Titel: War mein Leben lebenswert?
AutorIn: Goldman, Emma
Datum: Dezember 1934
Quelle: Original erschien im Harpens Monthly Magazine Dezember 1934
Bemerkungen: Aus: Goldman – Anarchismus und andere Essays. 1. Auflage, Dezember 2013. Band 22 der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte«. hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt. ISBN 978-3-89771-920-0. UNRAST-Verlag, Münster. S.229–243

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In welchem Maße eine persönliche Philosophie mit dem Temperament eines Menschen zusammenhängt und inwiefern sie sich aus seinen Erfahrung ableitet, ist umstritten. Natürlich sind unsere Schlüsse von unseren Erfahrungen beeinflusst, indem wir einen Prozess anwenden, den wir als Verarbeiten der Tatsachen, die uns in unserem Leben begegnet sind, bezeichnen. Das Kind ist empfänglicher für die Phantasie. Gleichzeitig sieht es, wenn es sich seiner Umgebung bewusst wird, das Leben in einigen Aspekten klarer als seine Eltern. Es steht noch nicht unter dem Einfluss der Bräuche und Vorurteile, die den größten Teil dessen ausmachen, was als Denken definiert wird. Jedes Kind reagiert verschieden auf seine Umwelt. Einige rebellieren und lassen sich nicht von gesellschaftlichem Aberglauben blenden. Jede Ungerechtigkeit, die sie oder andere erfahren, empört sie. Sie fühlen immer mehr mit dem Leiden, das sie umgibt, und werden immer feinfühliger gegenüber den Beschränkungen, die mit sämtlichen Konventionen einhergehen, und den Tabus, die ihnen auferlegt werden.

Augenscheinlich gehöre ich zu dieser Kategorie. Schon in meinen frühesten Erinnerungen an meine Jugend in Russland habe ich mich gegen jede Form von Orthodoxie aufgelehnt. Härte war mir stets unerträglich und die Brutalität von offizieller Seite, die die Kleinbauern und -bäuerinnen in unserer Nachbarschaft erleiden mussten, empörte mich. Ich weinte bittere Tränen, wenn die jungen Männer in die Armee einberufen und aus Häusern und Herzen gerissen wurden. Ich lehnte es ab, dass unsere Bediensteten, die die härteste Arbeit verrichteten, in den elendsten Zimmern schlafen und von dem essen mussten, was wir übrig ließen. Ich war entrüstet, als ich erfuhr, dass die Liebe zwischen jungen Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft als schlimmstes Verbrechen galt und die Geburt eines unehelichen Kindes als schlimmste Unmoral.

Als ich in die USA kam, hatte ich die gleichen Hoffnungen wie die meisten europäischen Einwanderer und erlebte die gleiche Enttäuschung, wobei mich diese schlimmer und tiefer traf. Ein Einwanderer ohne Geld und ohne Kontakte kann nicht an der tröstlichen Illusion teilhaben, die USA als wohlwollenden Onkel zu sehen, der umsichtig und unvoreingenommen seine Neffen und Nichten unter die Fittiche nimmt. Schnell musste ich lernen, dass es in einer Republik unzählige Wege für die Starken, die Schlauen und die Reichen gibt, an die Macht zu gelangen und dort zu bleiben. Ich sah, wie die Vielen gegen geringe Löhne, mit denen sie gerade ihre Bedürfnisse decken konnten, für einige Wenige arbeiteten, die große Gewinne einfuhren. Ich sah, dass die Gerichte, die heiligen Hallen der Gesetzgebung, die Presse und die Schulen – ja sämtliche Institutionen, die der Bildung und dem Schutz der Menschen dienen sollten – effektiv für den Schutz einer Minderheit eingesetzt wurden, während die Massen keinerlei Rechte hatten. Mir wurde bewusst, dass die Politikerinnen geschickt sämtliche Angelegenheiten vernebelten und genau wussten, wie sie die öffentliche Meinung kontrollieren und Stimmen zu ihrem Vorteil und zu dem ihrer finanziellen und wirtschaftlichen Verbündeten manipulieren konnten. Das war das Bild der Demokratie, das sich mir schon bald nach meiner Ankunft in den USA bot. Seit dieser Zeit hat sich eigentlich nur sehr wenig daran geändert.

Diese Situation, die sich aus alltäglicher Erfahrung speiste, wurde mir durch ein Ereignis, das kurz nach meiner Ankunft in den USA geschah, mit einer Kraft bewusst, die sämtliche Heuchelei fortspülte und die Realität lebhaft und deutlich zeigte. Ich spreche vom sogenannten Haymarket Riot, in dessen Folge acht Männer, darunter fünf Anarchisten, vor Gericht gestellt und verurteilt wurden. Ihr Verbrechen bestand in ihrer grenzenlosen Liebe für ihre Mitmenschen und ihrer Entschlossenheit, die unterdrückten und enterbten Massen zu befreien. Der Bundesstaat Illinois konnte nicht beweisen, dass sie etwas mit der Bombe zu tun hatten, die auf einer Versammlung auf dem Haymarket Square in Chicago in die Menge geworfen worden war. Sie wurden verurteilt, weil sie Anarchisten waren, und am 11. November 1887 fand ihre Hinrichtung statt. Dieses Justizverbrechen brannte sich unauslöschlich in mein Denken und mein Herz ein und veranlasste mich dazu, mich mit dem Ideal vertraut zu machen, für das diese Männer so heldenhaft gestorben waren. Ich widmete mich ihrer Sache.

Um sich eine Philosophie oder eine Meinung infolge eines speziellen Geschehnisses anzueignen, bedarf es mehr als persönliche Erfahrung. Es hängt von der Art, wie wir auf dieses Ereignis reagieren, und unserer Fähigkeit, uns in das Leben anderer einzufühlen, ab, in welchem Maße wir ihr Leben und ihre Erfahrungen verinnerlichen können. In meinem Fall haben sich meine Überzeugungen aufgrund von Ereignissen im Leben anderer und meiner eigenen Erfahrungen entwickelt. Die wirtschaftliche und politische Unterdrückung, der andere ausgesetzt waren, übersteigt alles, was ich selbst hätte ertragen können. Ich wurde oft gefragt, wie ich der Regierung so kompromisslos feindlich gegenüber stehen könne und inwiefern ich selbst von ihr unterdrückt worden bin. Meiner Meinung nach schränkt die Regierung jedes Individuum ein. Sie behält Steuern aus der Produktion, sie schafft Zölle, die den freien Austausch behindern. Sie steht zu jeder Zeit für den Status Quo sowie traditionelle Verhaltensweisen und Ansichten. Sie mischt sich ins Privatleben der Menschen und in ihre intimsten zwischenmenschlichen Beziehungen ein, indem sie die Abergläubischen, die Puritanerinnen und die Irregeleiteten dazu ermächtigt, den sensiblen, fantasievollen, freien Menschen ihre ignoranten Vorurteile und ihre moralische Sklaverei aufzuzwingen. Das tut die Regierung durch ihre Scheidungsrechte, ihre moralische Zensur und tausend kleine Verfolgungen derer, die zu aufrichtig sind, um sich hinter der moralischen Maske der Ehrbarkeit zu verstecken. Außerdem schützt die Regierung die Starken auf Kosten der Schwachen und schafft Gerichte und Gesetze, die von den Reichen ignoriert werden können, von den Armen jedoch befolgt werden müssen. Sie ermöglicht den räuberischen Reichen den Krieg, um ihren Lieblingen ausländische Märkte zu erschließen, die den Herrschenden Wohlstand bringen und den Beherrschten den Tod als Massenware. Es ist aber nicht nur die Regierung im Sinne des Staates, die auf alle individuellen Werte und Qualitäten zerstörerisch wirkt. Es ist d ganze Komplex von Autorität und institutioneller Herrschaft der das Leben abwürgt. Es sind Aberglaube, Mythos, Täuschung‘ Vermeidung und Unterwürfigkeit, welche die Autorität und die institutionelle Vorherrschaft unterstützen. Die Verehrung dieser, Institutionen wird in der Schule, in der Kirche und zu Haust gelehrt, sodass der Mensch glaubt und gehorcht, ohne sich zu wehren. Ein solcher Prozess der Zermürbung und Verzerrung der Persönlichkeit des Individuums und ganzer Gemeinschaften mag Teil historischer Entwicklungen gewesen sein; dennoch sollte in einer Zeit, die sich selbst für aufgeklärt hält, jeder ehrliche und unabhängige Kopf unermüdlich dagegen ankämpfen. Oft hat man mir gesagt, dass die Freiheit der Bürgerinnen in den USA ausreichend durch ihre Verfassung geschützt sei. Es zeigt sich jedoch deutlich, dass selbst die Freiheit, die sie zu garantieren vorgibt, sehr eingeschränkt ist. Ich selbst finde diesen Schutz nicht gerade beeindruckend. Die Länder der Welt, die auf eine Jahrhunderte lange internationale Gesetzgebung zurückblicken, sind zu keiner Zeit vor Massenvernichtung zurückgeschreckt während sie gleichzeitig feierlich die Einhaltung des Friedens versprachen; und die Gesetze der USA haben diese nicht davon abgehalten, Gleiches zu tun. Die Mächtigen haben ihre Macht stets missbraucht und werden das auch immer tun, und Ausnahmen dafür sind so selten, wie Rosen auf Eisbergen wachsen. Die Verfassung spielt im Leben der US-Amerikanerinnen keinerlei befreiende Rolle, sondern nimmt ihnen vielmehr die Möglichkeit, sich auf ihre eigenen Mittel zu verlassen und für sich selbst zu denken. Wie leicht lassen sie sich doch von der Heiligkeit von Gesetz und Autorität hinters Licht führen! Selbst das Muster des Lebens wurde standardisiert, automatisiert und mechanisiert wie Nahrungsmittel aus Dosen und Sonntagspredigten. Die Hundertprozentigen haben keine Probleme damit, verkürzte Informationen oder vorfabrizierte Ideen und Ansichten zu schlucken. Sie verlassen sich auf die Weisheit, die sie aus dem Radio und billigen Zeitschriften durch Gesellschaften serviert bekommen, deren karitatives Ziel der Ausverkauf der USA ist. Sie akzeptieren Verhaltens- und Kunstnormen im gleichen Atemzug mit der Werbung für Kaugummi, Zahnpasta und Schuhcreme. Selbst die Musik wird fabriziert wie Knöpfe oder Autoreifen – alles ist aus der gleichen Form gegossen.

II

Dennoch verzweifle ich nicht am Leben in den USA. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass die Frische der hiesigen Denkweise und die unerschlossenen Reserven intellektueller und emotionaler Energie, die dem Land innewohnen, für die Zukunft vielversprechend sind. Der Krieg hat eine verwirrte Generation zurückgelassen. Sie hat den Wahnsinn und die Brutalität, die sinnlose Grausamkeit und Verschwendung erlebt, die beinahe die Welt zerstörten. Deshalb begann sie, an den Werten zu zweifeln, die ihr ihre Eltern mit auf den Weg gegeben hatten. Einige, die nichts von der Vergangenheit der Welt wussten, machten sich daran, neue Lebens- und Kunstformen aus dem Nichts zu entwerfen. Andere experimentierten mit Dekadenz und Verzweiflung. Viele waren selbst noch in der Revolte erbärmlich. Sie fielen zurück in die Unterwürfigkeit und Nutzlosigkeit, weil sie kein Ideal verfolgten und außerdem von einem Gefühl der Sünde und von der Last toter Ideen geplagt wurden, an die sie nicht länger glauben konnten.

In jüngster Zeit hat sich bei der Jugend, die mit der Depression aufwächst, eine neue Einstellung gezeigt. Sie ist zwar noch verwirrt, aber zielstrebiger. Sie möchte eine neue Welt schaffen, weiß aber nicht, wie sie das anstellen soll. Aus diesem Grund sucht die junge Generation nach Retterinnen. Sie neigt dazu, an Diktatoren zu glauben und jedem neuen Bewerber für diesen Posten zuzujubeln wie einem Messias. Sie will gebrauchsfertige Rettungssysteme, in denen eine weise Minderheit die Gesellschaft auf irgendeiner Einbahnstraße in die Utopie führt. Sie hat noch nicht begriffen, dass sie sich selbst helfen muss. Die junge Generation hat noch nicht gelernt, dass die Probleme, mit denen sie kämpft, nur durch sie selbst zu lösen sind und auf der Grundlage der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Freiheit zusammen mit den um das Recht auf einen Anteil an den Reichtümern und der Freude am Leben kämpfenden Massen beseitigt werden müssen. Wie bereits gesagt, hat sich meine Ablehnung jedweder Autorität nicht so sehr aus dem entwickelt, was ich selbst erlebt haben mag, sondern leitet sich aus einem viel größeren gesellschaftlichen Kontext ab. Natürlich hat die Regierung mich, wie andere auch, an der Ausübung meiner vollen Redefreiheit gehindert. In den 35 Jahren meiner Tätigkeit in den USA waren Übergriffe auf meine Vorträge keine Seltenheit, gefolgt von zahllosen Festnahmen und drei Verurteilungen zu Haftstrafen. Darauf folgten die Annullierung meiner Staatsangehörigkeit und meine Abschiebung. Der Arm der Autorität hat stets in mein Leben eingegriffen. Wenn ich dennoch weiter meine Ansichten verbreitet habe, dann war das trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten, die mir in den Weg gelegt wurden, und nicht wegen ihnen. Dabei war ich keineswegs allein. Auf der ganzen Welt gibt es heldenhafte Menschen, die trotz Verfolgung und Verleumdung für ihre Rechte gelebt: und gekämpft haben, beispielsweise für das Recht der Menschheit auf freie und unbeschränkte Meinungsäußerung. Viele solcher Menschen sind in den USA geboren. Walt Whitman, Henry David Thoreau, Voltairine de Cleyre, eine der großen amerikanischen Anarchistinnen, Moses Harman, der eine Vorreiterrolle für die sexuelle Befreiung der Frau spielte, Horace Träubel, der von der Freiheit träumte, und noch viele andere mutige Seelen haben ihre Vision von einer neuen gesellschaftlichen Ordnung auf der Grundlage von Freiheit ohne jeden Zwang verbreitet. Es stimmt, sie mussten einen hohen Preis dafür zahlen. Die meisten Privilegien, die die Gesellschaft talentierten und begabten Menschen bereithält, dann aber entzieht, wenn sie nicht unterwürfig genug sind, blieben ihnen vorenthalten. Wie hoch der Preis aber auch war, ihr Leben war in jedem Falle erfüllter als das der meisten anderen Menschen. Auch ich habe ein überdurchschnittlich reiches Leben geführt, was jedoch daher kommt, dass ich den Anarchismus entdeckt habe, der meine Überzeugung, dass Autorität menschliche Entwicklung behindert, während die volle Freiheit sie bedingt, mehr als alles andere bestätigt hat. Für mich ist der Anarchismus in seiner Anwendung auf die individuelle Redefreiheit und die Beziehung, die sich dadurch zwischen Mensch und Gesellschaft entwickelt, die schönste und praktischste Philosophie, die bisher erdacht worden ist. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass der Anarchismus zu wichtig ist und der menschlichen Natur zu nahe steht, als dass er jemals sterben könnte. Es ist meine Überzeugung, dass eine Diktatur, sei sie rechts oder links, nie funktionieren kann – sie hat nie funktioniert und die Zeit wird zeigen, was schon zuvor bewiesen wurde. Wenn sich das Versagen moderner Diktaturen und autoritärer Philosophien offensichtlicher zeigt und sich immer mehr Menschen deren Scheitern bewusst werden, wird die Stunde des Anarchismus kommen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist ein Wiederaufleben anarchistischer Ideen in naher Zukunft sehr wahrscheinlich. Wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist, dann wird die Menschheit endlich den Weg aus dem Labyrinth herausfinden, in dem sie sich jetzt verirrt hat, und einen Weg des gesunden Lebens und der freiheitlichen Erneuerung betreten. Davon bin ich überzeugt.

Viele Menschen halten eine solche Erneuerung für unmöglich. Sie sind der Ansicht, die menschliche Natur könne sich nicht ändern. Diejenigen, die behaupten, dass die menschliche Natur stets gleich bleibt, haben nichts gelernt und alles vergessen. Sicher haben sie nicht die geringste Vorstellung von den gewaltigen Fortschritten, die in der Soziologie und in der Psychologie gemacht worden sind und keinen Zweifel daran lassen, dass die menschliche Natur sehr wohl formbar ist und verändert werden kann. Sie ist keinesfalls eine feste Größe, sondern eher etwas Fließendes, das auf neue Bedingungen reagiert. Wenn beispielsweise der so genannte Drang zur Selbsterhaltung so wichtig wäre, wie viele meinen, wären Kriege und alles, was gefährlich und riskant ist, schon längst abgeschafft worden.

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass gar nicht so groß«: Veränderungen nötig wären, wie gemeinhin angenommen wird, um den Erfolg einer neuen Gesellschaftsordnung sicherzustellen, wie sie die Anarchistinnen sehen. Ich denke, dass unsere derzeitige Ausstattung geeignet wäre, wenn die künstlichen Unterdrückungen und Ungleichheiten und die organisierte Macht und Gewalt, die sie erhalten, abgeschafft würden. Dann wird wiederum gefragt, ob die Freiheitsliebe dem menschlichen Herzen nicht aberzogen werden kann, wenn die menschliche Natur veränderbar ist. Die Freiheitsliebe jedoch ist eine universelle Eigenschaft, weshalb es bisher noch keiner Tyrannei gelingen konnte, sie zu vernichten. Einige moderne Diktatoren mögen es versuchen beziehungsweise versuchen es sogar wirklich mit allen grausamen Mitteln, über die sie verfügen. Selbst wenn sie lange genug an der Macht wären, um ein solches Projekt zum Erfolg zu führen – was schwer vorstellbar ist – gibt es noch andere Schwierigkeiten. Zum einen müssten die Menschen, die der Diktator zu erziehen versucht, von jeder Tradition ihrer Geschichte isoliert werden, die ihnen die Vorzüge von Freiheit vermittelt. Sie dürften außerdem keinerlei Kontakt zu anderen Menschen haben, die ihnen libertäre Ideen nahebringen könnten. Doch schon allein die Tatsache, dass ein Mensch sich seiner selbst bewusst ist und weiß, dass er anders ist als andere Menschen, erweckt in ihm den Wunsch zum freien Handeln. Das Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung ist ein grundlegender und äußerst dominanter Wesenszug.

Wenn die Menschen unbequeme Tatsachen nicht wahrhaben wollen, argumentieren sie oft, dass die Durchschnittsbürgerinnen gar keine Freiheit wollen und die Freiheitsliebe nur in wenigen Menschen existiert; dieses Argument ist mir oft begegnet. Die Menschen in den USA beispielsweise würden sich einfach nicht dafür interessieren. Dass den US-Bürgerinnen der Freiheitswille allerdings nicht ganz und gar fehlt, bewies erst kürzlich ihr Widerstand gegen das Prohibitions-Gesetz, der so erfolgreich war, dass selbst die Politikerinnen schließlich den Forderungen der Bevölkerung nachgaben und die Verfassungsergänzung zurücknahmen. Hätte sich die breite Masse in den USA in wichtigeren Fragen so entschlossen gezeigt, hätte viel mehr erreicht werden können.

Dennoch stimmt es, dass die US-amerikanische Bevölkerung gerade erst beginnt, sich für fortschrittliche Ideen zu interessieren. Das hängt mit der historischen Entwicklung des Landes zusammen. Der Siegeszug des Kapitalismus und die extreme Macht des Staates sind hier schließlich noch relativ neu. Viele glauben irrtümlicherweise noch daran, dass sie in der Tradition der Pioniere leben, als Erfolg einfach war und es mehr Möglichkeiten gab als heute und als die ökonomische Lage des Individuums noch nicht starr und hoffnungslos zu werden schien.

Dennoch stimmt es auch, dass die Durchschnittsbürgerinnen der USA noch immer in diesen Traditionen verhaftet und davon überzeugt sind, dass der Wohlstand zu ihnen zurückkehren wird. Aber weil eine Anzahl von Menschen nicht über den Individualismus und die Fähigkeit zum eigenständigen Denken verfügt, kann ich daraus nicht schließen, dass die Gesellschaft eine spezielle Krankenstation zu ihrer Heilung einrichten muss. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass die Freiheit, die wahre Freiheit, und eine freiere und flexiblere Gesellschaft die einzigen Wege zur Entwicklung der besten Potenziale des Individuums sind. Ich gebe zu, dass einige Individuen in der Revolte gegen die herrschenden Bedingungen zu großem Format heranwachsen. Ich bin mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass meine eigene Entwicklung hauptsächlich der Revolte geschuldet ist. Allerdings finde ich es absurd, aus dieser Tatsache zu schließen, dass die gesellschaftlichen Missstände verschärft werden sollten, um die Revolte dagegen notwendig zu machen. Eine solche Argumentation wäre die Wiederholung der alten religiösen Idee der Läuterung. Einerseits fehlt es ihr an Vorstellungskraft, weil sie davon ausgeht, dass sich jemand, der überdurchschnittlich begabt ist, nur in eine Richtung entwickeln kann. Der Mensch, der sich in diesem System im Zuge der Revolte entwickelt hat, wäre unter anderen gesellschaftlichen Umständen vielleicht Künstlerin, Wissenschaftlern oder eine andere kreative oder intellektuelle Größe geworden.

Nun behaupte ich auch nicht, dass der Triumph meiner Ideen das Leben der Menschen für alle Zeiten von allen nur möglichen Problemen befreien würde. Ich glaube aber wohl, dass die Beseitigung heute existierender künstlicher Hindernisse für den Fortschritt den Weg für neue Eroberungen und die Freude am Leben freimachen würde. Die Natur und unsere eigenen Komplexe eignen sich gut dazu, uns weiterhin genug Schmerz und Streit zu bereiten. Warum sollen wir dann das sinnlose Leiden, das uns unsere heutige Gesellschaftsstruktur auferlegt, aufgrund der mystischen Annahme erhalten, dass so unser Charakter gestärkt würde, wenn die gebrochenen Herzen und zerstörten Leben um uns herum diese Ansicht tagtäglich Lügen strafen? Vor allem wohlhabende Menschen sorgen sich darum, dass der menschliche Charakter in der Freiheit weicher werden könnte. Es wäre schwierig, den Hungernden zu überzeugen, dass sein Charakter ruiniert würde, wenn er genug zu essen hätte. Was die Entwicklung des Individuums in der Gesellschaft angeht, die ich anstrebe, glaube ich, dass das Individuum durch Freiheit und Überfluss eine unvorstellbare Schaffenskraft freisetzen könnte. Neugier und Interesse der Menschen an der Welt könnten ganz sicher zur Entwicklung von Individuen führen, die zu jeder denkbaren Leistung fähig wären.

Natürlich können sich jene, die in der Gegenwart gefangen sind, unmöglich vorstellen, dass materieller Gewinn durch eine andere Größe ersetzt werden kann, die den Menschen dazu motiviert, sein Bestes zu geben, denn Profit und Gewinn sind in unserem gegenwärtigen System zwei mächtige Größen. Das müssen sie auch sein. Selbst die Reichen fühlen einen Hauch von Unsicherheit. Sie wollen das schützen, was sie haben, und sich selbst stärken. Die Motive Gewinn und Profit sind jedoch mit grundlegenderen Motiven verbunden. Wenn ein Mensch dafür sorgt, dass er ein Zuhause und etwas zu essen hat und wenn er Geld verdienen will, dann arbeitet er weiter daran, seinen Status zu etablieren – um ein Ansehen zu erlangen, das in den Augen seiner Mitmenschen als bewundernswert gilt. Unter anderen und gerechteren Lebensumständen könnten diese grundlegenden Motive einem speziellen Zweck zugeführt werden und das Profitmotiv, das hier lediglich Ausdruck des Strebens nach Anerkennung ist, wird verschwinden. Selbst heute sind Wissenschaftlerinnen, Erfinderinnen, Dichterinnen und Künstlerinnen nicht in erster Linie von Gewinn- oder Profitinotiven angetrieben. Ihre Schaffenskraft entsteht aus dem Bedürfnis, etwas zu kreieren. Dass die Masse der Arbeiterinnen nicht dieses Bedürfnis verspürt, ist alles andere als überraschend, da ihre Tätigkeit eine tödliche Routine ist. Ihre Arbeit steht in keinerlei Beziehung zu ihrem Leben oder ihren Bedürfnissen und wird in einer entsetzlichen Umgebung auf Anweisung derer, die die Macht über Leben und Tod der Massen haben, ausgeübt. Was sollte sie dazu antreiben, mehr als das absolut Notwendige zu geben, um sich in ihrem Elend durchzuschlagen? In der Kunst, in der Literatur und in Lebensbereichen, die wir für etwas entfernt von unserem Alltag halten, sind wir offen, den Dingen auf den Grund zu gehen, etwas auszuprobieren und zu erneuern. Doch unsere traditionelle Ehrfurcht vor der Autorität ist so stark, dass sich in den meisten Menschen eine irrationale Angst ausbreitet, wenn man ihnen vorschlägt, etwas Neues zu versuchen. Sicher gibt es im gesellschaftlichen Bereich viel mehr Gründe für ein solches Experimentieren als in der Wissenschaft. Daher bleibt zu hoffen, dass die Menschheit oder ein Teil davon in nicht allzu ferner Zukunft die Gelegenheit bekommen wird, das Glück zu testen, in der angewandten Freiheit der Anfangsphase einer anarchistischen Gesellschaft zu leben und sich darin zu entwickeln. Der Glaube an die Freiheit geht davon aus, dass die Menschen zur Zusammenarbeit fähig sind. Selbst jetzt sind sie das in überraschendem Ausmaß, denn sonst wäre eine organisierte Gesellschaft schlicht unmöglich. Wenn Elemente wie Privatbesitz, durch die Menschen einander Schaden zufügen, abgeschafft werden und Autorität nicht mehr verehrt wird, wird Zusammenarbeit spontan entstehen und nicht zu vermeiden sein, und das Individuum wird seine höchste Berufung darin finden, seinen Beitrag zur Bereicherung des gesellschaftlichen Wohles zu leisten.

Nur der Anarchismus betont die Bedeutung des Individuums, seiner Möglichkeiten und Bedürfnisse in einer freien Gesellschaft. Anstatt ihm zu sagen, er soll vor Institutionen auf die Knie sinken, sie verehren und für Abstraktionen leben und sterben, sein Herz und sein Leben für Tabus einsperren, stellt der Anarchismus das Individuum in den Mittelpunkt der Gesellschaft – es muss für sich selbst denken, frei handeln und in vollen Zügen leben. Ziel des Anarchismus ist es, dass jedes Individuum auf der ganzen Welt dazu in der Lage ist. Wenn es sich frei und ganz entfalten kann, muss es vom Einfluss und der Unterdrückung anderer befreit werden. Daher ist die Freiheit der Grundpfeiler der anarchistischen Philosophie. Das hat selbstverständlich nichts zu tun mit dem vielgerühmten »rauen Individualismus«. Ein solcher Raub-Individualismus ist eher schlaff als rau. Bei der kleinsten Bedrohung seiner Sicherheit sucht er Schutz beim Staat und durch die Armee, die Marine oder andere Unterdrückungsmechanismen unter seiner Befehlsgewalt. Der »raue Individualismus« ist nur eine der vielen Täuschungen der herrschenden Klasse, um ungehindert ihren Geschäften und ihrer politischen Erpressung nachgehen zu können.

Trotz des gegenwärtigen Trends, nach starken Männern zu rufen, zu totalitären Staatsformen zu tendieren oder zur Diktatur von links, bin ich meinen Ansichten treu geblieben. Sie haben sich durch meine persönliche Erfahrung und die Ereignisse, die über die Jahre auf der Welt geschehen sind, sogar noch gefestigt. Ich sehe keinen Grund, meine Ansichten diesen Entwicklungen anzupassen, denn ich bm nicht der Meinung, dass der Hang zur Diktatur unsere gesellschaftlichen Probleme jemals erfolgreich lösen können wird. Wie in der Vergangenheit glaube „ich auch heute noch, dass die Freiheit die Seele des Fortschritts ist und in keiner Lebensphase fehlen darf. Für mich ist dies geradezu ein Gesetz der gesellschaftlichen Evolution. Ich glaube an das Individuum und an die Fähigkeit freier Individuen zu gemeinsamen Bemühungen.

Die Tatsache, dass die anarchistische Bewegung, für die ich mich so lange eingesetzt habe, in gewisser Weise zu einem Stillstand gekommen ist und von autoritären, repressiven Philosophien überschattet wird, bereitet mir Sorge, lässt mich aber nicht verzweifeln. Es scheint mir besonders bedeutsam, dass Anarchistlnnen in vielen Ländern Einreiseverbot haben. Sämtliche Regierungen vertreten die Ansicht, dass rechte und linke Parteien zwar einen gesellschaftlichen Wandel befürworten, aber der Idee von Regierung und Autorität nicht abschwören. Allein der Anarchismus bricht mit beiden und plädiert für die kompromisslose Rebellion. Auf lange Sicht wird daher der Anarchismus für das gegenwärtige System als gefährlicher eingestuft als alle anderen Gesellschaftstheorien, die sich derzeit um die Vormacht streiten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet halte ich mein Leben und meine Arbeit für erfolgreich. Was gemeinhin als erfolgreich gilt – Anhäufung von Wohlstand, gesellschaftliches Ansehen oder das Erlangen einer Machtposition – ist in meinen Augen das schlimmste Versagen. Wenn es von einem Menschen heißt, er hat es geschafft, bedeutet das, dass er fertig ist – seine Entwicklung ist an diesem Punkt stehen geblieben. Ich habe stets versucht, in einem Zustand fließender Entwicklung und andauernden Wachstums zu verweilen und nicht in einer Nische der Selbstzufriedenheit zu versteinern. Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich sicher, wie jeder andere Mensch auch, einige Kleinigkeiten anders machen. Was aber meine wichtigsten Handlungen und Einstellungen angeht, würde ich alles genauso wiederholen, wie ich es schon einmal getan habe. Ganz sicher würde ich mit der gleichen Hingabe und dem gleichen Vertrauen für den Anarchismus und seinen höchsten Triumph arbeiten.