Titel: Die Erziehung
AutorInnen: Elisée, Reclus
Datum: 1905
Quelle: Gescannt aus: Francisco Ferrer, Die Moderne Schule. Nachgelassene Erklärungen und Betrachtungen über die rationalistische Lehrmethode. Verlag "Der Syndikalist", Berlin, 19xx. Aus dem Anhang, S. 106-109
Bemerkungen: Unter dem Text steht: „(Aus: „Der Mensch und die Erde", Band VI, Kap. XI.)“, verweist auf die im Deutschen leider inexistente (?) Buchreihe „L'homme et la terre“ von Elisée Reclus, Tome sixième

Die Schule, die wahrhaft emanzipiert und frei von der alten Knechtschaft ist, kann nicht anders, als sich auf das ungebundenste in den Bahnen der Natur entwickeln.

Die Kunst der Erziehung ist wie alle übrigen Künste vormenschlichen Ursprunges. In allen Errungenschaften des Geistes sind Tiere dem Menschen vorangegangen und immer schlug der Mensch falsche Wege ein, wenn er sich von dem gegebenen Beispiel entfernte. Die Erziehung, so wie unsere „Brüder der tieferen Ebene“ sie verstehen, hat ihren natürlichen Charakter behalten; hier ist sie noch wirksam, während sie unter den Menschen sehr oft zu bloßer Routine herabgesunken ist, und oft sogar in gegensätzlichem Sinne zu ihrem Ziele sich auswirkt: es ist nicht selten, daß sie sich in wirkliche Brutalität verwandelt. Ein Vögelchen lehrt seinen Jungen auf das graziöseste, wie sie ihre Gegner zu vermeiden und sich Schutz zu suchen haben; dann, weiter fort, schreitend, zeigt es das, was wir „Luftübungen" nennen könnten; es lehrt ihnen, sich im Raume zu halten und immer ausgedehntere Flüge zu unternehmen; und wenn es seiner Nachkommenschaft nichts mehr beibringen kann und die Gleichwertigkeit in Kraft, Ausdauer und Intelligenz vollkommen ist, dann zieht es sich zurück und gibt seine erzieherische Tätigkeit auf. Die Tiere, die in der Nähe des Menschen leben, wie der Fuchs, der Hund und die Katze, unterrichten ihre Nachzucht, indem sie ihr Sprünge und Spiele der Kraft und Geschicklichkeit beibringen, wenn diese über einen Kraftüberschuß verfügt.

Aber diese überschüssige Energie wird immer in der ensthaftesten. Weise angewendet, wenn auch ihre Ausübung alle Anzeichen der Freude trägt; denn die Spiele haben – obschon unbewußt in den Jungen, so doch bewußt in den Alten – das Ziel, die Nachzucht an alle Arbeiten und Aufgaben des Lebens zu gewöhnen, das schnell genug mit seinem ganzen Ernst und seinen tragischen Gefahren vor ihnen aufsteigt. Nach der Klassifizierung von Groos bestehen die Spiele in der Prüfung der Dinge, in der Beobachtung der Bewegungen, die die verschiedenen Tierarten unterscheiden, in der Jagd nach der lebendigen, toten oder eingebildeten Beute, in Kampfübungen, dem Bau von Höhlen, der Prüfung der Haltung und der Tätigkeiten der Alten, die beim Menschen hauptsächlich ihren Ausdruck findet in der Beachtung, die der Puppe als Symbol des zukünftigen Kindes geschenkt wird: alles dieses sind Lektionen, die für die Kleinen eine Lebensbelehrung darstellen.

In dieser Weise verläuft die Erziehung der primitiven Menschen. Die Kinder bleiben in der Nähe der Eltern, von denen sie Sprache, Gebärden, Taten nachahmen; so werden sie Männer nach dem Vorbild des Vaters, Frauen nach dem Vorbild der Mutter; aber immer ganz natürlich und im Kreise von Arbeiten, die sie auszuüben haben, wenn die Eltern einst nicht mehr existieren. Jeder Fortschritt hängt von ihrem eigenen Geist ab, von ihrem Talente, sich an das Gegebene anzupassen und es sich zugunsten ihres Wohlergehens zunutze zu machen. Die Schule ist hier, was sie den freien Hellenen war, eine Stunde der Erholung und Erbauung und des Ausruhens von den täglichen Aufgaben für die Eltern, und in ihrer weiteren Ausdehnung eine Periode angenehmer Unterhaltungen, der Freundschaft, die sich hieraus ergibt, und der Spaziergänge, auf denen man die Ideen darlegt. Aber in jener Epoche der Zivilisation wurde die primitive Einheit schon durchbrochen und die Familien waren gezwungen, ihre Kinder der Direktion spezieller Lehrer anzuvertrauen. So entstand die heutige Schule. Der Kontrast, der zwischen der Weise besteht, in der die Schüler in den verschiedenen Ländern behandelt werden, kennzeichnet, welche Nationen sich im Aufstieg und welche sich auf dem Wege des Verfalls befinden. Skulpturen und Gesänge stellen die griechischen Kinder dar: spielend, tanzend, sich mit Blumen bekränzend und ernsthaft aufblickend zu Frauen und Alten, während die ägyptischen Dokumente mit Beständigkeit den Stock zeigen, den der Lehrer auf die Lenden des Kindes niederfallen läßt. Auch der hebräische Lehrer brauchte den Stock sehr viel und von ihm stammt das durch die „heiligen" Bücher übermittelte, für viele Generationen von Kindern so düstere Sprichwort: „Wer seine Kinder lieb hat, der züchtigt sie."

Während der geschichtlichen Periode, in der wir leben, die sich durch die Breite des Theaters, in dem man alle Lebensprobleme der Menschheit behandelt, auszeichnet, werden alle Erziehungsmethoden zusammen angewendet. Der größte Teil wird ausgefüllt davon, daß der Lehrer die Eltern ersetzt, insbesondere den Vater, der ihm die Macht als Führer, Lehrer und Eigentümer seines Kindes überträgt. Aber der Vater ist nicht der einzige Besitzer seines Kindes. Die Gesellschaft, die je nach dem Stande des Kampfes der Parteien durch die Kirche oder den weltlichen Staat repräsentiert wird, betrachtet sich ebenfalls als Eigentümer des Schülers und befiehlt, entsprechend dem Kurse ihres auf ganz anderen Bahnen sich bewegenden Lebens, was er zu lernen hat. Und endlich, gestützt von spontanen Rechtfertigungen der Kinder selbst, ringt die Idee sich durch, daß Kinder Wesen sind, die den älteren Personen gegenüber gleiche Rechte besitzen, und daß ihre Erziehung weder vom Willen des Vaters, noch von den Erfordernissen der Kirche oder des Staates abzuhängen, sondern den Notwendigkeiten und den Anforderungen ihrer persönlichen Entwicklung zu entsprechen hat. Gerade weil die Kinder schwach und klein sind, sind sie allen heilig, die sie lieben und behüten. De Schulen, die allerdings nicht zahlreich sind, in denen dieses Prinzip der Pädagogie auf das Genaueste befolgt werden, sind Orte eines frohen und fruchtbaren Studiums, dank dieser „außerordentlichen Ehrfurcht", auf die das Kind ein Anrecht hat und die seine Lehrer ihm bezeigen.

Jeder gesellschaftlichen Phase entspricht eine besondere Auffassung der Erziehung, die mit den Interessen der herrschenden Klasse übereinstimmt. Die alten Zivilisationen waren monarchische oder theokratische und ihre Ueberbleibsel erhielten sich in den Schulen. Soweit auch die Menschen in ihrem äußerlichen tätigen Leben sich von allen Unterdrückungen freigemacht haben, so wurden die Kinder wie auch die Frauen auf Grund ihrer Schwäche geopfert, und haben noch eine ganze Zeit länger unter der Routine alter Praktiken zu leiden. Der Typ unserer Handbücher der Erziehung besteht schon Tausende von Jahren und die „moralisierenden" Auffassungen, die sich in ihnen befinden, wurden beinahe noch immer in derselben Terminologie wiederholt. Gehorchen! Das liegt der einzigen Moral zugrunde, die in einem Buche des Fürsten Phalk-Hoteb gepredigt wird, und das, vielleicht auch nur abgeschrieben, zu Ende der fünften Dynastie, d. h. vor mehr als fünfzig Jahrhunderten verfaßt wurde, und sich heute in der Nationalbibliothek in Paris vorfindet. Gehorchen, damit man belehrt wird und ein langes Leben erhält und das Wohlwollen derer erringt, die herrschen: darin besteht das ganze Wissen, das dieser prinzliche Autor in folgender Weise bietet: „So bin ich zu hohem Alter auf Erden gelangt; ich habe hundertzehn Jahre in der Gunst des Königs und in Anerkennung der Ältesten gelebt und habe unter der Gnade des Königs meine Pflicht erfüllt." Das ist dieselbe Moral, die später in den Geboten wiederholt worden ist und von Moses Gott in den Mund gelegt wird: „Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden."

Die hartnäckige Dauer der Vorurteile, die mit ihren vorausgesetzten Pflichten der Strenge auf der einen Seite und des genauesten Gehorsams auf der andern Seite die Bande der Liebe innerhalb der Familie verwirren, stört auch die Klarheit in der Beurteilung hinsichtlich der Leitung von Schulen. Wenn die Freiheit für jeden Menschen besonders eine vollkommene sein soll, so könnte es scheinen, als ob dem Vater das Recht zusteht, seinem Kinde die traditionelle Erziehung der Bestrafung und Unterwerfung zu geben. Das ist aber nicht der Fall, denn kein Vater darf die Freiheit seines Kindes verletzen.

In ihren sozialen Beziehungen mit ihren Mitmenschen dürfen freie Menschen nicht gestatten, daß ein Vater sich als der legitime Eigentümer seines Sohnes oder seiner Tochter betrachtet, wie seit Aristoteles bis zum heiligen Paul und seit den Kirchenvätern bis zu den Vätern der amerikanischen Konstitution der Herr als der natürliche Eigentümer des Sklaven betrachtet wurde. Die Bekenner der neuen Moral haben das freie Individuum bis zu dem Neugeborenen anzuerkennen und sie ver- teidigen es in seinen Rechten allen gegenüber, vor allem aber gegenüber seinem Vater. Es besteht kein Zweifel, daß diese kollektive Solidarität gegenüber dem unterdrückten Kinde eine sehr delikate Angelegenheit ist; dennoch ist es eine soziale Pflicht; es gibt keinen Mittelweg, oder man macht sich zum Gegner des Rechtes und zum Komplizen des Verbrechens. In dieser Materie stehen wir wie in allen anderen moralischen Fragen vor dem Problem des Widerstandes oder der Widerstandslosigkeit gegenüber denn Bösen. Und widersteht man nicht, so übergibt man von vornherein die Bescheidenen und die Armen den Unterdrückern und den Reichen.

Einige Erzieher haben schon begriffen, daß ihre Aufgabe darin besteht, dem Kinde beizustehen, sich gemäß der folgerichtigen Entwicklung seiner Natur zu entfalten und dafür zu sorgen, das zur Reife zu bringen, was unbewußt im Kinde schon vorhanden ist, auf das genaueste, ohne Vorgreifen, die seelische Entwicklung des Kindes zu stützen. Die Blume kann nicht gewaltsam geöffnet werden und Tier sowohl wie Pflanze kann nicht Frucht tragen, ehe man ihnen genug Zeit hindurch hinreichende Nahrungsmittel zugeführt hat. Das Kind muß in seinem Studium von der Leidenschaft und nicht von der Grammatik getragen werden. Weder Literatur, noch Weltgeschichte oder Kunst kann das Kind zunächst interessieren; alles dieses kann es nur in konkreten Formen begreifen: in der glücklichen Wahl von Gegenständen und Worten, in der Verbindung von Beschreibungen, Geschichten und Eindrücken. Nach und nach wird in ihm der Wunsch lebendig, das Gesehene und Gehörte im Ganzen zu verstehen und logisch zu klassifizieren; dann ist es Zeit, ihm Sprachunterricht zu erteilen, ihm die Zusammenhänge der Einzelheiten, von literarischen und künstlerischen Werken vorzuführen; dann aber wird er sich der Wissenschaften in einer anderen Weise bemächtigen, wie nur daran gehen, sie auswendig zu lernen. Wie alle jungen Völker hat die Kindheit den normalen Weg durchzumachen, wie das Gymnasium ihn repräsentiert: Beschäftigung, Beobachtung, erste Versuche. Die Verallgemeinerungen kommen später. Ganz im Gegenteil ist zu befürchten, daß die Einbildungskraft der Kinder verblüht, daß seine geistigen Fähigkeiten vorzeitig verausgabt werden, daß das Kind skeptisch und verdorben wird, was das größte aller Uebel ist.

Die Liebe und der Respekt, die der Lehrer dem Kinde gegenüber empfindet, sollten ihn davor bewahren, in seinem Lehrerberufe die Mittel aller Despoten, wie Drohungen und Furcht es sind, anzuwenden. Der Lehrer hat keine anderen Kräfte zu seiner Verfügung, wie die der natürlichen Überlegenheit des Erziehers durch Einfluß, Ansehen, Kraft und Intelligenz, wie die wissenschaftlicher Fähigkeiten, die seiner moralischen Würde und seiner Einsicht des Lebens. Und es ist schen viel, wenn das Kind die volle Herrschaft über seine Fähigkeiten sich erhält und diese durch den Aufwand an Arbeit nicht vermindert.