Titel: Die industrielle Domestizierung
AutorIn: Roc, Léopold
Datum: Juni 1987
Bemerkungen: Text entnommen dem Buch :„Os Cangaceiros – Ein Verbrechen namens Freiheit“. Herausgegeben von Cumbula Velifera & Unruhen Publikationen, Amsterdam, September 2013. Originaltext: „La domestication industrielle“ in Os Cangaceiros, Nr. 3, S. 43, Juni 1987

„Wenn sich das Kapital der Wissenschaft bemächtigt, wird der aufsässige Arbeiter immer gezwungen sein zu gehorchen.“ Andrew Ure, The Philosophy of Manufactures, 1835

„Als früher jemand einen Geschäftsmann als Arbeiter bezeichnete, riskierte dieser eine Schlägerei. Wenn man ihnen heute aber erzählt, dass Arbeiter eine wichtige Rolle innerhalb des Staates spielen, bestehen sie alle darauf Arbeiter zu sein.“ M. May, 1848

Der Begriff der industriellen Revolution, der häufig benutzt wird um die Periode von 1750 bis 1850 zu bezeichnen, ist eine reine bürgerliche Lüge, ähnlich die der politischen Revolution. Er beinhaltet nicht das Negative und geht von einer Vision der Geschichte aus, die die technologischen Fortschritte als einzige Geschichte betrachtet. Dies ist ein doppelter Erfolg für den Feind, der so die Existenz von Managern und einer Hierarchie als die unausweichliche Konsequenz der technischen Notwendigkeiten legitimiert, und der eine mechanische Konzeption des Fortschritts vorschreibt, welcher als positives Gesetz und als sozial neutral angesehen wird. Es ist der religiöse Moment des Materialismus, der Idealismus der Materie. Eine solche Lüge war selbstverständlich für die Armen bestimmt, bei denen sie bleibende Schäden hinterlassen sollte. Um sie zu widerlegen, reicht es aus, sich an die Fakten zu halten. Die Mehrheit der technischen Innovationen, die die Entwicklung der Fabriken ermöglicht haben, wurde bereits eine gewisse Zeit zuvor entdeckt, blieb bis zu jenem Zeitpunkt aber noch ungenutzt. Ihre großräumige Anwendung ist keine mechanische Konsequenz, sondern hat ihren Ursprung in einer historisch datierten Entscheidung der herrschenden Klassen. Diese Entscheidung beruhte nicht so sehr auf den Sorgen der reinen technischen Effizienz (eine oft sehr fragwürdige Effizienz), sondern vielmehr auf einer Strategie der sozialen Domestizierung. Die industrielle Pseudo-Revolution läuft somit auf ein Unternehmen der sozialen Konter-Revolution hinaus. Es gibt nur einen einzigen Fortschritt: den Fortschritt der Entfremdung.

In dem davor bestehenden System genossen die Armen noch eine große Unabhängigkeit während der Arbeit, die sie gezwungen waren zu verrichten. Die vorherrschende Form war die heimische Werkstatt: die Kapitalisten liehen den Arbeitern Werkzeuge, versorgten sie mit Rohstoffen, und kauften ihnen die Fertigprodukte am Ende wieder für schändliche Preise ab. Die Ausbeutung war für die Arbeiter bloß ein Moment des Geschäfts, über den sie keine direkte Kontrolle ausübten. Die Armen konnten ihre Arbeit noch als eine „Kunst“ bezeichnen, bei welcher sie einen beträchtlichen Spielraum an Entscheidungen besaßen. Vor allem aber blieben sie Herr über die Nutzung ihrer Zeit: ihre Arbeitszeit entzog sich jeder Berechnung, da sie zu Hause arbeiteten und aufhörten, wenn sie es für angebracht hielten. Ihre Arbeit war charakterisiert durch Abwechslung und Unregelmäßigkeit, da die heimische Werkstatt in den meisten Fällen bloß eine Ergänzung zu den landwirtschaftlichen Aktivitäten war. Daraus ergaben sich Fluktuationen der industriellen Aktivität, die nicht mit dem harmonischen Aufstieg des Handels vereinbar waren. Die Armen besaßen somit noch eine beträchtliche Macht, die sie fortwährend anwendeten. Die Praxis der Veruntreuung von Rohstoffen war an der Tagesordnung und versorgte einen ausgedehnten parallelen Markt. Vor allem konnten diejenigen, die zu Hause arbeiteten, Druck auf ihre Arbeitgeber ausüben: die häufigen Zerstörungen von Webstühlen waren eine Methode der „Kollektivverhandlung durch Aufruhr“ (Hobsbawm). Geld her oder wir schlagen alles kurz und klein!

Das Bürgertum war gezwungen, den Arbeitsbereich gezielt zu kontrollieren, falls es diese bedrohende Unabhängigkeit der Arbeiter ausradieren wollte. Dies war der Grund für die allgemeine Verbreitung der Fabriken. Es ging darum, den Arbeitsbereich zu autonomisieren, zeitlich und geographisch. „Es sind nicht so sehr die absolut Müßigen, die die Allgemeinheit stören, sondern diejenigen, die nur die Hälfte ihrer Zeit arbeiten“, schrieb schon Ashton 1725. Das Wesen des Militärs wurde auf die Industrie angewendet, und die Fabriken wurden wortwörtlich nach dem Modell der Gefängnisse gebaut, welche zudem deren Zeitgenossen waren. Eine gigantische Umfassungsmauer trennte sie von allem, was nicht zur Arbeit gehörte, und es wurden Wachen eingestellt, um diejenigen zurückzuhalten, die es anfangs für selbstverständlich hielten, ihre unglückseligen Freunde besuchen zu gehen. Im Inneren hatten drakonische Regeln den eigentlichen Zweck, die Sklaven zu domestizieren. Ein Schriftsteller hatte 1770 einen neuen Plan vorgeführt um Arme hervorzubringen: das Haus des Schreckens, in dem die Bewohner täglich vierzehn Stunden festgehalten werden und mithilfe einer Hungerdiät an der Leine gehalten werden. Seine Idee war der Realität nur kurz vorausgegangen: eine Generation später hat man das Haus des Schreckens ganz einfach Fabrik genannt.

Es war in England, wo die Fabriken sich zuerst ausbreiteten. In diesem Land hatten die herrschenden Klassen ihre internen Konflikte schon seit langem überwunden und sie konnten sich deshalb ungebremst der Leidenschaft des Handels hingeben. Die Repression, die auf die Niederlage des millenaristischen Angriffs der Armen[1] folgte, hatte den Weg für die industrielle Gegenoffensive geebnet. Die Armen in England hatten also das traurige Schicksal, dass sie als erste die ganze Brutalität eines sich entwickelnden sozialen Mechanismus zu spüren bekamen. Es ist selbstredend, dass sie ein solches Schicksal als eine absolute Erniedrigung betrachteten, und diejenigen, die dieses Schicksal akzeptierten, mussten mit der Verachtung ihrer Mitmenschen rechnen. Bereits zu Zeiten der Levellers war es üblich anzunehmen, dass diejenigen, die ihre Arbeitskraft gegen einen Lohn verkauften, in der Tat die Rechte der „frei geborenen Engländer“ aufgaben. Schon bevor überhaupt mit der Produktion begonnen werden konnte, hatten die ersten Fabrikbesitzer große Probleme, Arbeitskräfte zu rekrutieren und sie mussten hierfür oft weite Strecken zurücklegen. Danach mussten sie die Arbeiter an ihrer neuen Arbeit festhalten, denn Desertionen gab es en masse. Aus diesem Grund kümmerten sich die Fabrikbesitzer auch um die Unterkünfte ihrer Sklaven, als Vorzimmer zur Fabrik. Die Bildung dieses großen industriellen Reserveheers zog eine Militarisierung der Gesamtheit des sozialen Lebens mit sich.

Der Luddismus war die Antwort der Armen auf die Einführung dieser neuen Ordnung. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hat sich in einem Klima der aufständischen Wut die Bewegung der Maschinenstürmer entwickelt. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Nostalgie des goldenen Zeitalters des Handwerks. Der Durchbruch der Herrschaft der Quantität, des serienmäßigen Plunders, hat sicherlich zu einem guten Teil zur Wut der Menschen beigetragen. Von da an überwog die notwendige Zeit, um eine Arbeit zu verrichten, über die Qualität des Resultats, und diese inhaltliche Abwertung jeder einzelnen Arbeit hat die Armen dazu geführt, sich allgemein an der Arbeit zu vergreifen, was sich als dessen Kern herausstellte. Der Luddismus war aber an erster Stelle ein antikapitalistischer Unabhängigkeitskrieg, ein „Versuch der Zerstörung der neuen Gesellschaft“ (Mathias). „Alle Adeligen und alle Tyrannen müssen getötet werden“, lautete eines ihrer Flugblätter. Der Luddismus ist das Erbe der millenaristischen Bewegung einiger Jahrhunderte zuvor: obwohl er sich nicht mehr durch eine universelle und einheitliche Theorie ausdrückte, blieb er dem politischen Geist und jeder ökonomischen Pseudo-Rationalität gegenüber vollkommen fremd. Zur gleichen Zeit in Frankreich hingegen waren die Aufstände der Canuten – die sich auch gegen den Prozess der industriellen Domestizierung richteten – schon verseucht durch die politische Lüge. „So verdunkelte ihr politischer Verstand ihnen die Wurzel der geselligen Not, so verfälschte er ihre Einsicht in ihren wirklichen Zweck“, schrieb der Marx von 1844. Ihr Slogan war „arbeitend leben oder kämpfend sterben“. In England, während das Gewerkschaftswesen nur wenig bekämpft bzw. sogar toleriert wurde, stand auf dem Zerstören von Maschinen die Todesstrafe. Die totale Negativität der Luddisten hatte sie gesellschaftlich unakzeptabel gemacht. Der Staat hat auf zwei verschiedene Arten auf diese Bedrohung reagiert: er hat eine moderne professionelle Polizei gebildet, und die Gewerkschaften offiziell anerkannt. Der Luddismus wurde zuerst von der brutalen Repression zerschlagen und ist dann ausgestorben, nachdem die Gewerkschaften es geschafft hatten, die industrielle Logik durchzusetzen. Ein englischer Beobachter hat 1920 mit Erleichterung berichtet, dass „das Feilschen über die Bedingungen der Veränderung den bloßen Widerstand gegen die Veränderung übertrumpft hat“. Ein schöner Fortschritt!

Von all den Verleumdungen, die über die Luddisten verbreitet wurden, kam die schlimmste von den Verteidigern der Arbeiterbewegung, welche in ihnen eine blinde und kindische Demonstration sahen. So ein Ausschnitt aus dem Kapital, welcher eine fundamentale Fehlinterpretation einer Epoche darstellt:

„Es bedarf Zeit und Erfahrung, bevor der Arbeiter die Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden und daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsmittel selbst auf dessen gesellschaftliche Exploitationsform übertragen lernt.“ Diese materialistische Auffassung der Neutralität der Maschinen genügt aus, um die Organisation der Arbeit, die eiserne Disziplin (in dieser Hinsicht war Lenin ein konsequenter Marxist) und schließlich den ganzen Rest zu legitimieren. Angeblich geistig zurückgeblieben, haben die Luddisten zumindest verstanden, dass die „materiellen Produktionsmittel“ an erster Stelle Instrumente der Domestizierung sind, deren Form nicht neutral ist, da sie die Hierarchie und die Abhängigkeit gewährleistet.

Der Widerstand der ersten Fabrikarbeiter zeigte sich hauptsächlich in Bezug auf eine Sache, die eines ihrer seltenen Eigentume war, und derer sie beraubt wurden: ihrer Zeit. Ein alter religiöser Brauch sah es vor, dass die Menschen weder am Sonntag noch am darauffolgenden „Blauen Montag“ arbeiteten. Am Dienstag erholte man sich vom zweitägigen Trinkgelage, so dass die Arbeit vernünftigerweise erst wieder am Mittwoch beginnen konnte! Diese gesunde Praxis war zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Regel und in einigen Gewerben überlebte sie bis 1914. Die Arbeitgeber benutzten verschiedene Zwangsmittel, um diesen institutionalisierten Absentismus zu bekämpfen, ohne Erfolg. Nachdem die Gewerkschaften Fuß gefasst hatten, hat man den „Blauen Montag“ durch einen freien Nachmittag am Samstag ersetzt, ein glorreicher Sieg: die Arbeitswoche hat sich somit um zwei Tage erweitert!

Es war nicht bloß die Frage der Arbeitszeit, die beim Blauen Montag auf dem Spiel stand, sondern auch die Frage über die Verwendung von Geld. Die Arbeiter kehrten nicht zur Arbeit zurück, bevor sie ihren ganzen Lohn ausgegeben hatten. Seit dieser Epoche wird der Sklave nicht mehr nur als Arbeiter betrachtet, sondern auch als Konsument. Adam Smith hat eine Theorie über die Notwendigkeit aufgestellt, den inneren Markt zu entwickeln, indem man ihn für die Armen zugänglich macht. Und wie der Bischof Berkeley 1755 schrieb: „Ist die Schaffung von Bedürfnissen nicht die beste Möglichkeit, die Menschen zu industrialisieren?“ Wenn auch nur von geringer Wichtigkeit bis dahin, so adaptierte sich der den Armen bewilligte Lohn doch den Notwendigkeiten des Marktes. Diese jedoch benutzten das zusätzliche Geld nicht nach den Erwartungen der Ökonomen; die Erhöhung des Lohns war gewonnene Zeit bei der Arbeit (was eine nette Umkehrung der utilitaristischen Maxime von Benjamin Franklin ist: time is money). Die so gewonnene Zeit in der Fabrik verbrachte man in den – zurecht so genannten – Public Houses (während dieser Epoche verbreiteten sich die Neuigkeiten über Revolten von Pub zu Pub). Je mehr Geld die Armen besaßen, desto mehr tranken sie. Den Geist der Ware haben sie zuallererst in den Spirituosen entdeckt, zum größten Bedauern der Ökonomen, die davon ausgingen, dass sie das Geld sinnvoll ausgeben würden. Die gemeinsam vom Bürgertum und den „fortschrittlichen (also nüchternen) Fraktionen der Arbeiterklasse“ geführte Kampagne für Mäßigkeit entstand nicht so sehr aus Sorge um die öffentlichen Gesundheit (die Arbeit richtet noch mehr Schäden an, ohne dass sie aber deren Abschaffung fordern), sondern diente der Ermahnung, dass man seinen Lohn sinnvoll ausgeben sollte. Hundert Jahre später wundern sich dann dieselben, wenn Arme auf Essen verzichten, um sich eine „überflüssige“ Ware zu kaufen.

Die Sparpropaganda wurde eingeführt, um diese Neigung zur unmittelbaren Geldausgabe zu bekämpfen. Und wieder einmal war es „die Avantgarde der Arbeiterklasse“, welche die Spareinrichtungen für die Armen etablierte. Das Sparen verstärkt den Zustand der Abhängigkeit der Armen und die Macht ihrer Feinde noch mehr: die Kapitalisten konnten die vorübergehenden Krisen überwinden, indem sie die Löhne senkten und die Arbeiter so an die Denkweise des existenziellen Minimums gewöhnten. Aber Marx hat in Grundrisse einen damals unlöslichen Widerspruch aufgezeigt: jeder Kapitalist verlangte von seinen Sklaven, und nur von den seinen, dass diese als Arbeiter sparten; alle anderen Sklaven waren für ihn Konsumenten, und mussten also Geld ausgeben. Dieser Widerspruch konnte nur sehr viel später gelöst werden, als die Entwicklung der Ware die Einführung der Kredite für die Armen erlaubte. Immerhin hat das Bürgertum, wenn es es auch einmal geschafft haben soll, das Verhalten der Arbeiter während ihrer Arbeit zu zivilisieren, es niemals geschafft, deren Geldausgabe komplett zu domestizieren. Es ist das Geld, wodurch die Brutalität immer wieder hervorgerufen werden wird.

Nachdem die Abschaffung des Blauen Montags die Arbeitswoche verlängert hatte, „haben die Arbeiter sich nunmehr ihre Freizeit während der Arbeit eingerichtet“ (Geoff Brown). Die Verminderung des Arbeitstempos wurde zur Regel. Es war schlussendlich die Einführung der Stückarbeit, die die Disziplin in den Werkstätten durchsetzte: Fleiß und Arbeitsleistung haben schlagartig zugenommen. Die bedeutendste Folge dieses Systems, welches seit den 1850er Jahre allgemein eingeführt wurde, war, dass sie die Arbeiter zwang, die industrielle Logik zu verinnerlichen: um mehr zu gewinnen, musste man mehr arbeiten, was sich allerdings negativ auf die anderen Lohnarbeiter auswirkte, und zur gleichen Zeit wurden die am wenigsten fleißigen entlassen. Um diese ungezügelte Konkurrenz zu beseitigen, ist die Kollektivverhandlung über die zu liefernde Arbeitsmenge und dessen Verteilung und Entlohnung entstanden. Die gewerkschaftliche Schlichtung hat sich durchgesetzt. Nachdem dieser Sieg der Produktivität einmal errungen war, haben sich die Kapitalisten damit einverstanden erklärt, die Arbeitszeit herunterzusetzen. Das berühmte Gesetz der zehn Stunden, falls es tatsächlich ein Sieg für die Gewerkschaften darstellte, war also eine Niederlage für die Armen, die Sanktionierung des Scheiterns ihres langen Widerstandes gegen die neue industrielle Ordnung.

Somit wurde die allgegenwärtige Diktatur der Notwendigkeit eingeführt. Nachdem die Überreste der früheren sozialen Organisation einmal beseitigt waren, gab es nichts mehr auf dieser Welt, das nicht von den Erfordernissen der Arbeit bestimmt wurde. Der Horizont der Armen begrenzte sich auf den „Existenzkampf“. Jedoch kann man die Alleinherrschaft der Notwendigkeit nicht als simplen quantitativen Anstieg des Mangels begreifen: es handelte sich hierbei vor allem um die Kolonisierung des Verstandes durch das ordinäre und grobe Prinzip der Nützlichkeit, eine Niederlage des Denkens. Man messe hier die Konsequenz der Niederschlagung dieses millenaristischen Bewusstseins, welches die Armen während der ersten Phase der Industrialisierung angespornt hatte. Damals hatte man die Herrschaft der brutalen Notwendigkeit deutlich als das Werk einer Welt begriffen, dieser auf dem Eigentum und des Geldes gründenden Welt des Antichristen. Die Idee der Abschaffung der Not war nicht getrennt gewesen von der Idee der Realisierung des Paradieses auf Erden, „diesem spirituellen Kanaan, wo Wein, Milch und Honig fließen und das Geld nicht existiert“ (Coppe). Mit dem Scheitern dieses versuchten Umsturzes hat das Bedürfnis einen Schein von Unmittelbarkeit erlangt. Der Mangel wurde von diesem Moment an als eine natürliche Katastrophe betrachtet, dem nur die zunehmend intensivere Arbeitsorganisierung Abhilfe schaffen konnte. Mit dem Triumph der englischen Ideologie entzog man den Armen, denen bereits alles genommen worden war, nun auch noch die eigentliche Idee vom Reichtum.

Der Kult der Nützlichkeit und des Fortschritts findet seinen Ursprung und seine Legitimität im Protestantismus, besonders in dessen puritanischer angelsächsischer Form. Indem sie aus der Religion eine Privatangelegenheit machte, bestätigte die protestantische Ethik die von der Industrialisierung verursachte soziale Atomisierung: das Individuum stand Gott gegenüber ebenso isoliert, wie es auch isoliert der Ware und dem Geld gegenüberstand. Danach stellte sie gerade die Werte in den Vordergrund, die von den modernen Armen verlangt wurden: Ehrlichkeit, Genügsamkeit, Abstinenz, Sparen, Arbeit. Die Puritaner, diese Arschlöcher, die pausenlos die Feste, die Spiele und die Ausschweifung bekämpften, also alles was sich der Logik der Arbeit widersetzte, und die den millenaristischen Geist als „das Ersticken jeglichen Unternehmergeistes beim Menschen“ (Webbe 1644) bezeichneten, haben den Weg freigemacht für die industrielle Gegenoffensive. Außerdem kann man von der Reformation sagen, dass sie der Prototyp des Reformismus war: aus einer Spaltung heraus entstanden, begünstigte sie ihrerseits alle weiteren Spaltungen. An andere stellt sie „nicht einmal die Forderung des Christentums, sondern nur noch der Religion überhaupt, irgendeiner Religion“.

Es war 1789 in Frankreich, als sich diese Prinzipien vollständig verwirklichen konnten, indem sie ihre religiöse Form endgültig ablegten und sich im Recht und in der Politik ausbreiteten. Frankreich war ein Nachzügler in diesem industriellen Prozess: ein unversöhnlicher Konflikt trennte das Bürgertum und den Adel, welcher jeglicher Mobilisierung des Geldes gegenüber stutzig war. Paradoxerweise war es dieser Rückstand, welcher das Bürgertum dazu führte, das modernste aller Prinzipien vorzubringen. In Großbritannien, wo die herrschenden Klassen sich seit langem auf einem gemeinsamen historischen Weg vereint hatten, „hat die Erklärung der Menschenrechte Gestalt angenommen, nicht eingekleidet in die römische Toga, sondern in den Mantel der Propheten aus dem Alten Testament“ (Hobsbawm). Hier lag also nun das Limit, die Unvollständigkeit der theoretischen Konter-Revolution aus Großbritannien: schließlich beruhte die Staatsbürgerschaft dort weiterhin auf der Doktrin der Wahlen, die Gewählten erkannten sich wieder in der Frucht ihrer Arbeit und in ihrer moralischen Zustimmung zu dieser Welt. So ließ sie den Pöbel außer Acht, welcher noch von einer Welt der Freude träumen konnte. Die Zwangsarbeit in den Fabriken hatte zu Beginn das Ziel, diese bedrohende Stärke zu verringern, sie gewaltsam mithilfe eines sozialen Mechanismus zu integrieren. Es hatte dem englischen Bürgertum noch an der Feinheit beim Lügen gemangelt, welche dessen Gegenstück auf der anderen Seite des Ärmelkanals charakterisierte und es diesem erlaubte, die Armen zuerst mit der Ideologie einzuschränken. Auch heute noch legen die englischen Verteidiger der Alten Welt mehr Wert auf moralische Richtigkeit als auf politische Meinungen. Die besonders sichtbare und arrogante soziale Grenze, welche die Reichen von den Armen in diesem Land trennt, geht einher mit der schwachen Verbreitung der Idee der politischen und rechtlichen Gleichheit der Individuen.

Obwohl die moralische Indoktrinierung der Puritaner am Anfang zur Folge hatte, all jene zu vereinen und zu stärken, welche in einer sich verändernden und unsicheren Welt ein besonderes Interesse zu verteidigen hatten, begann sie alsbald mit den Verwüstungen zulasten der unteren Klassen, nachdem diese bereits unter dem Joch der Arbeit und des Geldes zusammengeklappt waren, um so deren Niederlage zu vollenden. Ure empfahl seinesgleichen, die „moralische Maschinerie“ mit der gleichen Gewissenhaftigkeit zu pflegen wie die „mechanische Maschinerie“, um so „den Gehorsam akzeptabel zu machen“. Nachdem diese moralische Maschinerie erst einmal von den Armen aufgenommen worden war, sollte sie bald ihre unheilvollen Folgen aufzeigen, indem sie der aufkommenden Arbeiterbewegung ihren Stempel aufdrückte. Es vermehrten sich die methodistischen, wesleyanischen, baptistischen und anderen Arbeitersekten, bis sie schließlich genauso viele Gläubiger versammelten wie die Kirche Englands, Institution des Staates. In diesem, den neuen Industriegebieten gegenüber feindlich gesinnten Umfeld, zogen sich die Arbeiter ängstlich in die die Kapelle zurück. Man ist immer dazu genötigt, Kränkungen zu rationalisieren für die man keine Rache ausübt: die neue Arbeitermoral erklärte die Armut zum Gnadengesuch und das Sparen zur Tugend. An jenen Orten war die Gewerkschaft der unmittelbare Sprössling der Kapelle und die laizistischen Prediger verwandelten sich in Gewerkschaftsvertreter[2]. Die vom Bürgertum geführte Kampagne, um die Armen zu zivilisieren, sollte die soziale Wut nur indirekt übertrumpfen, da es ausreichte, dass die Arbeitervertreter diese Kampagne aufgriffen – denn sie übernahmen in ihren Kämpfen gegen ihre Meister nunmehr deren Sprache. Die – noch – religiösen Ausdrucksformen, die von der Domestizierung der Denkweise verursacht werden konnten, waren aber bloß eine Begleiterscheinung. Die Domestizierung hatte in der wirtschaftlichen Lüge eine viel effizientere Basis.

J. und P. Zerzan[3] haben diesen Widerspruch treffend hervorgehoben: es war im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Armen die entwürdigendsten und verstümmelndsten Konditionen in allen Bereichen ihres Lebens ertragen mussten, als jeglicher Widerstand gegen die Einführung der neuen kapitalistischen Ordnung geschlagen war; es war genau in diesem Moment, dass Marx, Engels und alle ihre Epigone mit Genugtuung die Geburt der „revolutionären Armee der Arbeit“ begrüßten und glaubten, dass die objektiven Bedingungen endlich geschaffen waren für einen siegreichen proletarischen Angriff. In seiner berühmten Ansprache 1864 an die Internationale beginnt Marx mit einer detaillierten Schilderung der entsetzlichen Situation der englischen Armen, um kurz darauf „die wunderbaren Erfolge“ zu feiern: das Gesetz der zehn Stunden (wir haben gesehen, was es damit auf sich hatte) und die Errichtung genossenschaftlicher Fabriken, welche „ein Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Eigentums“ darstellte! Wenn die marxistischen Kommentatoren ausgiebig das schreckliche Schicksal der Arbeiter des 19. Jahrhunderts geschildert haben, so betrachten sie dies gewissermaßen als unvermeidbar und vorteilhaft. Unvermeidbar, weil es eine fatale Folge der Erfordernisse der Wissenschaft und der notwendigen Entwicklung der „Produktionsverhältnisse“ war. Vorteilhaft insofern „das Proletariat vereint, diszipliniert und organisiert worden ist durch den Produktionsmechanismus“ (Marx). Die Arbeiterbewegung bildete sich auf einer rein defensiven Basis. Die ersten Arbeiterorganisationen waren „Gesellschaften des Widerstands und der gegenseitigen Hilfe“. Doch während die revoltierenden Armen sich zuvor immer im Negativen wiedererkannt hatten, durch die Benennung der Klasse ihrer Feinde, war es auf und wegen der Arbeit – welche mit Gewalt ins Zentrum ihrer Existenz gerückt wurde –, dass die Arbeiter in ihr nach einer positiven Gemeinschaft suchten, nicht von ihnen selbst hervorgerufen, sondern von einem äußeren Mechanismus. Diese Ideologie nahm zuerst Gestalt an inmitten der „aristokratischen Minderheit“ der qualifizierten Arbeiter, „dieser Sektor, für den sich die Politiker interessieren und aus dem diejenigen stammen, welche die Gesellschaft nur allzu gerne als die Vertreter der Arbeiterklasse begrüßen will“, wie es Edith Simcox 1880 sachdienlich festgestellt hat. Die riesige Masse der noch unregelmäßigen und unqualifizierten Arbeiter hatte aus diesem Grund kein Bürgerrecht. Es waren sie, die, als die Gewerkschaften ihre Türen öffneten, den legendären kämpferischen und wilden Geist der englischen Arbeiter bewahrten. Es begann eine lange Phase sozialer Kämpfe, die gelegentlich sehr gewaltsam waren, aber denen jegliches einigendes Prinzip fehlte.

„Obwohl die revolutionäre Initiative wahrscheinlich in Frankreich starten wird, kann allein England als Antrieb für eine ernsthaft ökonomische Revolution dienen. (…) Die Engländer haben all das benötigte Material für die soziale Revolution. Was ihnen fehlt, ist der sich verallgemeinernde Geist und die revolutionäre Leidenschaft.“ Diese Aussage des Generalrats der Internationalen beinhaltet gleichzeitig die Wahrheit und das falsche Bewusstsein einer Epoche. Von einem sozialen Standpunkt aus betrachtet, hat England schon immer ein Rätsel dargestellt: das Land, das die modernen Voraussetzungen der Ausbeutung hervorbrachte und das somit als erstes eine große Masse an Armen erzeugte, ist auch das Land, dessen Institutionen seit mittlerweile drei Jahrhunderten unverändert geblieben sind und das nie von einem revolutionären Angriff erschüttert worden ist. Dies steht im Gegensatz zu den Nationen des europäischen Kontinents, und widerspricht der marxistischen Auffassung der Revolution. Die Kommentatoren haben versucht, dieses Rätsel mit einem britischen Atavismus zu erklären, was zum tausendfach wiederholten Blödsinn über den reformistischen und anti-theoretischen Geist der englischen Armen geführt hat, im Vergleich zum radikalen Bewusstsein, das die Armen in Frankreich geleitet hat, immer bereit dazu, auf die Barrikaden zu steigen. Solch eine ahistorische Vision vergisst erstens die theoretische Fülle während der Jahre des Bürgerkrieges im 17. Jahrhundert und zweitens die Ausdauer und die Gewalt, die immer schon die sozialen Kämpfe der englischen Armen gekennzeichnet haben, und die seit Mitte dieses Jahrhunderts unaufhörlich gestiegen sind. In Wirklichkeit ist dies des Rätsels Lösung: die Revolte der Armen hängt immer davon ab, was ihr gegenübersteht.

In England haben die herrschenden Klassen ihre Unternehmung der Domestizierung kurzerhand mit der rohen Gewalt eines sozialen Mechanismus durchgesetzt. Auch bedauern die englischen Historiker oft, dass die „industrielle Revolution“ nicht von einer „kulturellen Revolution“ begleitet wurde, welche die Armen in den „industriellen Geist“ integriert hätte (solche Überlegungen haben sich in den 1970er Jahren vermehrt, als die Ausbreitung der wilden Streiks den Ernst der Lage enthüllte). In Frankreich war die bürgerliche Gegenoffensive zuerst theoretischer Art, durch die Herrschaft der Politik und des Rechts, „dieses Wunder, das die Menschen seit 1789 missbraucht“ (Louis Blanc). Diese Grundsätze vertraten ein universelles Projekt, es war ein Versprechen der Teilnahme, das man den Armen machte, sobald diese die Modalitäten als die ihren anerkannten. Ein Teil der Armen ernannte sich um 1830 zum Sprachrohr und forderte, dass „man den Menschen, die erniedrigt worden sind, ihre bürgerliche Würde zurückgeben müsse“ (Proudhon). Ab 1848 wurden die gleichen Grundsätze gegen das Bürgertum im Namen der „Republik der Arbeit“ vorgebracht. Und wir wissen, wie sehr der Ballast von 1789 bei der Niederschlagung der Commune mitgewirkt hat. Es ist ein soziales Projekt, das sich im 19. Jahrhundert in zwei teilte. In England, der Metropole des Kapitals, konnten die sozialen Kämpfe nicht in einem gemeinsamen Angriff verschmelzen, wodurch sie in „ökonomische“ Kämpfe verkleidet wurden. In Frankreich, der Geburtsstätte des Reformismus, blieb dieser gemeinsame Angriff in einer politischen Form gefangen und überließ somit das letzte Wort dem Staat. Das Geheimnis des Fehlens einer revolutionären Bewegung jenseits des Ärmelkanals ist also identisch mit dem Geheimnis der Niederlage der revolutionären Bewegungen auf dem Kontinent.

Heute schließt dieser Prozess, dessen Entstehung wir soeben beschrieben haben, ab: die klassische Arbeiterbewegung hat sich endgültig in die Zivilgesellschaft integriert, während sich eine neue Unternehmung der industriellen Domestizierung abzeichnet. Heute gelangen ebenso die Größe wie die Grenzen der vergangenen Bewegungen – welche immer noch die sozialen Bedingungen einer jeden Region dieser Welt bestimmen – ans Licht.


Léopold Roc

[1] Siehe L’Incendie millénariste, S. 233-58

[2] Ein vielsagendes Beispiel: die 1891 in Manchester gegründete Arbeiterkirche hatte als einzige Funktion, die Arbeiter aus dem Norden dazu zubringen, einer unabhängigen Arbeiterpartei beizutreten. Gleich danach ist sie wieder verschwunden.

[3] Industrialism & Domestication, Black Eye Press, Berkeley, 1979