Titel: Einige Steine in unruhiges Wasser
Untertitel: Rückblick auf drei Jahre Agitation in und um die belgischen Gefängnisse
Datum: Juli 2009
Bemerkungen: Veröffentlicht in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 2, November 2009. Teil des Dossier "Eingeschlossen von allen Seiten".

Im Schatten der Mauern…

Im Frühling 2006 beginnen sich einige Gefangene im Gefängnis von Ittre, das einige Jahre zuvor errichtet wurde, zu rühren. Eine Gruppe Gefängniswärter, die für das Verprügeln von Gefangenen bekannt ist, kriegt dies zu spüren, als sich mehrere Gefangene dazu entschliessen, zurück zu schlagen. Besonders wichtig dabei ist, dass sie von anderen Gefangenen unterstützt werden. Als ein Gefangener eine Broschüre gegen die Folter in Ittre und anderen belgischen Gefängnissen schreibt, beschließen einige Gefährten dieses vor den verschiedenen Gefängispforten zu verteilen. Da das Gefängnis zur Abrennung von der «Außenwelt» dient, gehen sie von der Idee aus, dass eine erste Form von Solidarität darin besteht, diese Isolation zu durchbrechen und die Mauern zu überwinden. Etwas später folgt eine Besetzung des Innenhofs in Ittre, ein erster Ansatz für eine gewisse Kampfdynamik zwischen drinnen und draußen, die sich in den folgenden Jahren entwickeln soll… In den Dörfern rund um das Gefängnis tauchen Sprayereien auf, mit den Namen der berüchtigten Wärter, der Verwaltung, etc.

Im April 2006 bricht im Gefängnis von Mons ein «erster» Aufstand aus und nur einige Wochen später geht in jenem von Nivelles ein ganzer Flügel in Flammen auf. Vor den Gefängnissen werden weiterhin unablässig Broschüren verteilt, die meistens von spezifischen Missbräuchen berichten. Darüber hinaus wird ein Aufruf zu einer nationalen Demonstration in Solidarität mit den kämpfenden Gefangenen gewagt. Über mehrere Wochen hinweg werden tausende Broschüren vor ca. 15 verschiedenen Gefängnissen verteilt, mit dem Ziel, Familien und Freunde der Gefangenen zu mobilisieren. Schliesslich nehmen ca. 150 Personen an der Kundgebung teil, vorwiegend Anarchisten und Hausbesetzer. Die Familien und Freunde, die im ersten Moment oft enthusiastisch auf die Initiative reagiert hatten, blieben aus. Eine kritische Evaluierung drängte sich auf…

Es musste mit einigen Illusionen über Familien und Freunde der Gefangenen Schluss gemacht werden, um eine anti-autoritäre Perspektive gegen das Gefängnis weiterentwickeln zu können. Wenn ein Gefangener revoltiert, heißt das nicht zwingend, dass die Familien sie oder ihn dabei unterstützen, indem sie auch revoltieren. Und es ist auch nicht so, dass Menschen, die mit den dunklen Seiten der Demokratie (ihren Kerkern) konfrontiert werden, diese auch effektiv in Frage stellen. Ausserdem stösst man im Kontakt mit Angehöhrigen der Gefangenen oft ziemlich schnell auf Bruchpunkte. Zum Beispiel würden viele alles dafür tun, ihre Geschichte irgendeinem Schreiberling erzählen zu können, während wir uns eher dazu entscheiden, die Journalisten vor ihre Verantwortlichkeit als Lakaien der Herrschaft zu stellen. Und während die meisten Eltern hartnäckig auf der Unschuld ihres Kindes bestehen, um davon zu überzeugen, dass sie oder er unsere Unterstützung verdient, legen wir den Schwerpunkt eher auf die sozialen Verhältnisse, die der Delinquenz zu Grunde liegen und gründen das Aufbauen von Verbindungen zu bestimmten Gefangenen bestimmt nicht auf «Schuld» oder «Unschuld». So wird klar, dass ein gegen das Gefängnis geführter Kampf, der dem Schema von Familie und Angehörigen (der Gefangenen) folgt, sich als Sackgasse erweist. Es sei denn, man hat, wie so viele klassische Abolitionisten, lediglich die Ambition eine ‘kritischen Stimme’ über die Missbräuche in den Gefängnissen darzustelellen.

Auch mit der ewigen Frage der Forderungen musste Schluss gemacht werden. Auf dem Flugblatt, das zur nationalen Kundgebung aufrief, wurden einige Forderungen der Gefangenen übernommen. Die Argumentation war damals, dass die Forderungen durch ihren Inhalt mehr Raum innerhalb der Mauern schaffen und auf eine Schwächung dieser Einrichtung abzielen könnten. Es versteht sich von selbst, dass die Forderung die Isolationshaft abzuschaffen, dem, wonach wir streben, näher steht, als die Forderung nach einem Fernseher in jeder Zelle. Dennoch können selbst die wichtigsten Veränderungen, in Form von unmittelbaren Resultaten, nur über eine Perfektionierung des Gefängnisses erreicht werden. So bedeutet die Abschaffung der Isolationshaft in der Praxis wahrscheinlich, dass das ganze Gefängnis in einen einzigen riesigen Isolationskomplex umgewandelt wird. Es geht jedoch weniger darum, den Inhalt der Forderungen, die aus dem Gefängnis vorangetragen werden, zu diskutieren. Die Diskussion soll sich vor allem darum drehen, was wir mit den Forderungen und den damit einhergehenden Spannungen tun. Wir könnten uns dazu entscheiden, sie trotz allem zu unterstützen (begleitet von den nötigen Anmerkungen), in der Hoffnung, Raum zu öffnen, um eine allgemeinere Perspektive hervorzuheben, oder aber, wie es in Belgien nach der Reflektion über die Kundgebung passierte, dazu, für nichts geringeres als die Zerstörung der Gefängnisse zu kämpfen und aus diesem Kampf heraus eventuelle Forderungen nicht zu unterstützen. Konkret heisst dies, das sich mögliche Kontakte zu Gefangenen zweifellos verkomplizieren, da die gegenseitige Bindung nicht mehr auf der partiellen Ablehnung der Haft basiert, sondern auf einer vollständigen Kritik der ganzen Maschinerie. Während dieser drei Jahre Agitation in den belgischen Gefängnissen hat es, neben einigen speziellen Situationen, nie Forderungsplattformen[1] gegeben – weder von innen noch von außen. Die Entscheidung für einen Kampf ohne Forderung und die eigentliche Situation haben also ermöglicht – wie ein kritischer Text über die Gefahren einer eventuell assistenzialistischen Tendenz und die Zwiespältigkeit, die damals in den Beziehungen mit den Gefangenen herrschte, damals bereits betonte – «Brücken zu anderen Fronten zu schlagen […] vom partiellen zum allgemeinen zu springen… Es gibt so viele Wege die heutigen Schwächen zu verlassen, welche die Begeisterung gerade voran zu gehen oft ersticken lassen. Denn, um für geringeres zu kämpfen, bietet uns der Staat schon genug Parteien, Gewerkschaften, NGO`s, soziale Einrichtungen, engagierte Intellektuelle, solidarische Künstler, Streber, Soziologen, Psychologen, Statistiker, Pädagogen… »[2]

Man braucht sich gewiss nicht in den Schatten der Mauern stellen, um einen Kampf gegen das Gefängnis anzugehen. Selbstverständlich ist eine reale Kommunikation in jedem Kampf wichtig, umso mehr, wenn sie neben den täglichen demokratischen Mystifikationen noch durch Zensur, Mauern und Stacheldraht behindert wird. Doch es gibt tausend-und-eine Art zu kommunizieren. Den Kontakt mit Gefangenen aufrecht zu erhalten, erschöpfende Beziehungen mit den Familien aufzubauen, Woche für Woche an die Gefängnistore zurückzukehren, mag von Bedeutung sein, kann aber dennoch nicht die Grundlage eines Kampfes ausmachen. Über die Mauern hinaus zu kommunizieren kann auch durch eine gemeinschaftliche Revolte passieren, wobei durch Sprayereien und Plakate in den Strassen eine eigene Perspektive betont wird, die andere einlädt, diese aber nicht als Referenzpunkt nimmt. So wird der Kampf, den wir führen wollen, zum einzigen Referenzpunkt, unabhängig von soziologischen Analysen über potentielle «Subjekte», denen man sich anschliessen kann.

Das Gefängnis in die Strasse tragen

Im Sommer 2006 versetzt eine bemerkenswerte Reihe von Ausbrüchen die Gefängnisse in Aufruhr, mit dem kollektiven Ausbruch von 28 Gefangenen in Dendermonde als bisher unübertroffenen Höhepunkt. Sie erbeuteten erst die Schlüssel von zwei Wärtern und nahmen sich dann die Zeit, bevor sie selbst die Beine in die Hände nahmen, alle Zellen des Flügels (130 Gefangene) ohne Unterschied zu öffnen. Was wie eine nette Meldung klingen mag, auf die man anstösst, kann in Zeiten, in denen jeder für sich und vor allem jeder gegen jeden handelt, auch eine Art Vorzeichen sein. Ein Zeichen, das draußen die Überzeugung stärkte, dass drinnen etwas Neues am aufleben ist, dass dort etwas entstand, das bereit war, mit der Resignation und der Unterwerfung zu brechen, dass dort ein Verlangen auflebte, zurück zu schlagen, wenn auch nur für das eine Mal.

Im September 2006 wird der junge Fayçal in einer Zelle in Brüssel durch zwei Injektionen Haldol ermordet, ein starkes Beruhigungsmittel, das regelmäßig in Gefängnissen verwendet wird. Vielleicht ein Mord wie viele andere, diesmal aber begleitet von aussergewöhnlichen Reaktionen. Während sich in zwei Gefängnissen in Brüssel hunderte Gefangene weigern in ihre Zellen zurückzukehren, brechen im Viertel aus dem Fayçal stammt, mitten im Herzen der Stadt, Krawalle aus. Drei Tage lang finden Konfrontationen mit den Ordnungskräften statt, werden Scheiben eingeschlagen und einige Amtsgebäude in Brand gesteckt. Wie so oft ist es die Familie (in diesem Fall jene von Fayçal), die, begleitet von einer Heerschar Sozialarbeitern, die sanfte Hand der Repression spielt und zur Ruhe aufruft. Dieser Aufruf wird erst einige Tage später erhört, als hunderte Jugendliche in Gewahrsam genommen werden. Letztendlich wird mit einer einheitlichen, friedlichen Kundgebung der Gnadenstoss gegeben. In einem Pamphlet, das einige Gefährten im Viertel aushändigen, wird die Verbindung zwischen den Ereignissen in den Gefängnissen bzw. Abschiebeknästen und der Militarisierung/Umstrukturierung der ärmeren Viertel gemacht. Das Pamphlet wurde weit verbreitet und führte so zu interessanten Begegnungen, sowohl in den Vierteln als auch an anderen Orten. Die Wutausbrüche nach dem Tod von Fayçal zeigten nicht nur, dass die Gefängnisfrage ebenso auf der Strasse präsent ist und sich nicht in den Schatten der Mauern zurückgedrängen lässt, sondern auch, dass die assistenzialistische Richtung de facto nicht die einzig realistische Option ist.

Im Oktober 2006 brechen in fünf verschiedenen Gefängnissen Aufstände aus, die teils von eindrucksvollen Schäden begleitet werden (wie z.B. die vollständige Zerstörung der berüchtigten Isolationsabteilung in Lantin). Die Macht der Wärtergewerkschaft drückt sich immer mehr durch die häufigen Streiks aus, wobei die Gefangenen in den Verhandlungen mit dem Staat als politisches Wechselgeld benutzt werden. Nachdem in Brüssel einige Wärter, die in Uniform zu ihrer Arbeit gingen, angefallen wurden, gelang es der Gewerkschaft sogar für eine Zeit lang Polizeieskorten zu bekommen. Die Büros der Wärtergewerkschaften werden mehrmals angegriffen, Namen ihrer Repräsentanten erscheinen regelmäßig auf den Mauern der Städte und Dörfer, Gefangene greifen Wärter an…

Stück für Stück scheinen sich Risse in ihrer Macht aufzutun. Die verschiedenen Revolten führten zur Veränderung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Mauern. Darin liegt ein mögliches Übersteigen des klassischen «Dilemmas» zwischen realistisch sein, und zu versuchen Forderungen an den Rahmen des Systems anzupassen und utopisch sein, und mit dem Kopf gegen die Mauer zu rennen: Das Beitragen zu einer Veränderung der internen Machtverhältnisse, auf welchen die Stabilität des Gefängnissystems basiert, kann ein Mittel sein, um kurzfristig in das Gefängnis zu intervenieren. Und während im Hinblick auf die nationale Demonstration die Vorstellung einer recht groben Zweiteilung zwischen einerseits den Häftlingen und andererseits den Wärtern dominierte, konnten wir diese Perspektive um die Beziehungen zwischen den Gefangenen selbst erweitern. Dies bedeutet zur Subversion der hierarchischen Beziehungen und zur Artikulation einer gewissen Ethik (wie z.B. gegenüber Drogen, gegenseitiger Erpressung, mafiöser Beziehungen…) beitragen zu versuchen, die zu verschwimmen droht… Wenn wir wirklich Einfluss auf die sozialen Beziehungen ausüben wollen, die das Fundament der Welt in der wir leben darstellen, werden wir jede soziologische Kategorisierung hinter uns lassen müssen. Genauso wie in einem realen Kampf gegen die Abschiebungsmaschinerie «der Migrant» nicht der Ausgangspunkt sein kann, soll «der Gefangene» nicht der einzige Referenzpunkt eines Kampfes gegen das Gefängnis und dessen Welt sein.

Für einen Kampf gegen das Gefängnis und dessen Welt

Wenn wir das Gefängnis als eine der Ausdrucksformen eines Systems betrachten, das auf permanentem Freiheitsentzug basiert, ist es möglich seine Tentakel, andere Ausdrucksformen, die damit fundamental verbunden sind, an jeder Straßenecke aufzufinden. So erlangt ein Kampf gegen das Gefängnis und dessen Welt, all seine Bedeutung. Nicht bloss für das manchmal rhetorische Vergnügen, die Totalität der Ausbeutung und Unterdrückung beschreiben zu können, sondern um aufzuzeigen, was diese ganze Gesellschaft zu einem großen sozialen Gefängnis macht. Um mit den Augen nicht auf die Mauern fokussiert zu bleiben wenn Aufstände ausbrechen, sondern um unsere Aufmerksamkeit auf all das zu richten, was uns, in unserer Situation, zu Gefangenen dieses Systems macht.

Von 2006 bis Mitte 2008 folgt in den belgischen Gefängnissen in einem ziemlich eindrucksvollem Tempo eine Revolte nach der anderen. Durch die stetigen Verlegungen innerhalb eines relativ begrenzten Gebietes werden die Erfahrungen und Aufstände rasch auf verschiedene Gefängnisse ausgeweitet und überwinden so die Schranken der falschen Trennungen. So tangieren die Aufstände sowohl «ruhige» als auch «unruhige» Gefängnisse, Sektionen für Langzeitstrafen sowie für Untersuchungshaft, « normale » Sektionen sowie psychiatrische Flügel. Doch auch diese « Sektionen » sind nicht wasserdicht, regelmäßig kommt es vor, dass aufgrund der Überbelegung Gefangene aus verschiedenen « Kategorien » zusammengelegt werden. Zweifellos hatte diese «Vermischung» ihre Wichtigkeit, und zwar darin, dass sich verschiedene Realitäten gegenseitig beeinflussen konnten (auf karikative Weise könnten wir behaupten, dass die «Alten» manchmal den «jungen Hitzköpfen» Rat gaben, dass « Neue », jene, die sich « gewöhnt » haben, etwas zur Revolte verleitet haben, dass manche, die nichts mehr zu verlieren haben, mit anderen die «nur» ein paar Jahre absitzen müssen, ein gemeinsames Terrain fanden…). Nach einiger Zeit und ihre Strafe einmal abgesessen, wurden gewisse Häftlinge, die an den Aufständen beteiligt waren, in geschlossene Zentren[3] verlegt, um dort auf ihre Abschiebung zu warten. Im Vergleich zu den Gefängnissen eignen sich die Haftbedingungen dort de facto besser für Revolten, die auf Zerstörung abzielen (und sei es nur, weil es dort mehr kollektive Schlafsäle als einzelne Zellen gibt, wo sich die gemeinsam verbrachte Zeit im Gefängnis auf Spaziergänge und andere Aktivitäten beschränkt). Die Ankunft dieser Gefangenen war für die Aufstände in den geschlossenen Zentren während der letzten Jahre sicherlich fördernd. Aus diesen Erfahrungen folgt die Überzeugung, dass die Bedeutung der Trennung zwischen verschiedenen Kategorien von Gefangenen, zwischen verschiedenen Arten von Gefängnissen, einzig der Macht dient, die sich diese ausgedacht hat um besser zu herrschen. Das Übernehmen dieser Kategorisierungen in unsere eigenen Überlegung würde darauf hinaus laufen, das Ausmass des Kampfes sowie die Möglichkeiten die verschiedenen Aspekte der Herrschaftskritik in der Praxis zu verbinden, von Beginn an einzuschränken und würde letztlich selbst zu einer Reproduktion von falschen Trennungen beitragen.

Draußen, anstatt sich auf das Verteilen von Flugblättern vor den Gefängnistoren zu konzentrieren, zogen die Gefährten sofort in die Viertel, dorthin, wo sich die Gefängnisfrage letztendlich ebenso jeden Tag stellt. In den Flugblättern ging es nie nur um Solidarität mit den Aufständen, sie strebten danach die Gefängnisfrage mit allem zu verbinden, was in den Vierteln mit der täglichen Realität zu tun hat, mit der Ausbeutung, den Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, etc.

Auch die Idee der Solidarität wurde ausgefeilt. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Solidarität mit Taten und Solidarität mit deren vermutlichen Autoren. Der wohlbekannte Slogan «Solidarität mit allen kämpfenden Gefangenen » macht zweifelsohne Abstraktionen von dem, was « alle Gefangenen» sein sollen und vor allem davon, worauf unsere Solidarität eigentlich basieren sollte. Wenn wir uns auf ein rhetorisches Spielchen einlassen, könnten wir den Slogan umkehren in «Solidarität mit dem Kampf der Gefangenen». Der Akzent wird dann auf die Revolte gelegt, in der wir uns selbst bestimmt einfacher wiedererkennen können, als in dem einen oder anderen Gefangenen. Abgesehen von der Tatsache, dass es wenig Perspektive bietet, jedem Aufstand mit der Verherrlichung der Gefangenen im Mund oder in der Füllfeder entgegenzueilen, ist es oft eine Verkennung der Realität. Das Gefängnis ist im Grunde nichts als die Wiederspiegelung der elendigen Gesellschaft außerhalb. Sicherlich, es ist durchaus möglich einige Komplizen unter den Gefangenen zu finden – einige hassen nicht nur das Gefängnis, sondern stellen auch andere Aspekte der Herrschaft in Frage –, aber alle Gefangenen als soziale Rebellen durchgehen zu lassen ist schlicht ein angenehmer Zeitvertreib für diejenigen, die sich mit dem Erzeugen von vorgefertigten Ideologien zufrieden geben.

Im Verlaufe der letzten zwei Jahre wurde deutlich, dass ein wichtiger Angelpunkt die Verbreitung der Revolte außerhalb der Mauern war. Der «Kern» des Kampfes liegt dann nicht mehr in den Bunkern – die trotz allem ziemlich undurchdringlich sind – sondern auf den Pfaden des Kampfes eines jeden, wo sich diese auch immer befinden. Über die Jahre hinweg vermehrten sich die kleinen Angriffe, die sich zunächst gegen die Strukturen von Justiz und Polizei richteten (innerhalb des eher typischen anti-repressiven Rahmens) und sich dann auf alles was das Gefängnis als solches überhaupt ermöglicht ausweiteten (von Wärtern bis zu Unternehmen und Institutionen, die sich am Bau und der Verwaltung von Gefängnissen beteiligen).

In einigen spezifischen Momenten wurde die Dynamik zwischen drinnen und draußen spürbar. Nicht so sehr durch Worte und direkte Kontakte, sondern in der Aktion und Revolte. Dies spührte man zum Beispiel im Januar 2008, als, am auf die Innenhofbesetzung im Gefängnis der Stadt Hasselt folgenden Tag, das Stadtzentrum mit Parolen gegen das Gefängnis zugedeckt wurde, woraufhin die Gefangenen am nächsten Tag den Innenhof erneut besetzten. Gewiss, es zeigt sich eine Grenze, wenn das Wissen sowohl über die Besetzung als auch über die Graffitis von der Veröffentlichung in den Medien abhängt. Eben deshalb sollten mögliche Kommunikationsprobleme berücksichtigt und Lösungen für diese gefunden werden, umso dringender, wenn es um Kämpfe geht, die sich gegen die von Stacheldraht umgebenen Orte der Abschottung richten. Dabei spielen die Beziehungen, die sich in den letzten drei Jahren zwischen Anarchisten draußen und einigen Gefangenen drinnen entwickelt und vertieft haben, eine unbestreitbare Rolle. Des Weiteren ermöglichten diese Kontakte, die Broschüren und die periodische Publikation «Uitbraak», die innerhalb der Mauern verteilt wurden, nicht nur Neuigkeiten, sondern auch und vor allem anti-autoritäre Ideen in Umlauf zu bringen und Diskussionen zu fördern, die weit über die Gefängnisfrage hinaus gehen.

Schliesslich, ob Zufall oder nicht, haben diese Zusammenhänge darauf hingewiesen, dass es durchaus möglich ist, auch um das Gefängnis herum, zu einer Dynamik zu gelangen, die formale Organisationsstrukturen, Plattformen, Unterschriftenlisten, etc. beiseite lässt und auf gegenseitiger Anerkennung und Revolte aufbaut. All zu viele Gefährten, die in einen bestimmten Kampf gegen das Gefängnis involviert sind, erkennen Bewegungen und Revolten erst nachdem unterzeichnete Communiqués veröffentlicht werden, wenn Forderungsplattformen im Umlauf sind, während der Kampf selbstverständlich seinen eigenen Weg auch ohne diese Formalitäten gehen kann. Mehr als einer unter diesen wird wahrscheinlich überrascht sein, dass in den drei Jahren Revolte in den belgischen Gefängnissen niemals die Rede von Forderungsplattformen, von einem Gefangenenkollektiv oder von formeller Koordination war. Was uns betrifft, so haben wir weder behauptet, dass diese Strukturen für den Kampf unentbehrlich sind, noch haben wir sie als absolute Vorraussetzung betrachtet. Die Verfechter von «formellen Organisationen» außerhalb, haben offensichtlich Mühe, eine Revolte zu verstehen, die sich vor allem durch Handlungen und Verbindungen zwischen Individuen ausdrückt, anstatt durch offizielle Communiqués.

Letztlich muss auch die Tatsache berücksichtigt werden, das solche Aufstände und Revolten, auch wenn sie oft spontan sind, nie einfach vom Himmel fallen. Ihnen geht oft eine ganze Reihe von individuellen Verweigerungen, kleinen Rebellionen und Diskussionen voraus. In diesem Sinn ist der Kampf permanent, auch wenn dessen Intensität variiert. Solidarität darf sich nicht auf eher «spektakuläre» Momente (wie Aufstände) beschränken, sondern muss ihre Aufmerksamkeit auf die ganze Bandbreite der Rebellion richten. Dies kann ausserdem vermeiden, uns erneut in einer Sackgasse wiederzufinden, wie dies gewissermassen in Belgien passierte: Indem einmal mehr die Fähigkeit zur Initiative verloren wird und man schon fast Spielball einer Dynamik wird, die einen völlig übersteigt.

Die Antworten des Staates

Die Revolten spielen sich in einem spezifischen Kontext ab, auch wenn sie nicht vollständig von diesem festgelegt werden. Jahrelang hat der Staat seine Kerker vernachlässigt und ließ diese verwahrlosen und veralten. Verglichen mit anderen Ländern, in denen die Umstrukturierung der Gefängnisse weiter fortgeschritten ist (wie in Deutschland oder Frankreich, wo dies während der 80er Jahre vorangetrieben wurde), hinkt Belgien hinterher. Die Aufstände heben einen essentiellen Wendepunkt hervor, wobei der Staat den Bau einer Reihe neuer Gefängnisse forciert, mit speziellen und vielfältigen Regimen (Untersuchungshaft, Psychiatrie, Gefängnisse für Jugendliche, für Sexualstraftäter, für abgewiesene Asylsuchende, für Rebellische und Ausbrecher, für Kurz- und Langzeitstrafen…). Was vor allem auf das Eingrenzen des «gegenseitigen Ansteckens» abzielt, das ein fruchtbares Terrain präparierte, damit die Revolte ihre Flügel ausbreiten konnte. Es stehen nun sechs neue Gefängnisse auf dem Programm und erst vor kurzem wurden zwei spezielle Isolationsabteilungen für die am meisten «rebellierenden» in Betrieb genommen.

Seit Herbst 2008, scheint die Welle der aufeinanderfolgenden Aufstände rückläufig zu sein. Vielleicht unterschätzte der Staat zuerst die Wirkung dieser Revolten und wurde durch ihre grossflächige Ausbreitung überrascht. Gegen Ende 2008 wurde jedoch eine wachsende Repression spürbar. (Isolierung, härtere Strafen für Gefangene, die sich an Revolten beteiligten, Strafmassregelungen, Verweigerung der vorzeitigen Haftentlassung…). Trotzdem, obwohl die Wutausbrüche sporadischer wurden und nicht mehr im selben Tempo aufeinander folgen (wie dies im Herbst 2006 der Fall war), können wir nicht von einer Befriedung sprechen. Im April 2009 zum Beispiel, brach ein Aufstand in einer der neuen Isolationsabteilungen des Gefängnisses von Brügge aus. Fünf Häftlinge ließen zuerst die Abteilung überfluten und zerstörten danach alles, was nicht niet- und nagelfest war.

Nichts ist vorbei, alles geht weiter?

«Und, werden uns die Realisten fragen, was haben wir eigentlich erreicht? Welchen Erfolg können wir verbuchen? Es ist unmöglich auf Fragen zu antworten, die die Kategorien der Macht als Maßstab nehmen. Drei Jahre der Revolte kann man nicht in einer Summe von praktischen Resultaten zusammenfassen, da es darum auch nie ging. Es geht im Gegenteil um ein bestimmtes Bewusstsein (das sich durch Worte und Taten verschärft), um einige Ideen, die Raum zum Ausdruck gefunden haben, um die Bande der Solidarität und der Komplizenschaft, die geschmiedet werden. Diese Dinge sind nicht quantifizierbar, sie stehen in starkem Kontrast zur Buchhalterlogik eines in und out. »[4]

Diese Erfahrungen der Revolte haben diejenigen, die sich – sowohl draußen als auch drinnen – daran beteiligten verändert, genauso wie sie die Sichtweise auf die Kämpfe, die noch geführt werden müssen grundlegend verändert haben. Jenseits der reaktiven Tätigkeit bleibt ein « positives Resultat » von all dieser Agitation in den nachaltigen Begegnungen und den tiefgehenden Diskussionen und Perspektiven. Es geht nicht darum Kampagnen zu führen, sondern die Erfahrungen auf dem Gebiet des Gefängnisses auszureifen, um eine Projektualität zu entwickeln, die sich auf die Verknüpfung aller Aspekte der Herrschaft konzentriert. Dann bleibt noch eine Möglichkeit zu finden, um weiter zu gehen, ohne die Aktivitäten von einer äusseren Dynamik abhängig zu machen und bei den geöffneten Wunden anzusetzen.

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Am Abend vor dem Aufstand, also schon kurz vor den Durchsuchungen der Besucher, hatte eine Gruppe Gefangener eine Protestaktion vorbereitet, nachdem in jener Woche einige andere Gefangene misshandelt wurden. Sie werden von ausserhalb schon seit einigen Monate von libertären Militanten unterstützt, die in Solidarität mit den Gefangenen Broschüren verteilen, Poster plakatieren und Graffitis auf Mauern sprayen, sowohl um das Gefängnis von Ittre herum als auch in ganz Belgien. Die Direktion lässt einen militanten Gefangenen verlegen, den sie beschuldigen andere Gefangene aufgehetzt zu haben. Schon am Vorabend des Aufstandes haben sich die Gefangenen entschlossen, den Innenhof zu besetzen. Die von der Direktion angeordneten Durchsuchungen der Familien und die Erniedrigungen, die diese begleiteten, haben die Stimmung bloss noch angeheizt. Als einige Gefangene, deren Familien durchsucht und vor allem erniedrigt wurden, zurückkehrten, erhitzten sich die Gemüter. Sie sagten, dass sie sich weigern würden, an der Protestaktion teilzunehmen, wenn es bloss darum ginge, im Innenhof zu bleiben.

Um 19:30 Uhr wurde beim Abendspaziergang durchgegeben, dass das Gefängnis in Angriff genommen werden muss. Während eine Gruppe Gefangener die Wärter anspringt, beginnen die anderen im Innenhof die neuen Vorrichtungen auseinander zu nehmen. Diese Vorrichtungen verunmöglichen es den Gefangenen mit ihren Kollegen im Parterre zu sprechen. Diese wurden während des Aufstandes Ende 2004 schon einmal zerstört, dieses Mal waren die Gitterstangen noch stärker. Trotzdem schafften es die Gefangenen sie los zu reissen und als Rammbock zu verwenden! Die Vorrichtungen ähneln den Gittern die in Zirkussen zur Einsperrung wilder Tiere verwendet werden. Gut, mit den Stangen schaffen sie es die Gitter und Türen aufzubrechen und in die Gebäude einzudringen. Das Büro im Parterre, in dem diese Bande von Prüglern des Ré A und die Wärter sitzen wird angezündet. Das Eintreffen der Ordnungskräfte sorgt dafür, dass die Gefangenen nicht bis in höhere Etagen vordringen.

Man kann wohl sagen, dass es eher selten ist, dass 100 Gefangene einen Aufstand vereinbaren. Über die Umstände im Gefängnis gibt es, im Gegensatz zu dem was der Gefängnisdirektor von Ittre der Presse erklärte, nicht viel gutes zu erzählen. Der Direktor ist ein Wahnsinniger der ausserhalb des Gefängnisses mit einer Waffe und einer kugelsicheren Weste herumläuft. Sein Auto ist schon zwei Mal in Flammen aufgegangen…

Ein kämpfender Gefangener,

Brief über den Aufstand in Ittre,

November 2006


Hin und wieder wurde schon argumentiert, dass auch Wärter nur einfache Lohnarbeiter sind und als solche in ihrem Konflikt mit ihrem Arbeitgeber, nämlich dem Staat, unterstützt werden sollten. Zur Unterstützung dieses Arguments, wird oft angeführt, dass viele Wärter auch nur schlicht Arme sind, die sich für eine Existenzgrundlage durch einen unqualifizierten festen Job beim Staat entschieden haben. Diejenigen, die solche Ansichten verfechten, werden sicher begeistert sein von der Kundgebung der Wärter in Brüssel. Genauso wie die Wärter nehmen auch sie ihre Rolle in der Umstrukturierung des Straf- und Haftapparates ein. Gestützt auf humanitäre Argumente gegen Folter und auf wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass das Gefängnis nicht gegen Rückfälle hilft, bauen sie ihre unvermeidlichen Schlussfolgerung auf, dass das Gefängnis besser abgeschafft werden sollte. So geben sie der Herrschaft die besten Argumente für eine rationalere, effizientere Instandhaltung des Systems.

Für uns gibt es in so einem Tauziehen nichts zu suchen… ausserdem verabscheuen wir praktische Folgerungen, die aus solchen, demokratischen Argumentationen par excellence entstammen (nämlich der Dialog mit streikenden Wärtern, die friedliche, wohlwollende Haltung gegenüber den «guten» Wärtern in ihrer Verurteilung der Foltertaten ihrer «schlechten» Kollegen, die Teilnahme an «sozialen Aktivitäten» innerhalb der Mauern…) Wir haben keine Rolle zu spielen in der Umstrukturierung des Haftapparats - wir stehen ausserhalb, da unsere Verlangen viel weitreichender sind. Wir plädieren weder für den Abbau der Gefängnisse (da die Herrschaft bessere Mittel finden würde), noch für die Abschaffung der Gefängnisse (hundert Kameras sind wahrscheinlich schon billiger als jemanden ein Jahr lang einzusperren). Wir kämpfen hingegen für die Zerstörung des Gefängnisses und die Welt die dieses braucht… und das ist etwas ganz anderes.

Text der herumging nach einer Kundgebung von hunderten Wärtern im Zentrum von Brüssel,

Ende Februar 2008


Im Mittelalter warfen sie Menschen wie mich in ein Verliess. Jetzt passiert dasselbe, nur kommt man nicht mehr durch Hunger und Durst um. Ich fühle mich wie in einem Labor in dem man testen will, wie weit man gehen kann.

Wir kümmern uns nicht um Sanktionen. Wenn Du nichts hast, kannst Du auch nichts verlieren.

Man probiert die anderen hier mittels Medikamenten zu disziplinieren. Ich habe niemals Drogen, Alkohol oder Medikamente genommen und darauf bin ich sehr stolz. Im Gefängnis werden die meisten zu Junkies.

Das es mich regelmäßig im Gefängnis aushängt ist nur normal. Ich bin ein Mensch, kein Roboter, deswegen rebelliere ich.

Was man vergisst, ist, dass das Ausdauervermögen eines Menschen nicht unerschöpflich ist. Man kann schon mal in eine schmerzhafte Situation kommen. Ein Ball den Du versuchst unter Wasser zu halten kommt mit voller Kraft wieder rauf.

Ashraf Sekkaki,

aus der neuen Isolationsabteilung in Brügge

November 2008

 

 

[1] Dieses Wort ist auf Deutsch weniger geläufig. Es steht für das Zusammenstellen einer Liste von Forderungen, die die Basis für verschiedene Gruppen darstellt, die dann ausgehend von dieser «Plattform» ihre Kämpfe führen.

[2] De gevangenis en wij, haar onvoorwaardelijke vijandenes. Aufruf zu einer realen Konfrontation in Zeiten des Irrtums, durch De vreemde vogels van het park, Juli 2006.

[3] Geschlossene Haftanstalten in Belgien zur administrativen Einschliessung von illegalen Migranten bis zu ihrer Abschiebung oder der Bewilligung ihres Asylantrages.

[4] Ausgabe von Uitbraak/La Cavale, Korrespondez des Kampfes gegen das Gefängnis, Nr. 15, März 2009, Belgien.