die Armut hat die Reichen geschaffen.

Und wenn die Armut im Mittelalter sich so rasch ausbreitete, so geschah dies in Folge der endlosen aufeinanderfolgenden Invasionen und Kriege. Die Gründung von Staaten und das Wachstum ihrer Autorität, der Reichtum, der durch Raub im Osten gewonnen wurde und viele andere Ursachen ähnlicher Natur zerrissen die Bande, welche ehemals ländliche und städtische Gemeinwesen miteinander vereinigten und verleitete dieselben, an der Stelle von Solidarität, welche sie früher ausübten, dieses Prinzip zu proklamieren: „Der Teufel hole die Bedürfnisse! Leistungen allein sollen bezahlt werden und jeder sorge für sich selbst, so gut er kann!“

Und ist dies das Prinzip, welches das Resultat der sozialen Revolution sein soll? Ist dieses Prinzip würdig, mit dem Namen der sozialen Revolution in Verbindung gebracht zu werden, diesem Namen, den Hungrigen, Leidenden und Bedrückten so teuer?

Aber so wird es nicht sein; denn an dem Tage, wo die veralteten Institutionen von der Axt des Proletariats in Splitter fallen, wird eine grosse Zahl von Männern und Frauen rufen: Brot für Alle! Obdach für Alle! Recht auf die Genüsse des Lebens für Alle! Und diese Rufe werden gehört werden. Die Menschen werden sich sagen: Lasst uns damit beginnen, dass wir unsere Bedürfnisse befriedigen für‘s Leben, für Vergnügen, für Freiheit. Und wenn Alle von diesem Glück genossen, werden wir an‘s Werk gehen, auch die letzten Reste der Bourgeoisherrschaft zu vernichten, ihre Moral, aus dem Kassenbuch gezogen, ihre Philosophie des Soll und Haben, ihre Institutionen von Mein und Dein. Und während wir vernichten, werden wir aufbauen, wie Proudhon sagte; aber wir werden auf neue Fundamente bauen, auf die Fundamente des Kommunismus und der Anarchie, und nicht auf die des Individualismus, der Autorität und der „Wohltätigkeit“ durch den Staat.

[1] Die spanischen Anarchisten, welche fortfahren, sich Kollektivisten zu nennen, verstehen unter diesem Ausdruck den gemeinsamen Besitz der Arbeitsinstrumente und „die Freiheit einer jeden Gruppe, ihre Arbeits-Produkte nach eigenem Gutdünken zu verteilen“; nach kommunistischem Prinzip oder auf irgend andere Weise.