Titel: Durchsage an die Passagiere
AutorInnen: Aufruhr, Finimondo
Datum: 8. Mai 2011
Bemerkungen: Originaltext auf dem italenischen Blog "Finimondo" (http://www.finimondo.org/node/180). Deutsche Erstübersetzung veröffentlicht in "Aufruhr - Anarchistisches Blatt", Zürich, Nummer 10, Jahr 1;

Wir sind es alle. Wir durchqueren dieses Leben auf der Erde, im Wissen, dass wir nur vorübergehende Passagiere sind. Auch weil wir das Steuer nicht in den Händen halten, das die Reise unseres Lebens lenkt, kontrollieren wir weder seine Geschwindigkeit, noch seine Dauer, noch seine Bestimmung. Wir durchleben diese Erfahrung, die einzige, die wir haben, während wir uns bestenfalls damit zufriedengeben, aus dem Fenster zu schauen. Wie Passagiere eben. Wohl wissend, dass nichts ewig andauert, dass man früher oder später an der Endstation ankommt und aussteigt.

Wir haben gelernt, dass das Glück ein vorübergehender Zustand ist. Früher oder später verschlechtern sich die menschlichen Beziehungen, führt uns das morgendliche Erwachen wieder zurück in die alltäglichen Zwänge, hinterlassen die Enttäuschungen ihre schmerzhaften Wunden. Und das Glück schwindet dahin.

Wir haben gelernt, dass die Liebe eine flüchtige Freude ist. Früher oder später springt das Herz nicht mehr wie verrückt, zerbricht der Zauber der Blicke, wird das Verlangen schwächer. Und die Liebe endet.

Wir haben gelernt, dass das Vertrauen eine widerrufbare Entscheidung ist. Früher oder später werden die Versprechen nicht gehalten, werden die Programme nicht respektiert, kommen die Lügen ans Licht. Und das Vertrauen macht sich davon.

Wir haben gelernt, dass der Frieden ein unsicherer Wert ist. Früher oder später wird ein Demonstrant auf der Strasse niedergeprügelt, wird ein Pendler von einem Zug zerfetzt, wird ein Zivilist in seinem Haus bombardiert. Und der Friede ist vorbei.

Wir haben gelernt, dass die Arbeit eine temporäre Beschäftigung ist. Früher oder später wird die Technologie erneuert, wird der Sektor gesättigt, tritt der Markt in Krise. Und die Arbeit ist zu Ende.

Wir haben gelernt, dass unser ganzes Leben vorläufig und prekär ist. Wir können die Bilder, die vor dem Fenster vorbeiflitzen, nicht selber aussuchen, und auch nicht, wer sich neben uns setzt. Es passiert, was passiert; unnütz, zu protestieren, und ausserdem ist es verboten, mit dem Chauffeur zu sprechen. Dies ist, weshalb uns nichts von dem, was passiert, zu berühren scheint. Wenn die Passagiere eines öffentlichen Verkehrsmittels stumm und regungslos jeder Aggression beisitzen, so sitzen die Passagiere des Lebens stumm und regungslos jedem Missbrauch bei. Anstatt uns dazu anzuspornen, unsere Verlangen hier und jetzt zu verwirklichen, eilig, bevor es zu spät ist, hat uns die Vergänglichkeit unseres Lebens blind, unempfindsam und resigniert gemacht.

So wundert es uns nicht einmal, wenn wir erfahren, dass auch die Freiheit eine provisorische Bedingung ist. Ja, auch die Freiheit. Was einst der Hauptgrund war, wofür man lebte, kämpfte und starb, hat heute die Züge eines Privilegs angenommen, das für die wenigsten unentbehrlich, und für die meisten überflüssig ist. Früher oder später kann es allen geschehen, zu sprechen, zu lieben, zu protestieren, zu leben, ohne dafür bei den zuständigen Personen um Erlaubnis zu fragen. Und mit der Freiheit ist es vorbei. Zumindest für jene, die, müde, den vorbeifahrenden Zuschauer zu spielen, um jeden Preis aus der sozialen Maschine aussteigen wollen, die auf eine Fahrt losgeschickt wurde, die sie nichts angeht. Schliesslich für jene, die darauf beharren, zu denken, dass die Freiheit noch immer der Hauptgrund ist, wofür es zu leben und zu kämpfen gilt.

Allen anderen wünschen wir eine angenehme Fahrt. Und vergesst nicht, eure Tickets abzustempeln.