Titel: Evolution und Revolution
AutorIn: Reclus, Elisée
Datum:
Bemerkungen: Erschienen in der Reihe „Anarchistisch-communistische Bibliothek“ herausgegeben von der Gruppe Autonomie, London.


Diese zwei Worte: Evolution und Revolution gleichen sich sehr; jedoch Diejenigen, die sie beständig gebrauchen, in sozialer und politischer Beziehung, versuchen gewöhnlich, ihnen eine antagonistische Bedeutung zu geben.

Das Wort Evolution, gleichbedeutend mit allmäliger Entwicklung in Ideen und Sitten, wird in gewissen Kreisen der Gesellschaft als direkter Kontrast (Gegensatz) von dem höchst verpönten Worte Revolution hingestellt, welches Umwälzungen mehr oder weniger plötzlich bedeutet, die gewisse stellenweis Platz greifende Katastrophen nach sich ziehen. Jedoch, ist es möglich, dass eine Umwandlung in Ideen stattfinden kann, ohne hin und wieder einige Ungleichmässigkeiten im Leben zu erzeugen? Muss die Revolution nicht naturgemäss der Evolution folgen, sowie die That der Willenskraft zum Handeln folgt? Im Grunde genommen, sind diese zwei Worte nur bei der Zeit ihres Erscheinens au unterscheiden. Wenn wir auf der einen Seite den normalen Fortschritt der Anschauungen annehmen und auf der andern einen Anstoss erwarten, so glauben wir mit Nothwendigkeit an äusserliche Erschütterungen, welche die Formen der Gesellschaft verändern.

Dieses werde ich darzustellen versuchen, nicht durch den Gebrauch abstrakter Ausdrücke, sondern mit Beihilfe der Aufmerksamkeit und Erfahrung Aller, in Anwendung von solchen Argumenten, die allgemein verständlich sind. Ohne Zweifel bin ich einer von Denjenigen, die man als „gefährliche Revolutionäre“ kennt. Seit vielen Jahren gehöre ich der Vereinigung an, die durch das Gesetz als berüchtigt hingestellt, welche den Namen Internationale Arbeiter-Association führt, deren blosser Name für Alle, die sich als Mitglieder bekennen, eine Behandlung wie für Uebelthäter zur Folge hat, und schliesslich bin ich einer Derjenigen, die der „verfluchten“ (Kommune) dienten — entsetzlich für alle anständigen Leute —. Aber wie roh ich auch sein mag, so werde ich mich ausserhalb, ja eher über meiner Partei zu erheben wissen, um ohne irgendwelche Leidenschaft oder persönliche Routine vom allgemeinen und menschlichen Standpunkt die jetzige Evolution, sowie die zukünftige Revolutionen zu studiren. — Da wir zu denen gehören, die man verfolgt, so haben wir das Recht, zu verlangen, dass man uns anhört.

Zuallererst müssen wir die Thatsache feststellen, dass, wenn Diejenigen, welche auf Revolutionäre mit Abscheu blicken, das Wort Evolution willig acceptiren, sie das letztere nur thun, weil sie nicht wissen, was das Wort bedeutet, sonst würden sie um keinen Preis etwas damit zu thun haben wollen. Sie loben den Fortschritt im Allgemeinen, beklagen ihn aber, wenn er sich nach irgend einer bestimmten Richtung wendet. Sie halten dafür, dass die gegenwärtige Gesellschaft, schlecht wie sie ist, was sie selbst zugestehen, des Preservirens werth ist; ihnen genügt es, dass sie ihr eigenes Ideal von Reichthum, Macht und Bequemlichkeit verwirklicht. Weil es Reiche und Arme giebt, Herrscher und Unterthanen,. Herren und Knechte, Cäsaren, welche die Schlacht anleiten und Gladiatoren, welche in den Tod gehen, so haben kluge Menschen, sich blos au die Seite der Reichen und Mächtigen zu stellen und den Cäsaren den Hof zu machen. Unsere schöne Gesellschaft verschafft ihnen Brot, Geld, Stellung und Ehre; worüber sollten sie sich beklagen? Sie bilden sich einfach ein, dass Jedermann so zufrieden sei, wie sie selbst. In den Augen eines Mannes, der gerade dinirte, ist die ganze Welt gut genährt. Mit seinem Zahnstocher spielend, stellt er ganz gelassen seine Betrachtungen an über das Elend der verächtlichen Masse von Sklaven. Alles ist gut; verdammt sei der Ausgehungerte, dessen Aechzen seine Verdauung stört! Wenn die Gesellschaft für die Bedürfnisse und Launen des Egoisten von seiner Wiege an vorgesehen hat, so kann er zum mindesten hoffen, eine Stellung darin zu gewinnen durch Intriguen und Schmeichelei, durch Anstrengungen oder günstiges Verhängniss. Was kümmert ihn die moralische Entwickelung? In der Entwickelung eines grossen Vermögens besteht sein einziges Streben!

Wenn aber das Wort Evolution in dem Munde Derjenigen, welche es so gerne aussprechen, blos dazu dient, eine Lüge zu verdecken, so ist es eine Wahrheit für Revolutionäre; diese sind die wahren Evolutionisten.

Indem sie von allen Bücherformeln, welche für sie ihre Bedeutung verloren haben, Abstand nehmen, suchen sie die Wahrheit ausserhalb der Lehren der verschiedenen Schulen; sie kritisiren Alles, was die Herrscher Ordnung, Alles, was die Lehrer Moral nennen; sie lernen, sie enthüllen, sie leben und suchen ihr Leben nützlich zu machen. Was sie gelernt haben, das verkünden sie der Welt; was sie begreifen, das wünschen sie zu praktiziren. Die bestehenden Zustände erscheinen ihnen ungerecht und sie möchten sie dem neuen Ideal der Gerechtigkeit gemäss umändern. Es genügt ihnen nicht, ihren eigenen Geist frei gemacht zu haben, sie wollen auch Andere frei machen und die Gesellschaft von aller Knechtschaft erlösen. Vernunftgemäss in ihrer Entwickelung, wünschen sie eingeführt zu sehen, was sie als gut erkannt und handeln nach diesem Wunsche.

Vor mehreren Jahren gefiel sich die offizielle und höfische Gesellschaft Europas darin, zu versichern, dass der Sozialismus ausgestorben sei. Ein Mensch, der, was kleinliche Dinge anbelangt, sehr fähig war, aber unfähig, wenn es sich um etwas Grosses handelte, ein abgeschmackter und eitler Emporkömmling, der das Volk hasste, weil er demselben entwachsen war, prahlte offiziell, er habe dem Sozialismus den Todesstoss gegeben. Er glaubte denselben in Paris ausgetilgt zu haben, in den Gräbern von Père La Chaise verscharrt. In Neucaledonien, bei unsern Gegenfüsslern, dachte er, würde der jämmerliche Ueberrest von dem zu finden sein, was einst die sozialistische Partei genannt wurde. Alle würdigen Freunde des Herrn Thiers in Europa beeilten eich, dessen Worte in einem Triumphgesang zu wiederholen. Haben wir, was die deutschen Sozialisten anbelangt, nicht den Herrn der Herren, der über sie wacht, den Mann, vor dessen finsterem Blick Europa zittert? Und die russischen Nihilisten! Wer und was sind diese „Wichte“? Seltsame Ungeheuer, Wilde, von den Hunnen und Baschkiren abstammend um welche das zivilisirte Westen sich nicht zu kümmern nöthig hat.

Dennoch war die Freude, welche das Verschwinden des Sozialismus verursachte, nur von kurzer Dauer. Ich weiss nicht, welche unangenehme Kenntniss den Konservativen zuerst enthüllte, dass noch Sozialisten dageblieben, dass sie nicht so todt waren, wie der abgeschmackte Alte vorgegeben. Aber jetzt kann über ihre Auferstehung Niemand mehr in Zweifel sein. Erklären sich die französischen Arbeiter nicht in jeder Versammlung einstimmig zu Gunsten der Appropriation des Landes und der Fabriken, welche bereits als der Ausgangspunkt der neuen ökonomischen Aera betrachtet wird? Erschallt in England nicht der Ruf, „Nationalisation des Landes“, und erwarten die grossen Gutsbesitzer nicht die Expropriation durch die Hand des Volkes? Suchen politische Parteien nicht, irische Stimmen zu gewinnen, indem sie die Konfiskation von Grund und Boden versprechen, indem sie sich im Vorhinein verpflichten, einen Angriff auf das dreimal geheiligte Recht des Eigenthums zu machen? Und sahen wir in den Vereinigten Staaten von Amerika die Arbeiter während einer Woche nicht als Herren aller Eisenbahnen in Indiania und eines Theiles von denen an der atlantischen Meeresküste? Hätte nicht eine grosse Revolution ohne einen Streich vollendet werden können, wenn jene Arbeiter die Situation verstanden hätten? Wissen ferner nicht Diejenigen, welche mit Russland bekannt sind, dass die dortigen Bauern, ohne Ausnahme, das Land beanspruchen, das ganze Land, von welchem sie die Junker zu vertreiben wünschen? So greift die Evolution Platz. Der Sozialismus oder, in anderen Worten, die Armee von Individuen, welche die sozialen Zustände umzuändern wünschen, hat ihren Marsch wieder fortgesetzt. Die bewegliche Masse stürzt sich vorwärts und keine Regierung wagt jetzt, ihre dicht gedrängten Reihen zu ignoriren. Im Gegentheil, die bestehenden Mächte stellen sie in übertriebenen Zahlen dar und versuchen durch alberne Gesetzgebung und aufreizende Intervention mit ihr fertig zu werden. Furcht ist ein schlechte Rathgeber.

Es mag ohne Zweifel manchmal vorkommen, dass Alles ganz ruhig ist. Am Tage nach einer Metzelei wagen es Wenige, sich den Kugeln bloszustellen. Wenn ein Wort, eine Miene mit Einkerkerung bestraft werden, so sind Diejenigen, welche den Muth haben, eich der Gefahr auszusetzen, meilenweit zu suchen. Diejenigen, welche in einer Sache, deren Triumph jetzt noch in weiter Ferne und sogar zweifelhaft ist, die Rolle eines Opfers übernehmen, sind selten. Nicht Jedermann ist so heldenmüthig, wie die russischen Nihilisten, welche sogar im Lager des Feindes Manifeste herstellen und sie zwischen zwei Wachtposten an die Mauer kleben. Man muss selbst der Sache sehr ergeben sein, um Diejenigen zu tadeln, welche sich nicht offen als Sozialisten bekennen, wenn ihre Arbeit, d. h. das Leben ihrer Lieben durch dieses Bekenntniss in Gefahr geräth. Wenn aber alle Unterdrückten auch nicht das Temperament von Helden besitzen, sie fühlen ihre Leiden nicht weniger; und eine grosse Anzahl unter ihnen ziehen ihre eigenen Interessen in ernstliche Erwägung. In mancher Stadt, wo noch keine organisirte Gruppe von Sozialisten besteht, sind die Arbeiter ohne Ausnahme jetzt schon mehr oder weniger bewusste Sozialisten; ganz instinktiv applaudiren sie einen Kameraden, der zu ihnen von einem Gesellschaftszustande spricht, in welchem alle Arbeitsprodukte den Arbeitern gehören sollen. Dieser Instinkt birgt den Keim der zukünftigen Revolution in sich; denn er wird von Tag zu Tag bestimmter und verwandelt sich in ein deutliches Bewusstsein. Was dem Arbeiter gestern nur unbestimmt vorschwebte, das versteht er heute, und jede neue Erfahrung lehrt ihn, es besser zu begreifen. Und die Bauern, welche nicht so viel aus ihrem Landstück gewinnen können, um Leib und Seele zusammenzuhalten und die noch zahlreichere Klasse, welche auch nicht eine einzige Scholle ihr eigen nennt, beginnen nicht alle diese zu begreifen, dass das Land Denjenigen gehören sollte, die es bebauen? Instinktiv haben sie dies immer gefühlt, jetzt begreifen sie es und bereiten sich vor, ihre Ansprüche in schlichter Sprache zu verfechten.

So stehen die Dinge; welchen Ausgang werden sie finden? Muss die Evolution, welche in den Köpfen der Arbeiter, d. h. der grossen Masse Platz greift, nicht nothwendigerweise eine Revolution herbeiführen, wenn nicht die Vertheidiger der Privilegien mit grosser Huld dem Druck von unten nachgeben? Aber die Geschichte lehrt uns, dass sie nichts derartiges thun werden. Auf den ersten Blick möchte es so natürlich scheinen, dass ein gutes Einverständniss ohne Kampf erzielt werden könnte. Auf dem breiten Busen der Erde ist Raum für uns Alle, sie ist reich genug, um uns Alle zu befähigen, ein angenehmes Leben zu führen. Die Früchte, welche sie hervorbringen kann, reichen aus, um Alle zu ernähren; sie produzirt genug Faserngewächse, um Alle mit Kleidern zu versehen; sie enthält genug Steine und Lehm, so dass Alle Wohnungen haben könnten. Für jeden einzelnen der Brüder ist Platz in dem Bankett des Lebens. Das ist die einfache ökonomische Thatsache.

„Was thut es“, sagen Viele. „Die Grossen werden von ihrem Reichthum verschwenden, so viel sie Lust haben; die Händler, Spekulanten und Makler der verschiedenen Sorten werden das Uebrige manipuliren; die Armeen werden einen grossen Theil vernichten und die Masse des Volkes muss mit den Ueberresten vorlieb nehmen. „Arme haben wir allezeit bei uns“, sagen die Zufriedenen, indem sie eine Bemerkung zitiren, welche, wie sie sagen, von den Lippen eines Gottes fiel. Wir fragen nichts darnach, ob ihr Gott wünschte, dass welche elend dran seien. Wir wollen die Welt nach einem andern Muster umgestalten. Nein, es soll keine Arme mehr geben! Da alle Menschen nöthig haben, zu wohnen, gekleidet, erwärmt und genährt zu sein, lasst Alle haben, was sie brauchen und Niemand erkältet oder hungrig sein. Die schrecklichen Sozialisten brauchen keinen Gott, der ihnen diese Worte eingiebt; sie sind menschlich, das genügt.

So sehen wir die Menschen also in zwei eich feindlich gegenüberstehende Gesellschaften getheilt. Diese sind wohl untermischt, hier und da verschiedenartig verbündet durch Diejenigen, welche nicht wissen, was sie wollen und blos nach rückwärts fortschreiten; aber von aussen her übersehen, und ungewisse und indifferente Individuen, welche von dem Schicksal wie Meereswellen hin- und hergeworfen werden, ausser Acht gelassen, so finden wir Menschheit wirklich in zwei Lager getheilt; im einen befinden sich die, welche die Armuth, d. h. den Hunger für Andere aufrecht erhalten wünschen, und im andern die, welche das Wohl und Glück Aller wollen. Die Kräfte in diesen zwei Lagern erscheinen auf den ersten Blick sehr ungleich: Die Vertheidiger der bestehenden Gesellschaft haben unbegrenzte Besitzthümer, Einkünfte nach Hunderttausenden gezählt, die ganze Macht des Staates mit seinen Armeen von Beamten, Soldaten, Polizisten, Richtern und ein ganzes Arsenal voll Gesetze und Waffen. Und was haben die Sozialisten, die Kämpfer für die neue Gesellschaft dieser organisirten Macht entgegenzustellen? Scheint es, als ob sie nichts hätten? Ohne Geld oder Truppen würden sie in der That unterliegen, wenn sie nicht die Evolution der Ideen und der Moral repräsentirten. Sie sind nichts, aber sie haben den Fortschritt des menschlichen Gedankens auf ihrer Seite. Der Strom der Zeit trägt sie weiter.

Die äussere Form der Gesellschaft muss sich ändern, in Uebereinstimmung mit den inneren treibenden Kräften. Der Saft erhält den Baum und giebt ihm Blätter und Blüthen, das Blut erhält den Menschen und die Ideen die Gesellschaft. Und doch giebt es keinen Konservativen, der nicht darüber lamentirte, dass Ideen und Moral und alles andere, was das höhere Leben des Menschen mit ausmacht, sich seit ,,der guten alten Zeit“ verändert. Ist es nicht eine nothwendige Folge des inneren geistigen Arbeitens der Menschen, dass gesellschaftliche Formen sich ändern müssen und eine verhältnissmässige Revolution Platz greifen muss?

Jeder Einzelne kann sich von dem Wechsel in der Denk- und Handlungsweise seit der Mitte dieses Jahrhunderts durch seine eigenen Erinnerungen vergewissern. Nehmen wir z. B. das eine Hauptfaktum der Abnahme des Respekts und der Ehrerbietung. Geht unter grosse Persönlichkeiten; worüber beklagen sie sich? Dass sie wie andere Menschen behandelt werden. Sie nehmen keinen Vorrang mehr ein; die Leute vergessen sie zu grüssen; weniger vornehme Personen erlauben sich feinere Möbel oder schönere Pferde zu besitzen; die Weiber solcher von geringerem Vermögen gehen prächtiger gekleidet, als die ihrigen. Und worin besteht die Klage des gewöhnlichen Spiessbürgers und dessen Frau? Man kann keine Dienstmägde mehr bekommen, der Geist des Gehorsams ist verloren gegangen. Jetzt glaubt die Magd das Kochen besser zu verstehen, als die Herrin; sie bleibt nicht lange in einer Stelle aus Bravheit, sondern aus purer Dankbarkeit für die erhaltene Pflege; wegen der geringsten Unannehmlichkeit oder wegen zwei Mark mehr Lohn wandert sie. In manchen Ländern verlangt sie sogar ein Zeugniss von ihrer Herrin gegen ihr eigenes.

Es ist wahr, der Respekt flieht; nicht der gerechte, den man vor einem ehrlichen und ergebenen Menschen hat, sondern der verächtliche und schimpfliche, welcher einen Haufen von Müssiggängern und Bummlern zusammenzieht, wenn ein König vorüberfährt und die Lakajen und Pferde eines grossen Mannes zum Gegenstand der Bewunderung macht. Und nicht allein der Respekt schwindet, sondern Diejenigen, welche am meisten Anspruch auf die Achtung der Uebrigen machten, sind die ersten, welche ihren übermenschlichen Charakter aufgeben. Die asiatischen Herrscher der alten Zeit verstanden die Kunst, Verehrung und Anbetung für sich hervorzurufen. Der Glanz ihrer Paläste wurde aus weiter Ferne gesehen; an allen Ecken und Enden waren ihre Statuen errichtet; ihre Edikte wurden verlesen, aber sie selbst zeigten sich niemals. Die ihnen am nächsten Stehenden, redeten sie nur auf den Knieen an; wie durch einen leuchtenden Blitz wurden sie von Zeit zu Zeit gezeigt, vermittelst Aufziehen eines Vorhanges, welcher ebenso plötzlich sie wieder verbarg, in den Herzen aller Zuschauer Bestürzung zurücklassend. In jenen Tagen war der Respekt heilig genug, um vollständige Abstumpfung zur Folge zu haben: Ein stummer Bote überbrachte den Verurtheilten einen seidenen Strang und das genügte; jede Miene oder Geberde würde überflüssig gewesen sein, Und jetzt sehen wir Monarchen Logen im Theater einnehmen, um sich „Orpheus in der Unterwelt“ oder „Die Grossherzogin von Gerolstein“ mit anzusehen, das heisst, sie nehmen Theil an der Verspottung alles dessen, was am meisten respektire zu werden pflegte — Gottheit und Königthum, Welches ist der wahre Königsmörder, der Mann, welcher einen Monarchen todtet und ihm die Ehre anthut, ihn als den Vertreter einer ganzen Gesellschaft zu betrachten oder der Souverän, welcher sich selbst bespöttelt, indem er über die Grossherzogin oder den General Baum lacht? Dieser lehrt uns wenigstens, dass die politische Macht eine wurmstichige Institution ist. Die Macht ist zwar noch da, aber der allgemeine Respekt, welcher ihr Werth verlieh, ist verschwunden. Das Gebäude selbst hat aufgehört zu existiren, nur das äussere Gerüst steht noch.

Trägt nicht die Ausbreitung einer Bildung, welche Allen die gleichen Begriffe über Dinge giebt, zu unserem Anmarsch nach Gleichheit bei? Würde der Unterricht blos in der Schule ertheilt, so möchten die Regierungen immer noch hoffen, den menschlichen Geist in Banden zu halten; das meiste Wissen wird aber ausserhalb der Schule gewonnen. Es wird in der Strasse, in der Werkstatt, vor der Marktbade, im Theater, im Eisenbahnwagen, auf dem Dampfschiff, durch das Anschauen neuer Landschaften, durch das Besuchen fremder Länder etc. aufgenommen. Heutzutage reist fast Jedermann, der Eine aus Luxus, der Andere aus Nothwendigkeit. Keine Versammlung findet statt, in welcher nicht Leute, die Russland, Australien oder Amerika gesehen haben, anzutreffen sind, und wenn Leute, die verschiedene Kontinente bereist, so häufig zu finden sind, so giebt es sozusagen Niemand, der nicht genügend herumgekommen wäre, um nicht den Kontrast zwischen Stadt und Land, Berg und Ebene, Land und Meer beobachtet zu haben. Es ist wahr, die Reichen reisen mehr als die Armen, aber gewöhnlich zwecklos; wenn sie von einem Land ins andere gehen, wechseln sie ihre Umgebung nicht, sie sind, im gewissen Sinne, immer zu Hause; die Schwelgereien und Genüsse im Hotelleben erlauben ihnen nicht, die wesentlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern und Völkern zu würdigen. Der arme Mann, welcher mit den Schwierigkeiten des Lebens in Kollision geräth, ohne Führer an der Seite, ist am besten befähigt, zu beobachten und im Gedächtniss zu behalten. Und stellt nicht die grosse Schule der äusseren Welt die grossen Werke menschlichen Fleisses vor den Augen der Reichen und Armen gleichmässig aus, vor denen, welche diese Wunder hervorgebracht, wie vor denen, welche daraus ihren Nutzen ziehen? Der arme Ausgestossene kann Eisenbahnen sehen, Telegraphen, hydraulische Pumpen, Perforatoren (Bohrmaschinen), selbstzündende Zündhölzer, so gut, wie der Gewalthaber und diese Dinge machen nicht weniger Einfluss auf ihn. Das Privilegium des Genusses einiger dieser Errungenschaften der Wissenschaft ist verschwunden. Denkt sich der Ingenieur, wenn er mit seiner Lokomotive durchs Land eilt, ihren Lauf nach Belieben verdoppelt oder schwächt, als Untergeordneten des Fürsten, welcher hinter ihm in einem vergoldeten Coupe eingeschlossen sitzt und den das Bewusstsein erzittern macht, dass sein Leben von einem Dampfdruck, einer Hebelbewegung oder einer Dynamitbombe abhängt?

Die Ansicht der Natur und der Werke der Menschen und das werkthätige Leben bilden das Kollegium, worin die wahre Bildung der heutigen Gesellschaft erlangt wird. Die Schulen im engeren Sinne des Wortes sind viel weniger wichtig, obschon auch sie ihre Evolution nach der Richtung der Gleichheit hin durchmachen. Es gab eine Zeit und sie ist noch nicht sehr weit hinter uns, wo aller Schulunterricht in blossen Formeln, mystischen Phrasen und Auswendiglernen aus heiligen Schriften bestand. Geht in die muselmännische Schule, neben der Moschee eröffnet; dort werdet ihr Kinder sehen, weiche stundenlang mit buchstabiren oder hersagen von Versen aus dem Koran beschäftigt sind. Geht in die Schulen von christlichen Pfaffen — protestantisch oder katholisch — unterhalten, und ihr werdet einfältige Hymnen und alberne Deklamationen — in Lateinisch oder unverständlichem Französisch — zu hören bekommen. Aber selbst in diesen Schulen hat der Stoss von unten verursacht, dass mit diesem dumpfen und geisttödtenden Schlendrian und mit einer neuen Unterrichtsart abgewechselt wird; anstatt nichts als Formeln zu lehren, expliziren die Lehrer jetzt Thatsachen, stellen Vergleiche an und verfolgen die Wirkungen von Gesetzen. Was auch die Bemerkungen des Lehrers zu der Lektion sein mögen, das Gelernte bleibt nichtsdestoweniger unverdorben im Gedächtniss. Welche Lehre wird die Oberhand behalten? Diejenige, nach welcher zwei mal zwei vier machen und aus Nichts Nichts hervorgebracht wird, oder die alte Lehre, nach welcher Alles aus Nichts entsprang und drei Personen in einer aufgehen?

Es ist wohl wahr, die Elementarschule ist nicht Alles; es genügt nicht, hier und da nur ein Fünkchen von Wissenschaft aufzuschnappen, man sollte in jeder Beziehung fähig sein, sie anzuwenden. Darum macht es die sozialistische Evolution nothwendig, dass die Schule eine permanente Institution sein sollte für Jedermann. Nachdem Jeder in einer Primarschule die „allgemeine Aufklärung“ erhalten, sollte er die Gelegenheit haben, in einem freiwillig gewählten Lebenskreis seine intellektuellen Fähigkeiten aufs Vollständigste zu entwickeln. Unterdessen lasst den Arbeiter nicht verzweifeln. Jede grosse Errungenschaft der Wissenschaft wird zuletzt Gemeingut Aller. Professionelle Gelehrte haben lange Jahre der Untersuchungen und Hypothesen durchzumachen, sie müssen gegen Irrthümer und Lüge kämpfen. Ist man aber endlich auf den Grund der Wahrheit gekommen, so breitet sich dieselbe, oft trotz der Gelehrten, dank eines verachteten Revolutionärs, in ihrem vollen Glänze vor den Blicken Aller aus. Alle verstehen sie, ohne sich darnach zu bemühen; es scheint, als hätte man sie immer gekannt. Früher glaubten die Gelehrten, der Himmel sei ein runder Dom, ein metallenes Dach — oder noch besser — eine Serie von Gewölben, drei, sieben, neun, sogar dreizehn, jedes mit seinem Aufzug von Sternen, seinen eigenen Gesetzen, seinem speziellen Regime und seinen Legionen von Engeln und Erzengeln, es zu bewachen! Seitdem aber diese aufeinandergeschobenen Himmelsräume, wie in der Bibel und im Talmud angeführt, zerstört worden sind, giebt es kein Kind mehr, das nicht wüsste, dass die Erde von unendlichem und unbeschränktem Raum umgeben ist. Man kann kaum sagen, dass man dieses lernt; es ist eine Wahrheit, welche fortan als einen Theil des universellen Gemeinbesitzes gilt.

Ebenso verhält es sich mit allen grossen Eroberungen, besonders in Moral und der politischen Oekonomie. Es gab eine Zeit, wo die grosse Mehrzahl der Menschen in Sklaverei geboren wurden und lebten und kein anderes Ideal kannten, als den Wechsel der Dienstbarkeit. Es kam ihnen nie in den Sinn, dass „ein Mensch so gut ist wie der andere“. Jetzt wissen sie es, sie begreifen, dass die virtuelle, von der Entwickelung verliehene Gleichheit durch die Revolution in wirkliche Gleichheit umgewandelt werden muss. Vermöge der Studien des Lebens begreifen die Arbeiter gewisse ökonomische Gesetze sogar besser, als professionelle Oekonomen. Giebt es einen einzigen Arbeiter, der der Frage der progressiven oder proportionellen Steuern indifferent gegenübersteht und nicht wüsste, dass schliesslich alle Steuern auf den Schultern der Aermsten lasten? Giebt es einen emsigen Arbeiter, dem nicht das schreckliche Verhängniss des ehernen Lohngesetzes bekannt wäre, welches ihn dazu verdammt, eine erbärmliche Kleinigkeit zu empfangen, gerade so viel Lohn, um ihn während seiner Arbeit vor dem Hungertod zu bewahren? Die bittere Erfahrung hat ihm genügende Kenntnisse über dieses unvermeidliche Gesetz der politischen Oekonomie beigebracht.

Was also auch die Quelle der Information sein möge, Alle profitiren davon, und der Arbeiter nicht weniger als die Uebrigen. Ob eine Erfindung von einem Bourgeois, einem Adeligen oder von einem Proletarier gemacht wurde, ob der Gelehrte Bernhard Polissy, Lord Bacon oder Baron Humboldt ist, die ganze Welt wird aus seinen Untersuchungen Nutzen ziehen. Gewiss hätten die privilegirten Klassen lieber allen Nutzen der Wissenschaft für sich behalten und das Volk in Unwissenheit gelassen, aber ihr selbstsüchtiger Wunsch kann nun nicht mehr erfüllt werden. Sie befinden sich in demselben Falle, wie der Magiker in „Tausend und eine Nacht“, der eine Vase entsiegelte, in welcher ein Genius zehntausend Jahre hindurch eingeschlossen war. Sie möchten ihn gerne wieder in seine Abgeschiedenheit zurücktreiben und unter dreifachem Siegel einsperren, aber sie haben die Zauberformel vergessen und der Genius ist auf immer befreit.

Diese Freiheit des menschlichen Willens behauptet sich jetzt nach allen Richtungen hin; sie bereitet keine kleinen partiellen Revolutionen vor, sondern eine einzige, universelle. Es ist in der Gesellschaft als einem Ganzen und in jedem ihrer Thätigkeitszweige, dass Veränderungen sich zu vollziehen im Begriff stehen. Die Konservativen irren eich nicht im Geringsten, wenn sie von Revolutionären im Allgemeinen als von Feinden der Religion, der Familie und des Eigenthums sprechen. Ja, die Sozialisten verwerfen wirklich die Autorität des Glaubenssatzes und die Einmischung des Uebernatürlichen in die Natur und, in diesem Sinne, so ernst auch ihr Streben nach der Verwirklichung ihres Ideales sei, sind sie Feinde der Religion. Ja, sie wünschen wirklich die Unterdrückung des Heirathsmarktes; sie wollen die freien Verbindungen, bloss von gegenseitiger Liebe, Selbstrespekt und dem Respektiren der Würde Anderer abhängig, und, in diesem Sinne, so liebevoll und ergeben sie auch Denjenigen gegenüber sein mögen, deren Leben mit dem ihrigen verbunden ist, sind sie allerdings die Feinde der gesetzlichen Familie. Ja, sie wünschen wirklich dem Monopol auf Land und Kapital ein Ende zu machen und beides an Alle zurückzugeben, und, in diesem Sinne, wie freudig sie auch jedem Einzelnen die Genüsse der Früchte der Erde sichern möchten, sind sie die Feinde des Eigenthums.

So treibt uns der Lauf der Entwickelung, die heranströmende Fluth vorwärts, einer Zukunft entgegen, grundverschieden von den bestehenden Zuständen, und vergebens wird man versuchen, dem Verhängniss Hindernisse entgegenzustellen. Die Religion, bei weitem der festeste aller Dämme, hat seine Widerstandskraft verloren; auf jeder Seite Risse erhaltend, wird er schwankend und ohne Fehl früher oder später von den reissenden Wellen niedergerissen.

Es ist sicher, dass die Evolution unserer Zeit ganz und gar ausserhalb des Christenthums Platz greift. Es gab eine Zeit, wo das Wort Christ, wie Katholik, eine universelle Bedeutung hatte und auf eine Welt von Brüdern angewandt wurde, die bis zu einem gewissen Grade dieselben Gewohnheiten, dieselben Ideen und eine Zivilisation von ein und derselben Beschaffenheit theilten. Sind aber nicht die Ansprüche des Christenthums, in unsern Tagen als gleichbedeutend mit Zivilisation gelten zu wollen, absolut unberechtigte? Wenn von England oder Russland gesagt wird, dass deren Armeen das Christenthum und die Zivilisation nach entfernten Regionen tragen, merkt da nicht Jeder die Ironie, welche in diesem Ausdruck liegt? Das Kleid des Christenthums bedeckt nicht alle Völker, welche durch ihre Kultur und Industrie einen Theil der zeitgenössischen Zivilisation bilden. Die Parsen in Bombay, die Brahminen in Benares nehmen unsere Wissenschaft begierig auf, den chtistlichen Missionären jedoch begegnen sie mit einer kalten Höflichkeit. Die Japanesen, welche uns sonst so prompt nachahmen, tragen Sorge, dass sie unsere Religion nicht annehmen. Was die Chinesen anbelangt, so sind dieselben viel zu schlau und verschlagen, als dass sie sich bekehren Hessen. „Wir brauchen nicht Eure Pfaffen“, sagt ein englisches Gedicht von einem Chinesen geschrieben, „wir haben selbst zu viele, langhaarig und rasirt, was wir brauchen sind Eure Waffen und Eure Wissenschaft, Euch zu bekämpfen und zu vertreiben von unserm Lande, wie der Wind zerstiebt die dürren Blätter.“

Dann ist das Christenthum dem Namen nach nicht über die halbe zivilisirte Welt verbreitet, und wo es sogar als vorherrschend angenommen wird, ist es nöthig, nach ihm zu suchen, aber es ist viel mehr eine Form als Wirklichkeit, und bei denen, welche scheinbar am eifrigsten sind, ist es nichts, als eine verächtliche Heuchelei. Wie viele Individuen bleiben noch, diejenigen, deren Christenthum blos in der Taufe besteht, bei Seite gelassen, deren tägliches Leben mit der Lehre, welche sie zu vertreten vorgeben, übereinstimmt und deren Ideen immer sind, was sie sein sollten, die einer anderen Welt? Christen, welche sich durch rühmliche Aufrichtigkeit auszeichnen, mag man sogar im „protestantischen Rom“, einer Stadt übrigens mit vortrefflichen Traditionen, ohne merklichen Erfolg suchen. In Genf und Oxford, wie in allen religiösen Zentren und sonst überall, sind die Hauptbethätigungen unkirchliche; sie neigen sich zur Politik oder, was noch öfter der Fall, zur Geschäftmacherei. Die Hauptvertreter der sog. christlichen Gesellschaft sind die Juden, „die Könige der Epochen“. Und wie Viele sind unter Denen, welche sich höheren Laufbahnen widmen, die, ohne gezwungen zu sein, sich mit Theologie befassen? In allen Lehrkursen — für Medizin, Naturgeschichte, Mathematik, sogar für Jurisprudenz — werdet Ihr freiwillige Zuhörer finden; nur nicht in denen der Theologie. Die christliche Religion gleicht einer vor der Sonne schmelzenden Schneedecke, hier und da finden sich noch Spuren, aber unter den Streifen von schmutzigem Weiss blickt die vom Reif befreite Erde hervor.

Die Religion, welche so wie ein Kleid von der europäischen Zivilisation losgelöst wird, war zur Erklärung des Elendes, der Ungerechtigkeit und der sozialen Ungleichheit äusserst bequem. Sie hatte eine Definition für Alles — Wunder. Ein höherer Wille hätte Alles vorausbestimmt. Ungerechtigkeit wäre ein scheinbares Uebel, aber sie bereite gute Dinge vor: „Der himmlische Vater ernähret die Vögel unter dem Himmel, die weder säen noch ernten; er giebt den Leidenden und Betrübten dereinst die ewige Glückseligkeit; ihre Leiden hienieden sind blos die Vorläufer der Freuden dort oben?“ Diese Dinge wurden den Unterdrückten unaufhörlich vorgepredigt, so lange sie daran glaubten; jetzt aber haben solche Argumente alle Glaubwürdigkeit verloren und man begegnet ihnen mir noch in der unbedeutenden Literatur der Traktätchen.

Was nun thun, um die absterbende Religion zu ersetzen? Kann der Arbeiter, da er nicht länger an Wunder glaubt, vielleicht bewogen werden, an Lügen zu glauben? So fragt man sich, und darum haben politische Oekonomen, Akademiker, Kaufleute und Rentiers die kühne Behauptung aufgestellt und in die Wissenschaft einzuschmuggeln gesucht, dass Eigenthum und Prosperität immer die Früchte der Arbeit sind. Es lohnt sich kaum der Mühe, diese Behauptung zu diskutiren. Wenn die Oekonomen vorgeben, dass Arbeit die Quelle des Reichthums ist, so wissen sie ganz genau, dass sie nicht die Wahrheit sagen. Sie wissen so gut wie die Sozialisten, dass Reichthum nicht das Product der persönlichen, sondern der Arbeit Anderer ist; es ist ihnen nicht unbekannt, dass die Glücksfälle an der Börse und die Spekulationen, welche grosse Vermögen anhäufen, nicht mehr mit der Arbeit zu thun haben, als die Beute des Strassenräubers; sie dürfen nicht zu behaupten wagen, dass das Individuum, welches £5000 täglich zu verzehren hat, also gerade so viel als nöthig ist, um hunderttausend Personen, wie es selbst, zu unterhalten, sich durch eine Intelligenz von andern Menschen unterscheidet, die hunderttausendmal über der durchschnittlichen steht. Es wäre skandalös, über diesen Scheinursprung der sozialen Ungleichheit nur zu diskutiren. Man würde sich als Dupirter, ja, fast als Mitbetrüger kennzeichnen, wollte man über solch eine heuchlerische Schlussfolgerung seine Zeit verlieren.

Aber es wird noch ein anderes Argument vorgebracht, welches wenigstens den Vorzug hat, nicht auf eine Lüge gegründet zu sein. Man beruft sich jetzt den sozialen Forderungen gegenüber auf das Recht des Stärkeren. Man glaubt, dass die Darwinsche Theorie, welche noch nicht sehr lange her ihr Erscheinen in die wissenschaftliche Welt machte, gegen uns zeugt. Und das Recht des Stärkeren triumphirt in der That, wenn der Reichthum monopolisirt wird. Der, welcher materiell am fähigsten, am listigsten, am meisten bevorzugt durch die Geburt, Bildung und Freunde; der, welcher am besten bewaffnet, dem schwächsten Feind gegenübersteht, hat die beste Aussicht auf Erfolg; er ist besser fähig als die Uebrigen, eine Zitadelle zu errichten, von deren Gipfel er auf seine unglücklichen Brüder herunterblicken kann. So ist der rohe Kampf der streitenden Selbstinteressen bestimmt. Früher wurde diese Blut- und Eisentheorie nicht öffentlich und ohne Rückhalt anerkannt; sie würde zu heftig erschienen sein und süsse Worte waren vorzuziehen. Aber die Ergründungen der Wissenschaft in Bezug auf den Kampf ums Dasein und das Ueberleben der Stärkeren, haben den Anhängern der Gewalt erlaubt, dem Volk die Sache auf eine Art und Weise vorzustellen, wobei Alles, was roh und unverschämt schien, wegfällt. „Seht,“ sagen sie, „es ist ein unumgehbares Gesetz, welches so das Schicksal der Menschheit bestimmt.“

Wir können froh sein, dass die Frage auf diese Art vereinfacht wurde; denn sie ist dadurch ihrer Lösung viel näher gerückt. Die Gewalt regiert! sagen die Vertreter der sozialen Ungleichheit. Ja, es ist die Gewalt, welche regiert! erklärt die moderne Industrie immer lauter in ihrer brutalen Vollkommenheit. Kann aber die Sprache der Oekonomen und Industrieritter nicht von den Revolutionären angenommen werden? Das Gesetz der Stärkeren wird nicht immer und notwendigerweise zum Nutzen des Handels und Verkehrs operiren. „Macht geht vor Recht,“ sagte Bismarck, vielen Andern nachbetend; aber es ist möglich, sich auf den Tag vorzubereiten, wenn die Macht im Dienste des Rechtes stehen wird. Wenn es wahr ist, dass die Ideen der Solidarität sich ausbreiten; wenn es wahr ist dass die Errungenschaften der Wissenschaft in die untersten Schichten dringen; wenn es wahr ist, dass die Wahrheit Gemeinbesitz wird, wenn die Evolution auf dem Wege der Gerechtigkeit wirklich Platz greift, werden dann die Arbeiter, welche im Besitz des Rechtes und zugleich der Macht sind, nicht beide anwenden, um eine Revolution zum Nutzen Aller herbeizuführen? Was können einzelnstehende Individuen, mögen sie noch so reich, intelligent und verschlagen sein, gegenüber den vereinigten Massen ausrichten.

Man weiss von keiner Revolution der Neuzeit, worin die privilegirten Klassen ihre eigenen Schlachten geschlagen. Immer verlassen sie sich auf Armeen von Armen, welchen sie die sogenannte „Treue zur Fahne“ gelehrt und welche sie gedrillt zu, was man „Aufrechthalten der Ordnung“ nennt. In Europa werden 5 Millionen Männer, die hohe und niedere Polizei nicht eingerechnet, zu dieser Arbeit angehalten. In diese Armeen mag sich aber Ungehorsam einschleichen, sie mögen sich die Nähe ihrer früheren und künftigen Verbindungen mit der Volksmasse übergrossen Theil dem Proletariat entstammend, mögen sie der Bourgeoisgesellschaft das werden, was die Barbaren des römischen Kaiserreiches in dessen Solde wurden — ein auflösendes Element. Die Geschichte ist voll von Beispielen des Wahnsinns, welcher sich der Machthaber bemächtigt. Wenn die Armen und Enterbten der Erde sich in ihrem eigenen Interesse vereinigen werden, Handwerk mit Handwerk, Nation mit Nation, Kasse mit Rasse; wenn sie ihre Leiden vollständig erkennen und das Ziel, welches sie zu verfolgen haben, dann ist nicht daran zu zweifeln, dass sich ihnen eine Gelegenheit bieten wird, um ihre Macht im Dienste ihres Rechtes anzuwenden; und so mächtig auch der Herr jener Tage sein mag, er wird schwach sein den hungernden Massen gegenüber, welche sich gegen ihn verbündet haben. Der grossen Evolution, welche jetzt Platz greift, wird sich anschliessen die langerwartete, die grosse Revolution.

Sie wird die einzige Rettung sein, es giebt keine andere. Denn, wenn das Kapital die Macht auf seiner Seite behält, werden wir alle die Sklaven seiner Maschinen sein, blosse Verbindungsglieder des Räderwerks. Wenn unaufhörlich neuer Raub, uns erpresst von Theilnehmern nur ihren Kassenbüchern verantwortlich, den Anhäufungen, welche jetzt schon in den Kisten der Bankiers sich befinden, zufliesst, dann ist es vergebens, um Mitleid zu flehen. Niemand wird Eure Klagen hören. Der Tiger mag sein Opfer loslassen, aber die Bücher des Bankiers sprechen ihr Urtheil aus, ohne Berufung zuzulassen. Aus dem schrecklichen Mechanismus, dessen unbarmherzige Arbeit auf seinen stillen Blättern in Zahlen verzeichnet ist, kommen Menschen und Nationen zu Pulver gemahlen hervor. Wenn das Kapital Sieger bleibt, dann können wir um unser goldenes Zeitalter weinen: in jener Stunde, wo wir unterliegen, mögen wir zurückschauen und sehen, wie Liebe, Freude und Hoffnung — alles, was die Welt an Schönem und Gutem inne hatte, wie ein absterbendes Licht vergeht. Die Menschheit wird aufgehört haben zu leben.

Was uns anbelangt, die wir „die modernen Barbaren“ genannt werden, so ist unsere Forderung: Gerechtigkeit für Alle. Bösewichte, die wir sind, wir verlangen für Alle, die das Licht der Welt erblicken, Brod, Freiheit und Fortschritt.