Titel: Die Irrlehren und Irrwege der Sozialdemokratie in Deutschland
Untertitel: Eine zeitliche Warnung an die arbeitende Klasse.
Datum: 1891
Quelle: Erschienen als Broschüre: Die Irrlehren und Irrwege der Sozialdemokratie in Deutschland. Eine zeitliche Warnung an die arbeitende Klasse.
Bemerkungen: Anarchistisch-communistische Bibliothek, Heft Nr. 8: [Merlino, Saverio:] Die Irrlehren und Irrwege der Sozialdemokratie in Deutschland. Eine zeitliche Warnung an die arbeitende Klasse. [1891]. 39 S. Herausgegeben von der Gruppe „Autonomie“ L0NDON.

I. Geschichtliche Rückblicke.

Der Sozialismus in Deutschland datirt nicht von heute, auch nicht von den Jahren 1878 oder 1863, ja nicht einmal von der Veröffentlichung des kommunistischen Manifestes im Jahre 1847. Er hatte vielmehr seinen Ursprung, ebenso wie in allen andern europäischen Ländern, in den Ereignissen, welche sich unmittelbar an die französische Revolution anschlossen. Und wie in diesen andern Ländern – Frankreich, Belgien, England – war derselbe, das heisst vor dem Jahre 1848, vollständig: er sprach nicht im Namen einer Klasse im Besonderen, selbst nicht einer arbeitenden Klasse, sondern der gesammten Menschheit, er erklärte sich nicht für allmälige Veränderungen, sondern für eine radikale und nothwendiger Weise gewaltsame Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftszustände; kurz, er hatte es nicht auf die Abschaffung dieser oder jener gesellschaftlichen Einrichtung – wie: Eigenthum, Regierung, Kapital, Finanzwesen, Familie oder welche sie immer sein möge – im Besonderen abgesehen, sondern griff sie alle auf einmal an, da er sehr wohl die bestehende enge Verbindung derselben miteinander wahrnahm; daher die Nothwendigkeit, sie alle auf einmal zu derselben Zeit zu zerstören, wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen. wollte, dieselben wieder neu aus denjenigen hervorgehen zu sehen, welche man hätte fortbestehen lassen. Mit einem Worte, er war weitgehend wie die Evolution und wahr wie das Leben.

Dieser vollständige und positive Charakter des deutschen Sozialismus vor dem Jahre 1848 war seine Stärke und veranlasste den revolutionären Anlauf, welcher sich in diesem geschichtlichen Jahre kundgab. Wenn man heute die Schriften von Marr, Grün, Weitling und vielen Andern wieder liest, ist man erstaunt, darin den kühnsten und weitgehendsten Gedanken zu begegnen, ebenso die tiefgehendste Kritik der heutigen Gesellschaft zu finden. Alles was seitdem von den verschiedenen sozialistischen Schulen, die Anarchisten mit inbegriffen, in Bezug auf die Prinzipien sowie auf die Propaganda- und Kampfesmethode – selbst bis zur individuellen Enteignung und dem Diebstahl – gedacht und gesagt wurde, alles das wurde schon von diesen Pioniren des Sozialismus in Deutschland gedacht und gesagt, welche nur ihrer Ueberzeugung gemäss handelten, unter Einsetzung ihrer Freiheit und ihres Lebens konspirirten und welche sehr entrüstet darüber gewesen wären, wenn man ihnen gesagt hätte, sie sollten nicht an eine unmittelbare Verwirklichung dessen glauben, was sie für gerecht und wahr hielten. Eine Wahrheit, welche nicht sofort realisirbar ist (wohlverstanden, sobald man den guten Willen dazu hat), ist keine Wahrheit.

So trug denn der Sozialismus vor 1848 – jetzt der Vergessenheit anheimgefallen – mächtig zu den Ereignissen selben Jahres bei. Mehrere seiner Anhänger nahmen in den Reihen der Kämpfenden Platz, und noch bis zum Jahre 1863 und selbst 1875 waren es Ueberlebende aus jener Epoche, welche zu wiederholten Malen die Fahne des Sozialismus in Deutschland erhoben.


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Der jetzige Sozialismus, welcher verschieden von dem ist, welchen wir kennen gelernt haben, nahm zweimal seinen Ursprung aus der Reaktion. Nach der Reaktion von 1849 und den darauffolgenden Jahren erschien Lassalle auf der Bildfläche, und nach derjenigen von 1871 traten die Sozialdemokraten von heute in den Vordergrund.

Beide Parteien haben, einige kleine Differenzen ausgenommen, dasselbe Ziel verfolgt: Nicht mehr die Vernichtung der Ursachen des Lohnsystemes, sondern die Organisation der Lohnarbeiter oder einer Minderheit derselben, um die herrschende Macht zu erstürmen. Marx und Lassalle haben beide die Oekonomie verlassen, um mit der Politik zu enden. Für Lassalle war die soziale Frage nur eine Magenfrage; Marx sah in der ganzen Geschichte nur eine ökonomische Fatalität, und in dem Kampfe des Proletariats gegen das Kapital nur das Produkt und den Erfolg der grossen Industrie. Lassalle erkannte das „eherne Lohngesetz“, Marx proklamirte den Grundsatz, dass die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der arbeitenden Klasse sein solle. Dessenungeachtet begünstigten die Lassalleaner das Kooperativwesen mit Staatshilfe und das allgemeine Wahlrecht, die Marxisten erklärten sich für die Vertretung der Arbeit und strebten die politische Macht zu erobern. Die Einen national, die Andern international, waren beide gleich von einem beschränkten Klassengeist durchdrungen.

Ihre Vereinigung konnte nicht ausbleiben. Sie wurde in der That i m Jahre 1875 zu Gotha unter dem Namen sozialdemokratische Partei zu Stande gebracht, einer Verbindung von entgegengesetzten Bestrebungen, von Revolution und Gesetzlichkeit, von Sozialismus und Demokratie. Die Marxisten entlehnten den Lassalleanern ihre demokratischen Palliative und ihre autoritäre Organisation (bis dahin Gegenstand so vieler Vorwürfe ihrerseits); die Lassalleaner hingegen schlossen sich vollständig der „wissenschaftlichen“ Theorie von Marx an. Augenscheinlich waren es die Marxisten, welche sie mit sich fortrissen, aber mit der Parlaments-Politik legten die Lassalleaner den Keim der Reaktion und der Korruption in die Partei. Marx sah die Gefahr und sprach sich in scharfen Ausdrücken in seinen Randglossen, welche man volle 16 Jahre dem Publikum sorgfältig verborgen hielt, dagegen aus.


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Es kommt, in der Geschichte vor, dass das Volk nach längerem Warten, nach vielem unnützem Appelliren an die öffentliche Macht dessen überdrüssig wird; das Streben nach Verbesserungen wird fieberhaft und gewaltsam und überschreitet die Grenzen der Gesetzmässigkeit. So kam es, dass im Jahre 1878 in ganz Europa, Deutschland nicht ausgeschlossen, Attentate und andere aufrührerische Akte geschahen. Die Regierungen nahmen diese Gelegenheit wahr, um gegen die Sozialisten aller Schattirungen mit ganzer Strenge vorzugehen und so durch Schrecken den Fortschritt der Ideen zu hemmen. In Deutschland wurde das Ausnahmegesetz angenommen, welches die verschiedenen Verbindungen auflöste, die Versammlungen und alle literarischen Erzeugnisse, welche einen sozialistischen Charakter trugen, verbot, sowie Ausweisungs-Massregeln und den Belagerungs-Zustand rechtfertigte.

Natürlicherweise zog dabei die Regierung den Kürzeren. Nachdem die sozialistische Bewegung für einen Augenblick gehemmt war, offenbarte sich dieselbe viel stärker und gewaltsamer als zuvor, die Ideen gruben sich neue Furchen in den Massen, und das Gesetz, dieser Zauberstab, welcher so viele Wunder wirken sollte, zerbrach in den Händen Derjenigen, welche ihn hielten. Es ist wahr, das Gesetz beruhigte die weniger starken Geister, bei denen die Sorgen der persönlichen Interessen die Anhänglichkeit zur Sache überwogen (was hauptsächlich bei den Zeitungsredakteuren, den Rednern und den sozialistischen Abgeordneten der Fall war). Auf der andern Seite aber schuf das Gesetz viele Unzufriedene und Revolutionäre, es öffnete besonders der Jugend die Augen über den Werth des Parlamentarismus. Der Bruch liess nicht lange auf sich warten. Wir wollen hier weder die Phasen dieses Kampfes, noch die traurigen Vorfälle, welche ihn kennzeichneten und welche die menschliche Natur in einem unheilvollen Lichte zeigten, in Erinnerung bringen Die von den Männern des Parlaments gegen die Unterjochten und Revolutionäre angewandten Kampfesmittel waren derartige, welche keiner Sache nützen können. Wir gehen darüber hinweg und kommen zu dem Jahre 1890.


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Auf dem in diesem Jahre zu Halle stattgefundenen Kongress hörte man anfänglich nur Klagen gegen das Programm und die Parteileitung. Die Berliner Genossen beklagten sich, dass man ihnen, gegen den zu Wyden gefassten Beschluss, vorgeschrieben habe, bei den Stichwahlen für die liberalen zu stimmen. Die Genossen zu Hamburg waren wüthend darüber, dass, nachdem die Führer geschwiegen, so lange „ihre Mandate in der Luft schwebten“ (wie der Abgeordnete Singer selbst zugestand), sie gleich, nachdem ihre Wiederwahl erfolgt war, am Vorabend des ersten Mai ein Manifest gegen die Niederlegung der Arbeit an diesem Tage erliessen und so den schon entsponnenen Kampf aufgaben und die Arbeiter zu einer unvermeidlichen Niederlage verdammten. Die Genossen von Sachsen waren über den von der Parteileitung erlassenen Ukas gegen die Redakteure von zwei Zeitungen, welche sich die Veröffentlichung von Artikeln zu Schulden kommen liessen, die von der Berliner Opposition ausgingen, „bestürzt“. Mit einem Worte, Alle hatten Ursache, sich zu beklagen und sich gegen die herrschende Autorität der Partei zu erheben. Dieselbe trug dessenungeachtet den Sieg davon. Sie täuschte die Oppositionellen mit Zahlen und schönen Worten. Die Aufhebung des Ausnahmegesetzes, das Bekenntniss des deutschen Kaisers, die Anzahl der Wähler, welche fast 1½ Millionen betrug, sowie die 35 Abgeordneten, der Kassenbestand – hauptsächlich der sich auf einige Hunderttausend belaufende Kassenbestand – waren Argumente, um einen Eindruck auf Viele auszuüben, und sie machten einen Eindruck. Man ernannte eine Kommission, vor welcher man die schmutzige Wäsche wusch, und Alles blieb wie zuvor: Programm, Parteiorganisation, Wahlpolitik, Autorität der Parlamentsfraktion – die Führer erhielten sogar eine Erweiterung ihrer Machtbefugnisse, und man gründete in Berlin eine offizielle Zeitung, den „Vorwärts“.

Aus zehnjähriger Erfahrung hatte die Parteimasse nichts gelernt.


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Etwas hatte sich aber doch in Halle geändert, nämlich: Der Charakter der Partei. Wenige hatten eine Ahnung davon, denn man war über diesen Gegenstand weder in eine spezielle Diskussion eingegangen, noch wurde ein Beschluss darüber gefasst. Aber aus den Reden der Führer, oder vielmehr aus gewissen im Vorbeigehen hingeworfenen Sätzen, sowie aus den gesammten gefassten Beschlüssen ging offenbar hervor, dass die Sozialdemokratie in eine neue Phase ihres Daseins eintrat. Jede revolutionäre Regung wurde definitiv aufgegeben. – Die „zukünftige Gesellschaft“ erschien wie ein leerer Traum. Wahnsinnig, an eine Revolution zu denken; denn Herr Liebknecht stellte auf Grund des Wahlergebnisses fest, dass man Zwanzig gegen Achtzig sei, und erklärte, dass man warten müsse, bis man Achtzig gegen Zwanzig sei! Man leugnete das eherne Lohngesetz von Lassalle, da es mit Nothwendigkeit zu einer Revolution führe, und man schob die von Marx vertretene Diktatur des Proletariats bei Seite, nicht weil man darin die Gefahr einer neuen Herrschaft, sowie neuer Täuschungen und Ungleichheiten erblickte, sondern weil sie die Bourgeoisie mit einer Viertelstunde Revolution bedrohte. Man vertiefte sich in das Studium von Gesetzes-Entwürfen und schlug in der That die Einführung eines Acht-Stundentages vor .... und zwar schon vom 1. Januar 1898 an ! Herr Bebel erklärte in Halle, im Widerspruch zu dem was er früher so häufig wiederholte, dass man, sollte es unter dem jetzigen Regime nicht möglich sein, die soziale Frage zu entscheiden, dieselbe doch ihrer Lösung nahe bringen könne. Diese Erklärung – bemerkte der „Grenzbote“ – ist sehr wichtig und bezeichnet eine vollständige politische Schwenkung der Sozialdemokratie, denn sie schliesst das Vertrauen auf die gesetzlichen Mittel in sich ein, das eine jede revolutionäre That oder einen derartigen Versuch vollständig ausschliesst. Demnach ist es also sicher, dass sich in dem Charakter der sozialdemokratischen Partei eine Umwandlung der „befriedigendsten Art“ vollzogen hat, – sagte diese Bourgeois-Zeitung. Die Revolutionspartei ist todt : an ihre Stelle tritt eine Reformpartei, welche mit den Bourgeoisparteien und selbst mit der Monarchie zusammenwirken wird, und schloss folgendermassen: „Die Partei hat an revolutionärer Kraft verloren, was sie an Ausdehnung gewonnen hat“.

Es blieb nun weiter nichts mehr übrig, als das Parteiprogramm mit der neuen Stellung in Einklang zu bringen. Dies ist denn auch durch den Entwurf eines neuen Programmes geschehen.

Dieser Entwurf besteht aus zwei Theilen: dem theoretischen Theil, in welchem die Lehren von Marx über die Ausbeutung der Arbeiter und der immer mehr zunehmenden Konzentration der Reichthümer dargelegt sind, und dem praktischen Theil, in welchem Reformpläne auseinandergesetzt sind, die sich in vollständiger Uebereinstimmung mit den heutigen Zuständen befinden. Nichts ist augenscheinlicher als der Widerspruch zwischen der Theorie und der Praxis; zwischen dem Paragraphen, worin es heisst: „Ziel und Aufgabe der Sozialdemokratie ist: den bestehenden Zuständen durch Beseitigung ihrer Ursachen ein Ende zu machen“, und der Arbeiter-Gesetzgebung, deren Nutzlosigkeit zugestanden wird; zwischen den erklärten Feindseligkeiten, den politischen Parteien gegenüber, und den sozialdemokratischen Reformen, die man für so gut erklärt – wie: Allgemeine Wehrhaftigkeit, internationale Schiedsgerichte, unentgeltlichen Unterricht und unentgeltliche Rechtspflege (auch für die Reichen ?) und verschiedene andere unentgeltliche Dinge, die sonst gewöhnlich sehr theuer sind.

Die deutsche Sozialdemokratie hat durch dieses Programm – dessen hauptsächlichsten Punkte wir noch besprechen werden – den sozialistischen Prinzipien vollständig entsagt.

II. Zur Kritik der Lehre von Karl Marx.

Um uns über die Lehre und die Taktik der sozialdemokratischen Partei in Deutschland – und den anderen europäischen, nach demselben Muster gebildeten Parteien – zu orientiren, müssen wir einen Blick auf die Grundtheorie dieser Parteien – die Theorie von Marx – werfen.

Dies ist urnsomehr nothwendig, da wir gerade in Deutschland – ohne von den anderen Ländern zu sprechen – sehen, wie die Opposition selbst, die „Jungen“ von Berlin z. B., ihre Waffen, zur Bekämpfung der Führer der Partei, Karl Marx entlehnt. Derartig ist der Marxismus in die Seele der Arbeiter eingedrungen ! Derartig sind die Köpfe derselben von Theorien des Gleichwerthes, des Mehrwerthes, von konstantem und variablem Kapital und anderen Wortspielereien vollgepfropft.

Man muss gestehen, dass Marx in seinem Leben ein viel grösserer Geist und ein viel ernsterer Revolutionär gewesen ist, als alle seine Anhänger von heute; und dass sich seine Theorie ausgezeichnet gut zur Widerlegung der parlamentarischen Taktik seiner Anhänger eignet.

In der That, wenn die „Jungen“ diese Taktik bekämpfen wollen, so brauchen sie nur in Erinnerung zu bringen, was Marx über die Ursachen der Ausbeutung des Arbeiters geschrieben: Die Ursache der Ursachen sei das kapitalistische System, das Lohnsystem, die Trennung der Arbeiter von den Arbeitsinstrumenten, und dass ohne die Abschaffung des Kapitals und des Lohnsystemes und die Verwandlung der Arbeitswerkzeuge als Privateigenthum in Gesammteigenthum, eine ernstliche und allgemeine Verbesserung des Arbeiterlooses nicht möglich ist.

Das ist es, was dieselben in der That in ihren Versammlungen sagen; was Marx gelehrt hat und worüber heute die Marxisten und Parlamentarier gern schweigen, um statt dessen die Arbeiter mit der Hoffnung hinzuhalten, durch Gesetze über die Dauer der Arbeitszeit und über andere Details der kapitalistischen Ausbeutung allmälig ihre Stellung verbessert zu sehen.

Ebenso wahr ist es aber, dass sich Marx durch einen Widerspruch, welcher am Grund seines Systemes liegt, wohl etwa ungern, für die Vertretung der Arbeit im Parlamente erklärt hat. Folglich haben die „Alten“ nur nöthig, den „Jungen“, welche ihnen Auszüge von Karl Marx entgegenhalten, zuzurufen: Kehret das Blatt um !


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Die Ursache des Widerspruches, in welchen Marx verfallen ist, liegt in einem falschen Ausgangspunkte und in der ausserordentlichen Bedeutung, welche er dem Verfahren und den Einzelheiten der kapitalistischen Ausbeutung beigelegt.

Marx setzt den Arbeitsvertrag als ursprünglich gerecht voraus, weil er auf dem Gesetze des Austausches beruht. Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft; der Kapitalist kauft dieselbe für ihren gerechten Preis – das was ihre Erhaltung kostet – und bezahlt dieselbe. Dagegen ist nichts einzuwenden. Marx zufolge ist der Arbeitsvertrag frei, gleich, gerecht und auf den Gleichwerth der ausgetauschten Gegenstände gegründet. Der Kapitalist und der Arbeiter „handeln beide zu ihrem gegenseitigen Vortheil und zu gleicher Zeit im Interesse und zum Nutzen der Gesammtheit“.

Nachdem nun die Produktion, für welche der Arbeiter engagirt war, fertig ist, findet es sich, dass der Arbeiter mehr produzirte, als seine Unterhaltung kostet. Es ist dies ein Zufall – sagt Marx wörtlich – ein durch die eigenthümliche Natur der Waare Arbeit verschuldeter Zufall ; ein für den Kapitalisten glücklicher Zufall, den Arbeiter aber in keiner Weise schädigend. Dieser Zufall, den der Kapitalist durch eine Verlängerung der Arbeitszeit wirksam unterstützt – durch Fabrikgesetze, Anwendung von Maschinen etc. – endigt mit der Anhäufung aller Reichthümer auf der einen Seite und des Elends auf der anderen.

Man könnte Marx fragen, ob es wahr sei, dass der Austausch gerecht, gleich und frei ist. Daraufhin würde er antworten, dass es doch nur auf Voraussetzung beruhe, welche er der Bequemlichkeit seines Lehrsatzes halber zu machen beliebt.

Die falsche Voraussetzung aber ist sehr irreführend. Sie stellt uns den Kapitalismus als den grossen Moloch vor, welcher für sich allein allen Arbeitsertrag und den Schweiss der Arbeiter aufzehrt. Der Eigenthümer, der Kaufmann, der Beamte sind unter ihm versteckt und die Wahrheit ist die, dass Eigenthum, Handel, Regierung – d. h. Miethe, Wucher, Steuern – und andere damit verknüpfte Einrichtungen einen verderblichen Einfluss auf den Arbeitsvertrag selbst und den Austausch im Allgemeinen ausüben.

Gerade dieser Einflüsse halber ist der Arbeitsvertrag niemals gerecht, ist irgendwelcher Austausch niemals gerecht, sondern bei jedem Austausch gewinnt immer ein Theil, während der andere verliert.

Wir werden im Nachfolgenden noch sehen, welche Rolle der Kaufmann, der Grundbesitzer, der Staat, der Finanzier in der Vertheilung des Arbeitsertrages spielen und durch welche andere Mittel, als diejenigen, aus welchen Marx den Mehrwerth entspringen lässt, sie gedeihen und sich bereichern. Marx unterschätzt wohl den Antheil, welchen der Staat an der Beraubung der Arbeiter nimmt; die Einkünfte, welche er den Einen zukommen lässt, und die Erpressung, welche er an den Anderen ausübt. Wenn er gelebt hätte, um dem Aufschwung der Spekulationen, der Kartelle, des Schutzzollsystemes des H. v. Bismarck etc. beiwohnen zu können, so hätte er vielleicht ein anderes „Kapital“ geschrieben, um die ganze kommerzielle und politische Ausbeutergesellschaft zu kennzeichnen.

Marx selbst schreibt den Ursprung des Kapitals den Kriegen, der Enteignung der Bauern durch die herrschende Klasse, dem Handel, den Spekulationen, Monopolen und anderen Schlichen zu. Nur hält er aufrecht, dass das einmal entstandene Kapital von selbst weiter lebt oder wenigstens nicht mehr das strikte Bedürfniss des Schutzes nöthig hat, wobei er aber nicht bemerkt, dass die Existenz des Staates selbst – ein Schutz ist, ja den denkbar grössten Schutz für die kapitalistische Klasse bildet.

Worin würde bei einem Arbeitsvertrag die Gleichheit bestehen ? Zufolge Marx bestände dieselbe darin, dass der Kapitalist dem Arbeiter das giebt, oder zu geben scheint, was zu dem Unterhalte seiner Existenz nöthig ist, und was ihm erlaubt, seine Arbeitskraft und die Geschicklichkeit, welche zu seiner Gattung von Arbeit nothwendig ist, zu reproduziren. Aber was für eine Existenz! Ein Dasein ohne Ruhe, ohne jedes geistige Leben, ohne Ziel; ein Dasein, das dem Kapitalisten vollständig zum Gebrauch und zur Ausnützung dient! Die Thatsache also, dass sich der Arbeiter auf diese Weise verkauft, beweist, dass die Ungerechtigkeit dem Arbeitsvertrag vorherging, dass sie in der, durch die bürgerlichen und militärischen Anfiihrer des Stammes begangenen individuellen Aneignung des Grund und Bodens besteht, ferner in der Thatsache, dass gewisse Gesellschaftsmitglieder an einem gegebenen Momente zu arbeiten aufgehört haben, um von Wucher zu leben, indem sie Thiere und Landstrecken verpachteten, weiter in den verschiedenen Aneignungen seitens der Gesetzgeber, der Wucherer, der Kaufleute, der Priester und der Monopolisten: Aneignungen oder vielmehr Erpressungen, welche noch heute unter anderen Namen und in anderer Form fortgesetzt werden, und deren Endresultat ist: den Arbeiter, an Händen und Füssen gebunden, der kapitalistischen Ausbeutung zu überliefern. Sind die Ungleichheit des Besitzthums und der Leihwucher in der Gesellschaft einmal eingeführt, so ist die Ausbeutung des Arbeiters die nothwendige Folge. Gewisse Umstände, welche nach der Entdeckung Amerikas eintraten – Zuwachs an Metallen, Ausdehnung des Handels, Vermehrung der Verbindungs-Wege und Mittel, Fortschritt des Maschinenwesens – können die Ausbeutung in dem heutigen kapitalistischen System entwickelt haben; aber es wäre ein Irrthum, zu glauben, dass diese Umstände ohne die Vorexistenz des Eigenthums, der Regierungen und des Handels andere Folgen als die Vermehrung des allgemeinen Wohlseine der Menschheit gehabt hätten.


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Auf was beruht denn für Marx und die anderen Oekonomisten die Voraussetzung der Gleichheit des Austausches ?

Auf einer Abstraktion oder vielmehr auf einer Reihe von Abstraktionen. Marx abstrahirt von der Natur und dem reellen Beweggrunde des Menschen, von der Natur und den eigenthümlichen Eigenschaften der Arbeit, von der Natur und den eigenthümlichen Nützlichkeiten der Waaren, mit einem Worte von allen der Produktion vorausgehenden, sie begleitenden und nachfolgenden Umständen.

Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft, um sein Dasein zu unterhalten. Erstens kann rnan aber gar nicht genau sagen, was den Unterhalt zum Leben eines Mannes darstellt; es giebt da ungeheure Verschiedenheiten. Dann wirken noch andere Elemente an der Bestimmung der Löhne mit: Marx beachtet sie nicht. Was die qualitativen Verschiedenheiten der Arbeiten anbetrifft, so unterdrückt sie Marx ganz kurz mit Hilfe einer anderen Abstraktion : Er fasst alle, selbst künstlerische, geistige, gewerbliche Arbeiten und Erfindungen als abstrakte, unbestimmte, gleiche und unausgebildete Arbeiten zusammen.

Die Arbeitsmenge, welche die Hervorbringung einer Waare gekostet hat, oder besser die Arbeitsmenge, welche sie hätte kosten sollen, oder in dem Augenblicke des Austausches kosten sollte – die gesellschaftlich nöthige Arbeit –, bestimmt den Austauschwerth der Waare; ein solcher Austauschwerth ist eine geheimnissvolle Sache, ein soziales Hieroglyph, etwas Uebernatürliches.

Hierzu kommen noch andere Voraussetzungen, so der Weltmarkt. Die besonderen Waaren sind nur ein Bruchtheil einer eingebildeten Weltwaare. Ausserordentliche Beweglichkeit der Kapitalien und der Individuen ; immer noch auf Voraussetzung beruhende Abschaffung aller Arten von Schwierigkeiten des Ueberganges von einer Industrie zur anderen, von einem Lande zum anderen: Aufhebung der Entfernungen, der Gewohnheiten, der Gefühle, des Mangels an Kenntnissen etc. Die Oekonomie wird zur Zirkulation, zur unaufhörlichen Bewegung. Wir fühlen uns in die idealistischste, in die utopistischste, in die absurdeste aller Welten versetzt; Marx entlehnt seine Vergleiche und seine Kunstsprache der Theologie und der Mythologie.

Die Menschen verlieren ihre Körperlichkeit, der Arbeiter wird eine Arbeitskraft, der Kapitalist ein Anhäufungsagent, das personifizirte Kapital. Die Kaufleute, die Eigenthürner etc. sind geheimnissvolle Persönlichkeiten, Schatten der Kapitalisten, welche mit dem zufrieden sind, was ihnen der direkte Ausbeuter der Arbeit von seiner Beute ablässt.

Alle Menschen werden nur der materiellen Interessen halber handeln, und die Waaren sind für Diejenigen, welche sie besitzen, unnütz, während sie allen Anderen nützlich sind. Welchen Gebrauch der Konsument davon macht, das ist ganz gleichgültig und gehört nicht in das Reich der Oekonomie. Die Bedürfnisse der Menschen sind alle in Geld umwandelbare und nach Geld messbare. Die Verschiedenheiten der Dringlichkeit, der Lebhaftigkeit etc. zertheilen sich durch ein gewöhnliches Verfahren, indem man den sozialen Durchschnitt annimmt.

Alle diese Verwirrungen – alle diese Fantasterien zu dem lobenswerthen Zwecke, den Kapitalismus wirksamer bekämpfen zu können – ihn aller Verbrechen, aller Ungleichheiten der heutigen Gesellschaft anklagend!

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Marx kam in einem Augenblicke der riesenhaften Entwickelung des Kapitalismus und lebte und schrieb in dem Vaterlande des Kapitalismus – in England. Er sah vollkommen, was die übrigen Einrichtungen Ungerechtes und Verderbliches an sich hatten, aber er wollte Alles dem Kapital unterordnen. Mit anderen Worten, er wollte dem Bourgeoissysteme einen Kopf geben, um ihn dann mit einem Schlage zerspalten zu können. Um das zu thun, brauchte er sich nur an die Lehren der politischen Oekonomie zu halten.

Diese machte, da sie die schreienden Ungerechtigkeiten der aus der französischen Revolution hervorgegangenen ökonomischen Organisation nicht rechtfertigen konnte, sich zur Aufgabe, wenigstens einen guten Theil davon nicht zu beachten. Sie bildete sich eine fantastische Gesellschaft ein, wo alle Menschen in Thatkraft und Intelligenz gegenseitig rivalisirten, ohne durch die aus den Quellen und Instrumenten der Arbeit entstandene Aneignung daran verhindert zu sein. Die politische Oekonomie schloss aus dieser Voraussetzung, dass man die Menschen, da dieselben frei wären, Reichthümer zu erlangen, ungehindert machen lassen solle; die ursprünglichen Ungleichheiten werden ohne Zweifel mit der Länge der Zeit ausgeglichen und ein Jeder wird sich seinem Verdienste gemäss enttschädigt finden.

Dieser Theorie zufolge hatte man gefunden, dass das Kapital nur angehäufte Arbeit sei, dass die Rente nicht als ein Produktenpreis zu betrachten sei; man hatte noch andere ebenso erstaunliche Entdeckungen gemacht, von denen die merkwürdigste ist (für Diejenigen, welche unzufrieden wären), dass die ökonomischen Beziehungen im Allgemeinen, die Vertheilung der Reichthümer aber im Besonderen durch feste und unabänderliche Gesetze geregelt sein, dass man keine Aenderung daran vornehmen könne, ohne die Harmonie der ganzen Schöpfung au zerstören und ohne sich den Zorn und die Rache dieser Gesetze zuzuziehen, welche mächtig genug sind, um von selbst die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, indem sie den in das Ruderwerk geworfenen Stock aus demselben ausstossen.

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Und Marx glaubte an diese Gesetze; er wiederholte, dass dieselben bewunderungswürdig und unabänderlich seien; aber er fügte hinzu – unerschütterlicher Hegelianer, wie er war –, dass dieselben sich von selbst aufheben werden; denn das Kapital wird sich auf der einen Seite und das Elend auf der entgegengesetzten Seite der Gesellschaft anhäufen und der Zusammenstoss wird unvermeidlich. – Der Zusammenstoss, das ist die Revolution. Aber so revolutionär sich Marx auch erklärte, so glaubte er doch an das Bestehen eines kollektivistischen Embryo innerhalb der heutigen kapitalistischen Gesellschaft, dank der Konzentration des Kapitals.

Und nach ihm haben Engels und alle anderen behauptet, die Produktion sei heute schon sozialisirt, es bliebe nur noch die Sozialisirung der Vertheilung übrig. Im Grunde ist der ökonomische Fatalismus des Marx und seiner Anhänger im höchsten Grade antirevolutionär.

Ebenso wie die politische Oekonomie im Liberalismus, d. h. in der Diktatur der Bourgeoisie anlangte, so langt Marx bei der Diktatur des Proletariats und den sozialdemokratischen Reformplänen an.

Man bemerkt zwischen den Theorien und den Thatsachen eine logische Verbindung.

III. Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmes.

Nach der flüchtigen Abschweifung, welche wir in das Labyrinth der marxistischen Lehre gemacht haben, können wir wieder auf die Sozialdemokratie und ihr Programm zurückkommen.

Dieses Programm, das vollständig in dem Geiste von K. Marx aufgestellt ist, berührt, wie wir schon bemerkt haben, fast gar nicht die Frage des Grundeigenthums; ebensowenig berührt es die verschiedenen Ausbeutungsformen des Handels und der Politik, noch der gegenwärtig bezeichnenden Phänomen der Ökonomischen Welt, wie das Schutzsystem und die Kartelle. Es giebt vor, die arbeitende Klasse zu emanzipiren, ohne nur mit einem Worte der Arbeitslosen zu erwähnen, und es verleugnet vollständig den Sozialismus, indem es rein demokratische Forderungen enthält. Es würde viel dazu gehören, um den theoretischen Theil dieses Programmes einen, ausnahmsweise nur industriellen und kommerziellen Lande, wie die Vereinigten Staaten von Amerika anzupassen. In Deutschland aber, wo der Feudalismus noch aufrecht steht, wo die Fürsten und der Adel keine leeren Titel tragen, sondern einen bedeutenden Theil des Landes besitzen, wo noch die Einrichtungen und Privilegien des Mittelalters bestehen, wie z. B. das Fideikommiss, die Gesindeordnung etc., ist das Grundeigenthum immer noch der Feind, – immer noch die Basis, auf welcher das soziale Gebäude, erstens die Regierung und dann selbst der Kapitalismus beruhen. Das Schutzsystem, das Beamtenthum, der Militarismus, alle die grossen Einrichtungen, welche das jetzige ökonomische und politische System in Deutschland charakterisiren, verdanken ihren Ursprung dem überwiegenden Einfluss des grossen Grundeigenthums, d. h. der Aristokratie, welche die festeste und abgeschlossenste aller lebenden Aristokratien ist und welche guten Gebrauch von der Befugniss, sich dem Handel und Gewerbe widmen zu können, welche sie im Jahre 1807 erhielt, gemacht hat.

Die folgende kleine Tabelle über die Anzahl der sich auf den grossen Domänen befindenden Fabriken beweist schon zur Genüge, in wie weit das Kapital mit dem Grundbesitz vereinigt ist.

Der Fabrikbetrieb auf den grösseren Gütern ist so vertheilt:

Davon betreibt der Adel
Zuckerfabriken 102 34
Brennereien 2546 1167
Stärkefabriken 383 111
Mühlen 1817 1106
Brauereien 322 208
Ziegeleien 2627 1354

Eine noch viel bezeichnendere Thatsache ist die grosse Anzahl der in den letzten 20 Jahren gegründeten Fideikommisse und im Allgemeinen die Ausdehnung des Grossgrundbesitzes in verschiedenen Theilen des Reiches[1].

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Es ist augenscheinlich, dass weder die Kritik des Kapitals, noch die Arbeitervertretung, noch die Taktik der Sozialdemokraten wirklich gute Waffen zur Bekämpfung des jetzigen Zustandes sind.

Bei den letzten allgemeinen Wahlen haben die Sozialdemokraten gar keine Stimmen in den Ostprovinzen von Preussen, wo das Grossbesitzthum herrscht, erhalten. Dies veranlasste sie, sich in Bewegung zu setzen, und man beschloss in Halle, eine Broschüre für die Bauern zu schreiben und zu versuchen, sie für die nächsten Wahlen zu ködern. Thatsache ist es, dass der marxistische Sozialist allen Fragen gegenüber, welche sich auf die Landarbeiterklasse beziehen, entfremdet ist: er beschäftigt sich nur mit dem Kapital und den Arbeitern der grossen Industrieen. Der Bauer hingegen hasst die Politik; er hasst die Abstraktionen, die Erdichtungen, die Unverantwortlichkeiten eines Repräsentativ-Systems.

Macht gegen Macht, schliesst er sich der des Eigenthümers an, welche ihm näher und fühlbarer und welche fähiger ist, sich Gehorsam zu verschaffen, welche zuweilen auch menschlicher ist, weil sie persönlich ausgeübt wird.

Es besteht also ein wirklicher Konflikt zwischen den Sozialdemokraten und der Landbevölkerung. Die Freiheiten und die politischen Rechte, welche die Sozialdemokraten verlangen, vergrössern die Bürde der Steuern und den Dienst auf dem Rücken des Landmannes, wie diejenigen sie verschlimmert haben, welche man in diesem Jahrhundert dekretirte[2]. Auch hat der Bauer eine instinktive Furcht vor der Eroberung der Macht durch die Arbeiter in den Städten; er fürchtet das Lastthier der neuen herrschenden Klasse zu werden, so wie der heutige Arbeiter das der Bourgeoisie ist.

Wiederholen wir, dass diese Befürchtungen und das Misstrauen durch die Erinnerungen der Vergangenheit sehr begründet sind. Im Jahre 1848 war der Bauer zum Aufstande bereit, als er von dem Aufstande der Städte Nachricht erhielt; da, wo es ihm unmöglich war, in seiner Heimath zu revoltiren, eilte er herbei, den Aufständischen der Städte Hilfe zu leisten. Nach Hause zurückgekehrt, verjagte er die Wald- und Feldhüter, griff das Schloss des Herrn an, verbrannte die Steuer- und Hypothekenregister, rächte sich an den Wucherern, entsetzte den Bürgermeister und den Richter. Während die Arbeiter der Städte Konstitutionen projektirten, verweigerte er den Pacht und die Steuern zu bezahlen. Er sagte sich einfach, dass, nachdem der Feudalzwang abgeschafft sei, das Land wohl ihm gehören würde; und als man die Verstaatlichung einiger, von den Fürsten geraubten Domänen dekretirte, glaubte er ernstlich daran, dass man dieselben nun vertheile und er einen Theil davon abbekäme. Von allen Handlungen der revolutionären Regierung interessirte ihn nur die Abschaffung der Zehnten, die Regelung der Abgaben, der Wälder, der Jagd und vielleicht ein wenig sein Gemeinderath. Was das Parlament anbetrifft, so frug er sich, ob dasselbe aus Infanterie oder Kavallerie zusammengesetzt sei.

Als er sich nun in seinen Hoffnungen getäuscht sah, als er sah, wer in Wirklichkeit den Nutzen von der Abschaffung der Zehnten und von den anderen Reformen hatte, als er bis an den Hals in Wahlen steckte. Wahlen für das Parlament, für die Geschworenen, die Bürgermeister, für die Gemeinde-, Provinz- und Distrikträthe etc..... kehrte er der Revolution den Rücken und dieselbe war verloren.

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Wir haben gesehen, dass die Grossgrundbesitzer auch Grossindustrielle und grosse Kapitalisten sind. Fügen wir noch hinzu, dass dieselben sich, dank ihres grossen Einflusses auf die Regierung, grosse Renten auf Kosten der Arbeiter verschaffen.

Hier offenbart sich wieder die Unzulänglichkeit der marxistischen Theorie. Nach Marx ist es der Ueberschuss (Mehrwerth) der Produktion über die Erhaltungskosten des Arbeiters, welcher sozusagen den Fonds des unter den Kapitalisten, den Eigenthümern, den Kaufleuten zu vertheilenden Profits bildet.

Wir sehen aber, dass im Gegentheil der Profit dieser Klassen direkt von den Abgaben, welche der Staat von seinen Bürgern erhebt, kommt.

Es ist unnöthig, die Geschichte des Freihandels und des Schutzzollsysteines in Deutschland in Erinnerung zu bringen und darüber zu philosophiren. Es genügt, zu sagen, dass Bismarck, als er sich entschloss, mit der Freihandel-Politik Delbrück’s zu brechen, offen erklärte, er thue dlies im Interesse der herrschenden Klasse.

Versuchen wir lieber, uns eine annähernde Idee von der Höhe des Schutzzolles zu machen, damit wir wissen, ob derselbe wirklich den grossen Theil der Unterhaltungskosten der Besitzer und der Kapitalisten ausmacht, und uns über den relativen Werth des geringen Schutzes, welcher den Arbeitern durch eine Arbeitsgesetzgebung gewährt werden kann, zu unterrichten.

Man kann nicht abschätzen, was die Konsumenten in Folge des Zolltarifs mehr für Getreide bezahlen, als der wirkliche Preis ausmacht, aber es ist erwiesen, dass die Preise des Getreides im Verhältniss zum Zolltarif steigen. Der mittlere Preis des Weizens in Deutschland oder wenigstens in dem industriellen Westen des Reiches wird durch den Zoll dauernd von 30–40 Mark (für die Tonne von 1000 Kilo) über dem englischen Preise erhalten.

Wir brauchen kaum zu erklären, dass der Zoll nicht den unzähligen kleinen Eigenthümern zu Gute kommt, welche gezwungen sind, Getreide zu kaufen, statt zu verkaufen, sondern ausschliesslich den Grossgrundbesitzern.

Nach den Getreidezöllen kommen der Wichtigkeit zufolge die Zölle auf Eisen, Hier ist ebenfalls eine Abschätzung des totalen Nutzens, welchen die Bergwerkbesitzer und die Grossindustriellen daraus ziehen, unmöglich. Man kann sich aber eine annähernde Idee davon machen, wenn man weiss, dass der Reinprofit, welcher sich im Jahre 1879 für Kompagnien auf 9,900,000 Mk. belief, im Jahre 1883 auf 25 Millionen stieg, und dass die Zahl der Gesellschaften, welche keine Dividenden zahlten, in derselben Periode von 56 auf 29 fiel. Die hohen Eisenpreise bestimmten die Spekulationen und die darauf folgende Krisis des Jahres 1884. Die Regierung, welche als Eigenthümer und Verwalter der meisten Eisenbahnen, eine ungeheure Anzahl von Schienen gebraucht, machte ihre Bestellungen bei den Industriellen des Landes, welche sich viel höhere Preise bezahlen liessen, als sie vom Auslande verlangten. Minister Maybach, welcher während einer langen Reihe von Jahren unzählige Gunstbezeugungen dieser Art erwies, wollte kürzlich diesen Missbräuchen ein Ziel setzen: und er einbüsste sein Portefeuille.

Wir besitzen keine Angaben über die Holzzölle.

Die Höhe der Ausfuhrprämien, welche das deutsche Volk an 400 Zuckerfabrikanten – fast alle Grossgrundbesitzer – bezahlte, wurde auf 481 Mill. Mk. geschätzt. Man weiss, dass es den Zuckerfabrikanten gelungen ist, durch Vervollkommnung der Technik der Industrie, sich einen Theil der Steuern anzueignen. – Die Zuckerproduktion stieg in den Jahren 1870 -71 bis 1884–85 von 186,442 Tonnen auf 1,123,030 Tonnen; die Anzahl der Fabriken von 311 auf 408; die Ausfuhr von 118,000 auf mehr als 5 Mill. Doppelzentner.

Alle Grossgrundbesitzer des Nordwestens, welche keinen Zucker fabriziren, brauen Bier. Durch einen „Zufall“, ähnlich wie in der Zuckerindustrie, kommt ein guter Theil der Alkoholsteuern den Destillerien zu Gute, denen es natürlich gelungen ist, jede Ermässigung des Zolles zu verhindern. Man rechnet das Geschenk, welches man auf diese Weise den Kartoffelschnapsbrennern macht, auf 41 Mill. Mk. Die sich auf der östlichen Seite der Elbe befindlichen Brennereien liefern allein 85 Prozent des ganzen Ertrages; dieselben befinden sich meistens in den Händen der Grossgrundbesitzer, und die Domänen, auf welchen es Brennereien giebt, stiegen um den vier- bis fünffachen Preis zwischen den Jahren 1820–60.

Die Bierbrauereien werfen eine Dividende von 15–20, ja selbst bis zu 55 Prozent ab.

Das Verbot der Einfuhr des amerikanischen Fleisches ist noch ein anderer Glücksfall für die grossen Landwirthe, während es gleichzeitig eine bedeutende Zunahme der Ausgaben der armen Konsumenten bedingt – dasselbe wurde kürzlich abgeschafft.

lm Grossen und Ganzen hat man die Steuern auf Konsumtionsartikel und die Zollgebühr, welche man dem Volke abnimmt, jährlich auf 600 Mill. Mk. geschätzt, wozu noch 144 Mill. Alkoholsteuer kommen. Hier haben wir sicherlich für die besitzende Klasse ein grosses jährliches Einkommen, welches aber nicht aus dem Mehrwerth entsteht; diesem müsste man die 341 Mill Zinsen hinzufügen, welche der Staat jährlich den Besitzern von Staatsschuldscheinen zahlt (ohne von den Kreis- und Gemeindeschulden zu sprechen), ferner die 60 Mill. der Zivil-Pensionen, die den Schifffahrtsgesellschaften genehmigten Subventionen, die Ausgaben der Kolonial-Politik, welche ebenfalls, wie Bismarck selbst zugestand, im ausschliesslichen Interesse der Kapitalisten gemacht werden, weiter die 7–8 Mill. Thaler, welche durch das Vorrecht der Ausgabe von Noten, die nur zu einem Drittel ihres Nominalwerthes gedeckt sind (zufolge des Oekonomisten Wirth), in die Bank oder in die Banken eingehen. Jedermann weiss, dass die Büdgets der Staaten allein jedes Jahr grösser werden; ebenfalls, dass die Spekulationen, der Börsenwucher, die Bankerotte und die Krisen an Zahl und Stärke zunehmen.

Um nicht zu lang zu werden, müssen wir darauf verzichten, noch mehr Details über die Handels- und politische Ausbeutung zu geben; aber wir können das Prinzip aufstellen, dass, je mehr sich die kapitalistische Ausbeutung im eigentlichen Sinne des Wortes einschränkt, desto grösser wird die Handels- und politische Ausbeutung, werden die Spekulationen, die Schwindeleien etc.; je mehr der Profit des Fabrikanten abnimmt, desto mehr nimmt er bei den Händlern, den Banquiers und Börsenjobbern zu.

Es ist albern, durch geringfügige Gesetze, welche die kapitalistische Ausbeutung regeln sollen, das Loos der Arbeiter verbessern zu wollen, während die herrschende Klasse die Leute auf tausenderlei Arten durch Vermittlung des Staates auspresst.

Wir brauchen uns nur der famosen Epoche von 1871–73 zu erinnern. Der Staat empfing 5 Milliarden von Frankreich, welche er in Spekulationen, Loskäufen, Lehen an die Staaten und Privatpersonen, Entschädigungen, Anlagen in schon bestehende Fonds und in neuen Gründungen verschwendet wurde. Dieses Geld – oder vielmehr der den deutschen Bankiers von den fremden Bankiers eröffnete Kredit – diente zur Gründung der kollossalsten Spekulationen, welche man je gesehen hat. Die Regierung hatte volle Freiheit in der Gründung von Aktiengesellschaften gewährt, was zur Folge hatte, dass man solche in allen nur denkbaren Arten gründete. Man verwandelte alle Unternehmungen, alle Geschäfte, alle Interessen – Güter, Industrieen, Magazine, selbst bis zu den Zeitungen und den Luftschlössern – in Aktiengesellschaften, um Aktien zu fabriziren und dieselben auf die Börse zu bringen, wo man sie mit ungeheuer hohen Preisen quotirte. Die Einbildungskraft, welche die Gründer entwickelten, streift an Genie. Um nur eine Branche dieser „Gründungen“ zu erwähnen, nehmen wir die Herstellung von Gebäuden; man wollte Jedermann – für den Miethpreis eines Jahres – mit einem Palaste versehen; man wollte Hotels, Strassen, Passagen, Städte-Viertel, Avenuen, ja sogar ganze Städte herstellen. Natürlich gründete man alles nur auf dem Papier, und die Summe Geldes, welche man von den Tröpfen für die Aktien bekam, war ungeheuer. Alles gründete Bankiers, Adelige, Beamte, Katholiken und Juden, Liberale und Konservative, Professoren und Studenten.

Dazu noch die grossartige Reklame der Zeitungen; man organisirte Bankette, denen die höchsten Autoritäten beiwohnten; der Kaiser, der Kronprinz empfingen die Gründer bei sich und wohnten den Einweihungen bei oder legten Grundsteine.

Man müsste ferner noch von den Eisenbahnkonzessionen, dem Stroussberg-, Wagner-Oder-Schuster-System und noch manchen anderen „Systemen“ sprechen, aber dies würde uns zu weit führen.

Kurz, der Statistiker Engel (selbst ein Gründer, wenn auch nur in bescheidenem Maasse) schätzt den Kursverlust der Emissionen und Gründungen, welche in den Jahren 1870–73 stattfanden, auf 700 MM. Thaler; da aber höchstenfalls nur die Hälfte der zu damaliger Zeit ausgegebenen Aktien auf der Börse quotirt wurden, so muss der Totalverlust bedeutend grösser gewesen sein, so dass er wohl die Höhe der französischen Kriegsentschädigung überstiegen haben wird, ohne des durch Krisen, Prozesse und Versteigerungen erzeugten Unheils zu gedenken.

Das ist es, wie der Kapitalismus in Deutschland auftrat, wie er seinen Aufschwung nahm und es zeigt, wo er seine Munition bezog.

Vor dem Jahre 1871 gab es in Deutschland drei grosse Spekulationsepochen: Die Epoche der napoleonischen Kriege und der von den verschiedenen Staaten gemachten Anleihen, um den Bedürfnissen und den Entschädigungen dieser Kriege zu genügen; die Epoche der Entstehung der früheren Eisenbahnen und der damit zusammenhängenden Spekulationen (1840–44); die Epoche der Gründung der Kreditanstalten (1853 -57); am Ende einer jeden Spekulationsperiode trat eine Krisis ein.

Nach dem Jahre 1871 wurden die Spekulationen beständig der Börsenschwindel mit den fremden und nationalen Aktien, die Monopole und Spekulationen mit den Konsumtions-Gegenständen und anderen Handelsartikeln, die Zunahme der Staats- und Städteschulden und die Konversionsschwindel, der Ankauf der Eisenbahnen durch den Staat, nachdem der Preis um 35 Proz. künstlich erhöht wurde; die Lotterien und die finanziellen Krisen haben die Einkünfte der Kapitalisten vermehrt.

Noch einmal: Das Falsche der marxistischen Theorie liegt darin, dass Marx immer von Arbeitszeit und den Löhnen spricht, als ob die kapitalistische Klasse keine anderen Mittel hätte, sich zu bereichern; und das Falsche der Sozialdemokratie ist, dass dieselbe diesen Theorien gemäss handelt und für lächerliche Reformen eintritt, welche die Arbeitszeit und die Fabrikzustände betreffen. Würde man auch das jetzige Produktionssystem abschaffen, selbst den industriellen Unternehmer fortschicken und die Produktion auf der Basis der Genossenschaften unter den Arbeitern organisiren, die Arbeiter würden nicht weniger von den Besitzern der Arbeitsinstrumente und vom Staate abhängig sein, um produziren und leben zu können, und sie müssten sich von den Einen und den Anderen, wie heute von den Fabrikbesitzern, ausbeuten lassen, bis das private Eigenthurn und das ganze kommerzielle und politische System von heute abgeschafft ist.

IV. Natur und wirthschaftliche Bedeutung des Staates.

Alle in diesem Jahrhundert seit Beginn der Agrar-Gesetzgebung und des Zollvereines bis zur Gründung des Reiches eingeführten Reformen – die Revolution von 1848 nicht ausgeschlossen – haben nur einer Klasse Nutzen gebracht, nämlich derjenigen, welche schon alle Macht und Reichthümer besessen. Im ausschliesslichen Interesse der höheren Klasse hatte man die Form des Eigenthums verändert, die der Gewerbefreiheit im Wege stehenden Hindernisse beseitigt, die Konstitution zu wiederholten Malen revidirt, die inländischen Zölle aufgehoben und das Gebiet des Staates erweitert.

Und heute noch sind alle Organe des Staates – das Parlament, die Regierung, die Gerichte, die Steuereinnehmer etc. – zum Nutzen der besitzenden Klasse thätig; das Wenige, was man in Bezug auf die soziale Gesetzgebung versuchte, wie die obligatorischen Arbeiter-Versicherungsgesetze, hatte nur den einen Zweck: Die Herrschaft der besitzenden Klasse über das Proletariat zu befestigen, wie ehemals die Armengesetze in England; und wenn man die Arbeitszeit in den verschiedenen Industriezweigen, sowie die respektive Höhe des Lohnes durch Gesetze regeln wollte, so wäre der Zweck vollständig erreicht: Der Arbeiter würde wieder der Sklave sein, der er in den vergangenen Jahrhunderten gewesen.

* * *

Um über die gesetzlichen „Reformen“, welche man uns verspricht, zu urtheilen, brauchen wir nur die Wirkung derjenigen zu betrachten, welche man uns schon gewährt hat. In den Gesetzen von 1811, 1816 und 1850 wurde Sorge getragen, dem Adel, da man ihm die industrielle Laufbahn eröffnet hatte, auch die nöthigen Mittel dazu zu liefern. Der Dritttheil oder die Hälfte des Bodens, auf welchen die Bauern unbestreitbare Anrechte hatten, die Gesammtheit des Bodens, welcher nicht in dem Kataster eingetragen oder dessen Bebauer gestorben, fiel den Feudalherren anheim. Die Bauern, welche sich von ihren Renten und Leistungen befreien wollten, mussten den Betrag 25fach bezahlen. Der Adel empfing 1,533,050 Morgen Land, 18,544,766 Thaler Kapitalien, 1,599,992 Thaler jährliche Rente und an Naturprodukten 249,436 Scheffel Roggen, 10,633 Scheffel Hafer, Weizen und Gerste. Das Resultat der Gesetze von 1811 und 1816 war die Beseitigung der Rechte der Zeitpächter, während die Frohndienste, zu welchem die Erbpächter verpflichtet waren, aufrecht erhalten blieben. Das Gesetz von 1550 hatte noch 26 Feudalrechte abzuschaffen. Die Abschaffung der Zehnten nützte nur den Grossgrundbesitzern, welche GetreidehaadelIrrlehren und trieben, während die Bauern die zur Erhaltung der Kirche nöthigen Steuern bezahlten. In Breslau empfingen die Eigenthümer deshalb ein Geschenk von 36,000 Gulden. Der Ankauf der Renten durch den Staat gab Anlass zur Hypothekenschuld und zu den Spekulationen mit den Staatsschuldscheinen.

Es ist interessant, den Ausgangspunkt der Agrar Gesetzgebung kennen zu lernen, welcher folgendermaassen in dem Erlass von 1811 lautete: Lasset dem Bauer genügend zum Leben und um seine Steuern zu bezahlen, während man das Uebrige dem Herrn zuertheilt.

Späterhin kauften die Grossgrundbesitzer den Boden, welchen die Bauern erworben hatten, wieder an. Hier einige diesbezügliche Zahlen:

In der Provinz Posen wurden in den Jahren 1823–1880 nicht weniger als 8816 Bauerngüter vernichtet, oder 18,34 Prozent des landwirthschaftlichen Eigenthums, das übrige Land betrug 162,000 Morgen weniger als in, Jahre 1823. In Schlesien gingen in den Jahren 1859–1880 ebenfalls 4921 Bauerngüter mit einer Gesammtfläche von 196,000 Hektaren für die „spannfähigen“ 11 Bauern verloren.

In 16 Bezirken Brandenburgs haben die Bauerngüter von 5–70 Morgen in den Jahren 1851–1881 um 1023 abgenommen. In dem Grossherzogthum Sachsen-Weimar hat das Eigenthum der Bauern seit 1864 um 13 Prozent abgenommen. In Pommern haben die Eigenthümer in den Jahren 1811–1823 12,000 Bauerngüter gekauft; sie besassen in den letztgenannten Jahren zwei Drittel des Bodens.

Endlich wurden noch die Lehen, Dank einer speziellen Gesetzgebung, in Fideikommissgüter umgewandelt. Die Zahl der Fideikommisse hat in letzter Zeit in Folge dieser Gesetzgebung in Preussen erheblich zugenommen. Von der ertragsfähigen Fläche sind 23 Prozent dem freien Verkehr entzogen und befinden sich in der einen oder anderen Weise in festem Besitz, Von 547 Fideikommissen bestanden nur 153 vor diesem Jahrhundert, 72 wurden zwischen den Jahren 1800–1850, 40 zwischen 1850–1860, 63 zwischen 1861–1870, 84 zwischen 1871–1880 und 135 zwischen 1881–1888 gegründet. Für Fideikommissbildung war eine Stempelgebühr von 3 Prozent des gewöhnlichen Werthes erforderlich (Lucius von Bullhausen, Bismarck u. A. entzogen sich der Zahlung), für die Umwandlung der Lehen war eine Ermässigung der Steuer auf 1 Prozent eingetreten.

Das Gegenstück zu der Agrar-Gesetzgebung war die Gewerbefreiheit, die Auflösung der Zünfte und die Abschaffung der mit Besitz von unbeweglichen Gütern verbundenen industriellen Privilegien, dessen Werth für Baiern auf 40 bis 100 Millionen Gulden geschätzt wurde. Man hat mit Gewerbefreiheit angefangen, um mit dem Schutzzollsystem und der Herrschaft der Kartelle zu enden. – Dies ist noch eine von den Sozialdemokraten vernachlässigte Thatsache.

Die Kartelle, welche durch das Schutzzollsystem, durch den Grossgrundbesitz, selbst durch die Arbeitsgesetzgebung (das Gesetz der obligatorischen Arbeiterversicherung hat die Arbeitgeber vereinigt) begünstigt werden, haben in letzter Zeit einen bedeutenden Aufschwung genommen. Es giebt solche in allen Industriezweigen.

Die Zahl der bekannten Kartelle belief sich im Jahre 1887 auf 70 und stieg im Jahre 1890 auf 119 Ihre Zwecke bestehen darin, die Produktion zu regeln, den Preis festzustellen und sich des Marktes zu bemächtigen. Eine ganze Sammlung von Bestimmungen, Strafen und Garantien wurde infolgedessen erfunden. Die Kartelle theilen sich nach den Landesgebieten; es giebt deren solche, die sich über mehrere Provinzen, über das ganze Reich ausdehnen, und einige reichen ihre Hände den fremden Monopolisten über die Grenzen. Der Staat begünstigt dieselben, er ist selbst als Grossindustrieller mit ihnen verbunden; die Gerichtshöfe haben deren Gesetzmässigkeit und Gültigkeit erklärt. Ihre Folgen geben sich durch Erhöhung der Waarenpreise und Erniedrigung der Löhne kund. Letzten Winter haben sich die Kohlenbergwerkbesitzer geeinigt, den schon sehr hohen Preis der Kohlen noch zu erhöhen; sie erfanden Vorwände, um die Sendungen an die inländischen Käufer zu verschieben, während sie in derselben Zeit Kohlen zu niedrigen Preisen exportirten. Man schritt zu einer Untersuchung! Im Monat April 1890 verpflichtete die Fabrikantenverbindung ihre Mitglieder, alle Arbeiter, welche sich am 1. Mai von der Arbeit entfernten, für 6 Wochen auszusperren, und sie nur unter der Bedingung einer Lohnerniederung wieder anzunehmen.

An diesem Punkte ist unter dem heutigen ökonomischen und politischen Regime die ökonomische Macht der besitzenden Klasse angelangt. Es verhält sich nicht anders mit ihrer politischen Macht. Alles was man hierin gethan hat, ist nur ein Namenswechsel. Die nach dem Jahre 1848 veröffentlichten Verfassungs- und Wahlgesetze haben einfach an Stelle des Rittergutsbesitzes den Grossgrundbesitz in die gesetzgebenden und administrativen Körperschaften eingesetzt. Der dem Eigenthum in der politischen Vertretung anerkannte Antheil wurde noch durch das Stimmrecht im Verhältniss zur Höhe der zu zahlenden Abgaben vermehrt. Die zum Erbgut gehörende Gerichtsbarkeit wurde abgeschafft, aber die Grossgrundbesitzer üben als Mitglieder der Administration eine weitgehende Kontrolle über die Gemeindeangelegenheiten aus; die Landräthe gehören ihrer Klasse an, und alle wichtigen Institutionen – wie Schule, Kirche und öffentliche Wohlthätigkeit – hängen von ihnen ab. In den Handelestädten sind es die Handelearistokratie und Bourgeoisie, welche unter den scheinbar liberalsten und demokratischsten Formen eine absolute Macht ausüben.

Der Zentral-Regierung gegenüber ist der Einfluss der Grossgrundbesitzer und Kapitalisten unwiderstehlich. In keinem andern Lande vertreten die politischen Parteien so direkt und unzweideutig die Interessen der herrschenden Klassen, wie in Deutschland; in keinem andern Lande haben sie so deutlich auf die Stirne geschrieben, was sie sind und was sie wollen. In Deutschland besteht keine professionelle Klasse von Politikern wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, aber Gutsbesitzer, Grossindustrielle, Geistlichkeit, Beamte etc. haben sich als politische Parteien organisirt, die sich gegenüber stehen, die aber dem Volke gegenüber vereinigt sind. Die Kunst und das Geheimniss der Regierung besteht in der unter Diskretion stattfindenden Vertheilung von Begünstigungen an die Einen und die Andern, um so der Reihenfolge nach die Begierden der Grundbesitzer und der Industriellen, der Katholiken und der Protestanten zu befriedigen.

Was kann man von einer solchen Organisation verlangen? Wie könne sie die Interessen der Arbeiter jemals befördern?

Es ist unnöthig, Vertreter nach dem Reichstag zu senden. Derselbe besitzt keine wirkliche Macht gegenüber der Regierung. Er kann nicht einmal die Zahlung der Abgaben verhindern; man hat es sehr wohl in den vier Jahren, welche dem Jahre 1866 vorangingen, konstatirt. Der Reichstag, sagt John Lemoine, sieht einem gewissen Spielzeug sehr ähnlich, das man den Kindern giebt: es brummt, aber es dreht sich.

Ueberzeugen wir uns von dieser grossen Wahrheit. Bei allen Regierungsformen wohnt die Macht nicht in den gesetzgebenden Körperschaften; diese sind nur Paraden, Komödienspiele. Die Macht ist in der vollziehenden Gewalt, in dem Ministerium, in dem Beamtenthum, in der besitzenden Klasse, welche ihre Emissäre und Werkzeuge in allen öffentlichen Administrationen hat.

Ebenso unnöthig ist es noch einmal „Freiheiten“ zu verlangen. Die Konstitution und die Gesetze haben deren mehrere proklamirt; die Polizei und die Gerichtshöfe übernahmen es, das Volk daran zu verhindern, dieselben in einer Weise benützen zu können, welche seinen Herren missfällig wäre. Die verlangte direkte Regierung ist in der Theorie schon im Lande in Geltung. Es giebt Gegenden wo der Landversammlung alle Einwohner beiwohnen. Aber diese Leute sind arm und haben nichts zu verwalten. Um sie herum und über sie verfügen die Besitzenden und die Beamten über Alles: die bewaffnete Macht, die Gerichte, die Einführung von Steuern, die Schulen, Kirchen, die öffentliche Wohlthätigkeit etc.; den „freien“ Bürgern ist nur die materielle Arbeit der Verwaltung überlassen.

Man miisste mit der Abschaffung des Eigenthums besonders des grossen Besitzthums beginnen.

Man müsste ferner das Beamtenthum abschaffen, welches in Deutschland eine unmittelbar von der Regierung abhängige disziplinirte Klasse bildet, und nur den Instruktionen des Ministers Gehorsam leistet. Wenn man aber in das System von gewählten und unentgeltlichen Angestellten verfallen würde, wem anders könnten alle die öffentlichen Aemter zufallen, als der reichen und müssigen Bourgeoisie?

Man müsste ebenfalls noch die so kostspieligen und unnützen Parlamente der verschiedenen Staaten, die verschiedenen kleinen Regierungen und Höfe, den Reichstag und seinen ganzen Apparat, der nicht funktionirt aber viel verzehrt, abschaffen.

Marx hat in der That verausgesehen, dass der Staat eines Tages untergehen müsse, aber er hat die Abschaffung auf den Morgen verschoben, welcher der Abschaffung des Kapitalismus folgt, gerade wie die Pfaffen das Paradies dem Tode folgen lassen; er hat nicht eingesehen, dass man den Staat abschaffen muss, wenn man wirklich den Kapitalismus beseitigen will.

V. Die sozialistisch-anarchistischen Prinzipien.

Man sieht aus dem Vorhergegangenen, wie wichtig und begründet die Verschiedenheiten zwischen den Sozialdemokraten und Anarchisten sind.

Die Sozialdemokraten haben dem Kapitalismus und dem Arbeitsvertrage alle andern Fragen untergeordnet. Wir legen dem Handelssysteme, der Regierung und der Familie etc. eine gleiche Wichtigkeit bei. Diese Einrichtungen müssen zugleich mit dem Kapitalismus bekämpft werden, ein besonders grosser Feind ist das Regierungssystem, denn es ist nicht nur die Stütze des Kapitalismus, sondern auch eine direkte Ursache des Elendes der Arbeiter. In Folge dessen kennen wir keine besonderen Klassenfragen. Wir verlangen von allen Menschen, sei es in einem moralischen oder materiellen Interesse, an dem Umsturz der jetzigen Gesellschaft mitzuhelfen. Indem wir die Ausbeutung von Seite der Regierung bekämpfen, bekämpfen wir dieselbe nicht nur in der Gegenwart, sondern für immer. Wir sind Gegner jeder Diktatur, jedes neuen Staates, oder jeder neuen Macht, da wir überzeugt sind, dass dieser Staat oder diese Macht nur durch Unterdrückung und Ausbeutung der Masse bestehen kann. Der „Zukunfts-Staat“ würde um so despotischer sein, da er über alle Arbeitsinstrumente verfügen könnte, und eine unzählige Armee von Beamten zur Ausführung seiner Anordnungen haben müsste.

Wir glauben nicht an die Möglichkeit, in der zukünftigen Gesellschaft jedem Arbeiter den genauen Ertrag seiner Arbeit geben zu können. Selbst wenn es möglich wäre, den genauen Antheil eines jeden Arbeiters bei einer Kollektivproduktion zu bestimmen und die verschiedenen Arbeiten abzuschätzen, so wäre es doch nicht gerecht, die Konsumtion des Individuums abzumessen, so dass jeder Einzelne nur im Verhältniss zu seiner Arbeit geniessen könne, und zu einem Menschen, welcher hungrig ist, aber nicht gearbeitet hat, zu sagen: Du bekommst nichts zu essen, und umgekehrt zu einem Menschen, welcher gearbeitet hat, aber nicht hungrig ist: Du musst trotzdem essen.

Wir glauben, dass in der zukünftigen Gesellschaft die erste Aufgabe der associrten Arbeiter die Beschaffung der nothwendigsten Lebensmittel sein wird, um sich volle Unabhängigkeit zu sichern; was die übrigen Angelegenheiten, wie den Gebrauch von Arbeitswerkzeugen, die Arbeitseintheilung, die Konsumtionsweise und alle andern Bedürfnisse eines gemeinsamen Zusammenlebens anbetrifft, so werden dieselben durch gegenseitiges Uebereinkommen, freie Vereinbarungen, welche in jeder Gruppe und zwischen den Gruppen stattfinden, geregelt werden.

Wir sind entschiedene Gegner der Arbeitergesetzgebung, nicht weil wir das Loos des Arbeiters nicht verbessert sehen möchten, wenn dies möglich, sondern weil wir es für unmöglich halten, dass unter dem jetzigen Regime eine allgemeine Verbesserung der Lage der Arbeitermassen durch Gesetze erreicht werden kann; und was die Verbesserungen anbetrifft, welche eine Minorität der Arbeiterklasse auf Kosten der Gesammtheit erlangen kann, so sehen wir darin nur eine Ursache zur Zwietracht und ein Hinderniss der Emanzipation der Menschheit.

Wir sind Gegner des Parlamentarismus und der Wahlen, nicht allein, weil wir nichts von den Parlamenten und den Regierungen erwarten, sondern auch, weil wir in der Betheiligung an den Wahlen die Keime der Uneinigkeit und der Korruption, und die Vorbereitung einer zukünftigen Regierung oder Diktatur erblicken.

Wir glauben nicht an eine geschichtliche Fatalität; der Mensch ist eine der Naturkräfte und eine handelnde Person in der Geschichte, und folglich ist er bis zu einer gewissen Grenze Herr seiner eigenen Bestimmungen.

Es genügt nicht, den Menschen zu sagen, dieses oder jenes Ereigniss müsse eintreffen, die Wissenschaft verlange es so, es gehöre zur Evolution. Eine solche Lehre könnte höchstens den Widerstand abstumpfen, aber niemals Handlungen hervorrufen; sie würde unsere Kräfte schwächen, aber niemals Enthusiasmus erwecken, sie würde uns „Philosophen“ geben, aber die Masse indifferent lassen.

Deshalb bekämpfen wir die Lehren, welche Marx der deutschen Sozialdemokratie vermachte, und welche diese den sogenannten Sozialisten- und Arbeiterparteien der ganzen Welt einimpfte.

Es ist Zeit, diesen Lehren zu entsagen. – Es ist Zeit, uns von gewissen Dogmen, welche man uns gelehrt, zu befreien, und in uns gerechte und gründliche Ueberzeugungen zu entwickeln.

Die deutschen Sozialdemokraten sollten die Avantgarde der Bewegung zur Reform des Sozialismus sein, nicht nur weil die Sozialdemokratie in Deutschland geboren wurde, und sich von da über die ganze Welt verbreitete, sondern hauptsächlich, weil Deutschland berufen ist, eine grosse Rolle in der Geschichte der Gegenwart zu spielen. Deutschland, welches den Feudalismus noch zu zerstören hat, welches noch einen ungeheueren Zentralismus zerstückeln muss, Deutschland, mit seinem Hand- und Kopfarbeit vollbringenden Proletariate, welches in sich selbst genügend Elemente besitzt, nicht nur die Bourgeoisgesellschaft zu zerstören, sondern auch eine wahre, freie, sozialistische oder anarchistische Gesellschaft zu gründen, ist das Land, wo die soziale Revolution am tiefgehendsten, am mächtigsten und am vollständigsten sein wird.

Wir bezweifeln nicht im Geringsten, dass das deutsche Proletariat auf der Höhe seiner Bestimmung sein wird.

Randglossen zum Erfurter Programm.

1. Theoretischer Theil.

Man glaubte, das in Erfurt angenommene Programm werde von dem ursprünglichen Entwurf sich nur durch einige unbedeutende Aenderungen unterscheiden, aber das war ein Irrthum. Die Milderungen des theoretischen Theiles sind von der grössten Wichtigkeit, sie offenbaren das Bestreben der Parteileitung, die Schmach, womit sie ihren Rücktritt vom revolutionären Standpunkt nahm, zu rechtfertigen und ihre Prinzipien an ihre Taktik anzupassen.

Wir geben hier die veränderten Hauptpunkte des betreffenden theoretischen Theiles des Entwurfes und die Leser können sich selbst von der Tragweite überzeugen.

1. Man hatte in dem Entwurf anerkannt:

Die ökonomische Unterwerfung der Arbeiter unter die Besitzer der Arbeitsmittel ist die Grundlage der Knechtschaft in jeder Gestalt, besonders in der Gestalt der politischen Abhängigkeit.

In dem angenommenen Texte hat man nun selbstverständlich diese Erklärung unterdrückt, man musste die erschreckende Wahrheit, dass die Noth die Knechtschaft nach sich zieht, dann, dass der Arbeiter durch seine ökonomische Stellung zur politischen Abhängigkeit verurtheilt ist, sorgfältig verschweigen.

2. Im Entwurf hatte man den groben „Verstoss“ begangen, schlechthin zu erklären, dass „das Ziel und die Aufgabe der Sozialdemokratie die Beseitigung der Ursachen gegenwärtiger Ungerechtigkeiten und Unruhen sei“. Das ganze Programm heult gegen diese Lüge. Das Hervorheben von der „Beseitigung der Ursachen“ besteht da in einem erbärmlichen Plunder von Palliativen.

Desgleichen vermisst man in dem in Frage stehenden Paragraphen folgenden sehr bescheidenen Satz:

Diesen Kampf der Arbeiterklasse (gegen die kapitalistische Ausbeutung) zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnothwendiges Ziel zu weisen, das ist das Ziel der sozialdemokratischen Partei.

Um eine Bewegung zu einer bewussten zu machen, sind Zeitungen, Broschüren etc. genügend, man braucht dazu keine parlamentarische Partei. Und was die Einheit der Bewegung (was hier Zentralismus heisst) anbetrifft, so ist das ein Uebel; man könnte, um die Bewegung einheitlich zu machen, dieselbe ersticken.

Die wahre Aufgabe der Partei (wenn man die Offenheit. Gehabt hätte, es zu sagen) ist, die Bewegung auszunutzen, um einige ehrsüchtige (1ecken ins Parlament zu bringen, nachdem man die Partei von ihrem naturnothwendigen Ziele abgelenkt hat.

3. Bemerken wir, dass in keinem Theile des Programms offen eingestanden wurde, dass die Wirksamkeit der Partei sich in den Wahlen konzentrirt. Der einzige Paragraph, welcher anspielend diese Frage berührt, heisst:

Der Kampf der Arbeiterklasse geben die kapitalistische Ausbeutung ist nethwendigerweise ein politischer Kampf.

Selbstverständlich meint hier „politischer Kampf“ nicht „Revolution“. – Man weiss ja, dass die Sozialdemokraten mit rednerischen Figuren sprechen. – „Politischer“ heisst hier Wählen und der Kampf ist ein Streit mit Papierwischen.

Der ganze Satz ist ein Wortspiel, wie das der französischen ‚Marxisten, welche sagten, sie wollten Haubitzen und Granaten in die Kammer und den Stadtrath schicken; statt dessen schickten sie aber Leute dahin, die nicht mehr Effekt machten, wie Knallerbsen.

Der betreffende Paragraph sagt weiter:

Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln, ohne politische Rechte.

Unter diesen politischen Rechten, welche die Organisation und den ökonomischen Kampf befördern sollen, können nur das Vereins- und Versammlungsrecht gemeint sein. Nun giebt es aber Länder, wie z. B. England und die Vereinigten Staaten Amerikas, wo diese Rechte theoretisch unbeschränkt sind praktisch sehr ausgedehnt sind und doch hat der Arbeiter daselbst sich nicht von den Fesseln befreit. Die Trades Unions feierten ihre grössten Siege in der Zeit, wo das Recht der Koalition für die Arbeiter noch nicht existirte.

Die amerikanischen Arbeiter haben das Recht, sich zu vereinigen; die amerikanischen Kapitalisten aber haben dafür ihre Pinkerton-Polizei.

Die Arbeiter, um sich des Druckes zu entledigen, bedürfen einer ganz anderen Wehr, als die politischen Rechte, sie brauchen Selbstvertrauen und Muth.

Der Paragraph endet wie folgt:

Sie (die Arbeiterklasse) kann den Uebergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesammtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.

Dieser letzte Absatz ist ein Meisterstück der Hinterlist ! Spricht man hier von der „berühmten“ Diktatur des Proletariats oder will man der Arbeiterklasse damit vorschwindeln, dass sie durch die blosse Vermehrung ihrer Vertreter im Reichstag in den Besitz der politischen Macht gelangen kann ?

Jedenfalls ist es nicht das Parlament, welches die Arbeiter verhindert, von den Arbeitsmitteln Besitz zu ergreifen, das ist eher die Regierung, das Militär und die ökonomische Macht der herrschenden Klasse. Ebenso ist es nicht das Parlament, welches die soziale Frage lösen wird; auch nicht die Regierung, der Kaiser oder irgend eine Partei. Um die soziale Frage zu lösen, muss man mit dem Parlament, der Regierung und den Parteien aufräumen.

4. Eine andere sehr wichtige Auslassung des ersten Entwurfs enthielt folgender Paragraph:

Die sozialdemokratische Partei hat nichts gemein mit dem sogenannten Staatssozialismus, dem System der Verstaatlichung zu fiskalischen Zwecken(?), das den Staat an die Stelle des Privatunternehmers setzt und damit die Macht der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung des Arbeiters in einer Hand vereinigt.

Nichts gemein mit dem Staatssozialismus ? Zum Teufel ! Man will, dass der Staat, welcher in Preussen schon der grösste Arbeitgeber und fast der einzige Eisenbahnbesitzer ist, auch noch der Universallehrer, der einzige Arbeitsaufseher und der einzige Versicherungs-Unternehmer werde, und dann getraute man sich noch zu sagen, man hätte mit dem Staatssozialismus nichts gemein ? Das ist zu viel.

Man hatte ganz naiv die Gefahr eingestanden, welche „die flacht der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung des Arbeiters in einer Hand vereinigt“ in sich birgt; dieselbe Gefahr entsteht aber durch die Arbeitsgesetzgebung. Der zukünftige Staat ist nichts anderes als die Vereinigung der Macht der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung des Arbeiters in einer Hand.

Es ist aber den Sozialdemokraten strenge verboten, von einem Zukunftsstaate zu sprechen. Zwar sagt das Programm, dass eines Tages das kapitalistische Privateigenthum an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigenthum verwandelt und die Waarenproduktion in sozialistische für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion umgewandelt wird. Es erklärt jedoch nicht, ob man Alles unter eine Zentralmacht zu stellen geneigt ist, oder ob die freien Arbeitergruppen nach Gutdünken die Arbeitsmittel benützen können.

Die Sozialdemokraten wollen nicht, dass man sich mit der Zukunft beschäftigt, sogar nicht mit der uns zunächst liegenden. Die Arbeiterklasse hat aber vor Altem nichts, als nur die Zukunft und deshalb das Recht, zu wissen, wohin man sie zu führen beabsichtigt; und das umsomehr, da, solange die Arbeiter selbst nicht annähernd wissen, was sie an die Stelle der gegenwärtigen Gesellschaft setzen werden, ihnen der Muth fehlt, etwas gegen diese Gesellschaft zu unternehmen.

Der Widerwille der Führer, sich über die Zukunft auszusprechen, giebt zu dem Gedanken Anlass, dass sie wünschen und hoffen, für Lebzeit auf der Abgeordnetenbank zu sitzen.

5. Alle Aenderungen des Programms, welche wir angedeutet haben, sind fast unbedeutend im Vergleich zu der Grundänderung der sozialistischen Theorie. Man vergleiche den ersten Entwurf mit dem unterschobenen Programme und man muss staunen, dass die Parteiführer ihre Theorien in einem so kurzen Zeitraum ändern konnten.

In dem ersten Entwurf war die Quintessenz das „Kapital“, das untergeschobene Programm ist der Ausdruck des kleinbürgerlichen Sozialismus. Daran bemerkt man die grosse Lust nach Stimmenfang unter dem Kleinbürgerthum.

Von Anfang bis zu Ende spricht das Programm von Kleinbetrieb, Handwerker, Kleinbürger, versinkenden Mittelschichten im Gegensatz zum Grossbetrieb und dem Grossgrundbesitz. Man glaubt, sich im Frankfurter Parlament von 1848 zu befinden.

Schulze-Delizsch würde auch nicht anders gesprochen haben, wie diese Sozialdemokraten.

Die ersten Worte des Programms sind:

Die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnothwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigenthum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet.

Was? Vor der ökonomischen Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. vor 1871 oder vor 1848, waren da die Produktionsmittel das Privateigenthum des Arbeiters ?

Ja, das Programm sagt, dass:

Das Privateigenthum an Produktionsmitteln … ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigenthum an seinem Produkt zu sichern.

Nach dem gäbe es. nichts besseres zu thun, als wieder zu dem alten ökonomischen System mit den Zünften zurückzukehren.

Dennoch scheint es, dass selbst vor der ökonomischen Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft es Grundeigenthümer gab, welche nicht arbeiteten, ja selbst Grossgrundbesitzer. Wenn nun das Kapital nicht dieser Klasse zugeeignet war, so kam es daher, weil es noch kein Betriebskapital gab.

Gleichwohl gab es Geschäftsreichthümer, Monopole jeder Art und fürstliche Vermögen. Man kannte doch schon den Spekulationsgeist, die öffentliche Schuld (Staatsschuld) und den Protektionismus, den man das merkantile System nannte, also kaufmännische Gewinne; daher genug, das Volk arm und abhängig zu machen, ebenso und vielleicht nach schlimmer wie heute.

Aber das Programm (treu der marxistischen Lehre) befasst sich nur mit der industriellen Produktion, der „Monopolisirung der Produktionsmittel“, nicht mit der ebensowichtigen Monopolisirung der Transport- und Tauschmittel und selbst der Produkte.

Man spricht von industriellen Krisen. aber nicht von Spekulationen, vom Börsenspiel, von Trusts und Kartellen, auch nicht von allmächtigen kosmopolitischen Finanzen, was für ein Programm im Jahre 1891 geschrieben, doch ein wenig stark ist.

Im ersten Entwurf stützte man sich sehr auf die „Planlosigkeit“ des gegenwärtigen ökonomischen Systems, Bei voller Ueberlegung müsste man sich aber gesagt haben, dass es gerade der Planlosigkeit begegnen heisst, wenn die Kapitalisten nach Willkür die blasse der Produktion, den Preis der Waaren und die Arbeitslöhne bestimmen.

Mehr erstaunenswerth ist das Stillschweigen des Programms über die Protektion der Staatsschulden und die anderen Hilfsquellen des Staats, um die Arbeiter zu plündern und die Bourgeoisie zu bereichern. Erklärlich wird dies aber, wenn man bedenkt, dass man hätte eingestehen müssen, dass der Staat, ebensogut wie das Kapital, ein Ausbeutemittel der Arbeiter ist.

In Wirklichkeit greift der Staat jeden Augenblick in die Taschen des Arbeiters, um ihm einen Theil seines Verdienstes herauszunehmen, indem er die Lebensmittel vertheuert, um dann das Erpresste den herrschenden Klassen als Geschenk zu geben. Hier kommen weder die Stunden der Arbeit, noch die Ausbeutesucht der Kapitalisten in Betracht. Hier ist der Staat Steuer- und Zolleinnehmer, welcher den Verdienst des Arbeiters den Herrschern übergiebt. Das ist wirkliche Erpressung.

Der Staat behauptet, dass ohne dieses die Industrie und die Landwirthschaft (d. h. die Industriellen und die Grundbesitzer nicht leben können. Ist es denn aber überhaupt nöthig, dass sie leben !? Ist es nöthig, fortzuerzeugen, um Steuer und Zins zu bezahlen? Gewiss! Unter dem gegenwärtigen Regime ist das nöthig, aber um zo schlimmer für das Regime.

Es ist unmöglich, sich ein beschränkteres, dümmeres Urtheil über das System der gegenwärtigen Oekonomie und Politik zu bilden, wie es das Erfurter Programm enthält.

Man ist über die allgemeine Unsicherheit und die Thatsache, dass die Produktionskräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, in kindliche Klagen ausgebrochen und ähnliche Albernheiten mehr. Was aber die reellen Tendenzen der gegenwärtigen Oekonomie anbetrifft, so sind sie nicht im Programm gekennzeichnet.

Man hätte konstatiren sollen:

l. Dass, selbst wenn der Zustand einer Minderheit der Arbeiter sich in letzter Zeit verbesserte, die Lage der Masse oder Gesammtheit der gewöhnlichen Handarbeiter sich bestimmt verschlimmert hat.

2. Dass die Beschäftigung des Arbeiters von Tag zu Tag unsicherer und regelloser wird, derart, dass einige Lohnaufbesserungen etc. durch Arbeitslosigkeit, zu welcher er einen grossen Teil des Jahres gezwungen ist, wieder aufgehoben werden.

3. Dass der Kapitalist gerade das Bestreben und das Interesse hat, die Produktionsfähigkeit des Arbeiters zu vermehren, durch Einschränkung der Arbeitsstunden, Verbesserungen der Maschinen etc.

4. Dass die Fabrik noch bis vor Kurzem das höchste Maass der Ausbeutung war und die Hausindustrie unter günstigeren Bedingungen stand, heutzutage aber die regellose Ausbeutung der Hausarbeiter (die Engländer nennen es Sweating System) noch schlimmer ist, als das Ausbeutungsverfahren der Fabriken.

5. Dass der industrielle und landwirthschaftliche Erwerb sich zu vermindern geneigt ist, während die Gewinne des Handels, der Spekulation, des Monopols fast unabschätzbar ergiebiger werden.

Würden die Fabrikbesitzer ihren Profit ganz mit den Arbeitern theilen (was selbstverständlich nie geschehen wird), so würden letztere immer wieder dem Bankier und dem Handelswucher zum Opfer fallen.

6. Dass den Grundbesitzern und Kapitalisten ein grosser Theil ihres Einkommens durch den Staat zufällt.

7. Dass der Staat nur zu viel danach strebt, der grösste Arbeitgeber zu werden und die Arbeiter gesetzlich an die Knechtschaft zu befestigen und ihre Emanzipation zu verhindern begehrt.

Dies vorausgeschickt, gehen wir über zum

Praktischen Theil des Programms.

Alles, was wir bisher einer Besprechung unterzogen, ist nichts, als eine Rahmenverzierung. Das wirkliche Programm ist in den folgenden Paragraphen enthalten, die wir einen nach dem andern zergliedern wollen.

1. Allgemeines gleiches direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen, ohne Unterschied des Geschlechts, für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportional-Wahlsystem und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueintheilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vornahme der Wahlen.und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Verschränkung politischer Rechte ausser im Falle der Entmündigung.

Dieses Verzeichniss der Reformen des Wahlsystems, welches man in Deutschland verlangt, kann den Ländern zur Lehre dienen, in denen man anfängt, das allgemeine Wahlrecht anzubahnen.

Man sagt dem Volke zuerst, dass es das allgemeine Wahlrecht nothwendig hat. Dann findet man für gut, das Verzeichniss zu verbessern, die Art der Stimmen u. s. w. u. s. w. Dann verbessert man wieder und die Wahlmaschine wird so komplizirt (wie im Fall der proportionellen Stimmen), dass die Regierung, sowie die Wahl-Komites nach Belieben thun können, was sie wollen. Der höchste Grad des Unglücks wäre noch die Diäten.

Vor jeder Abstimmung hätte die Regierung eben nichts weiter zu thun, als mit der Auflösung der Kammer zu drohen, und man würde bald sehen, wie die Arbeiterabgeordneten sich daran gewöhnen, kläglich nach dem Willen des Ministers zu handeln.

Kleine heimliche Begünstigungen werden dann den Rest schon machen. Das ist durchaus keine Verläumdung, sondern blos die Schlussfolgerung aus der Logik des Systems.

2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk, vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts, Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilligung.

Alles das ist selbstverständlich unter dem kapitalistischen Regime zu bekommen. Der Arbeiter müsste in derselben Zeit in der Fabrik arbeiten oder in den Bergwerken, in die Universität gehen, um Finanzen oder Staatswissenschaft zu studiren, eine Menge von Vorstehern, Richtern, Verwaltern u. s. w. wählen, hingegen seine eigenen Angelegenheiten in der Gemeinde besorgen, in der Provinz wie im Staat und jährlich die Büdgets annehmen oder ablehnen. Das ist beinahe unglaublich. Hier kann man sehen, wie der arme gemarterte Arbeiter in den Händen der Politiker und Bedrücker zur lächerlichen Puppe herabgewürdigt wird. Um das „Vieh“ für die Auflage zu stimmen, macht man es an das nahe Bevorstehen eines Krieges glauben, wie jetzt mit der Börsen-Ente.

Wenn auch das Volk in seiner Ablehnung beharren würde, man würde einfach seine Zustimmung übersehen. Der Staat kann doch nicht aufhören zu existiren !

Nun bleibt die Verantwortlichkeit der Beamten. Die Sozialdemokraten haben selbst diesen Leichnam ausgegraben!

Uebrigens würde diesem Paragraph gemäss Alles an seinem Platze bleiben; das Reich, der Staat, die Provinzen, die Gemeinde; es wird eben nichts an der Natur der Regierung geändert. So lange es ein Reich giebt, wird das Reich die Selbstverwaltung des Volkes im Einzelstaat verhindern. So lange es einen Staat giebt, wird der Staat die Selbstverwaltung des Volkes in der Provinz verhindern. So lange es Provinzen giebt, wird die Provinz die Selbstverwaltung des Volkes in den Gemeinden verhindern.

3. Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere, Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.

in diesem Paragraphen kann man wenigstens den Herren Sozialdemokraten keine Einseitigkeit vorwerfen. Durch die Forderungen der allgemeinen Wehrpflicht und der Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung erkennen sie den Krieg an, während sie ihn durch die schiedsgerichtliche Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten verwerfen.

Und nun die weitere „Logik“ des Programms : Die Steuerbewilligung ist der Volksvertretung nicht anzuvertrauen, sondern das Volk selbst muss sich dafür hergeben; es kann über seine Börse verfügen, aber nicht über sein Leben ; denn das Recht über Krieg und Frieden zu entscheiden, steht nur dem Reichstag zu. Man kann sich denken, welchen Gebrauch ein unverantwortliches Parlament von diesem Vorrecht machen wird.

Wir wollen hier noch bemerken, dass Jahrhunderte vergehen müssten, bis ein grosser Theil der im Programm vorgesehenen Forderungen verwirklicht würde ; auf alle Fälle könnte in Deutschland das stehende Heer nicht ohne Revolution abgeschafft werden.

4. Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäusserung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.

Ueber diese Art Gesetze haben wir schon im ersten Theil gesprochen.

5. Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich rechtlicher und privatrechtlicher Beziehung dem Manne unterordnen.

Nachdem alle hier gemeinten Gesetze abgeschafft sind, wird die Frau doch immer noch nicht emanzipirt sein, weil sie durch die ökonomischen Verhältnisse und die eingebürgerten Sitten in Abhängigkeit gehalten wird.

6. Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.

In Amerika ist es ebenfalls so ; aber deswegen ist man dort um nichts vorgeschritten. Die Heilsarmee ist nicht eine von der Regierung unterstützte Sekte, aber doch bringt sie es fertig, das Volk zu verdummen.

7. Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen, sowie in den höheren Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die Kraft ihrer Fähigkeiten zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden.

Mit diesem Paragraphen beginnt die Reihe der Unentgeltlichkeiten, welche folgendermaassen fortsetzt:

8. Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes. Rechteprechung durch vom Volke gewählte Richter. Berufung in Strafsachen Entschädigung unschuldig Angeklagter, Verhafteter und Verurtheilter. Abschaflung der Todesstrafe.

Und endlich

9. Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfe (einschliesslich der Geburtshilfe) und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Todtenbestattung.

Es ist kaum nöthig zu erwähnen, dass alle diese Unentgeltlichkeiten dem Volke sehr theuer angerechnet werden. Wer wird den Hauptnutzen davon ziehen? Die Bourgeoisie wird durch den Gebrauch des Rechtshandels in grösserem Maasse Gewinne einziehen, wie heute ; und was die Aerzte und Heilmittel anbelangt, so werden sie, weil sie gratis sind, dem Preise entsprechen. Die Entschädigung der aus Irrthum Verurtheilten wird die Richter sicher nicht ermuthigen, die Unschuld derselben anzuerkennen.

Nun kommen wir zu dem sehr umfangreichen Paragraphen

10. Stufenweis steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspfiicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbguts und nach dem Grade der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und wirthschaftspolitischen Maassnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.

Welche Luftspiegelei vor den Augen der Arbeiter ! Als ob durch Verwandlung der indirekten Steuern in direkte die Steuerbürde von den Achseln der Arbeiter auf die Bourgeois, die Grundbesitzer und Kapitalisten übertragen würde. Kommt das, was diese für den Unterricht, für die Armenpflege und für freies Begräbniss der Armen zahlen, überhaupt aus ihrer Tasche ?

Es ist klar, dass die besitzenden Klassen, nachdem sie von der Ausbeutung der Arbeiter leben, diesen Bedrückten auch die Kosten der Steuern aufbürden. Sicher wird der Grund- und Hausbesitzer Pacht und Miethe, der Krämer den Preis der Waare erhöhen und der Arbeitgeber die Löhne herunterschrauben. Somit fällt die Staatsausgabe wieder auf den Arbeiter zurück.

Bis hierher sind die Reformen rein demokratisch, nun kommt die berühmte Arbeitsgesetzgebung.

11. Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst: eine wirksame nationale und internationale Gesetzgebung auf folgender Grundlage.

Es ist leicht zu sagen : „Eine wirksame nationale und internationale Gesetzgebung“; kann man sie aber auch erhalten ?

Welche Mittel stehen der deutschen Sozialdemokratie zur Verfügung, um den englischen Kapitalisten zu verpflichten, den normalen Arbeitstag für die indischen Kulis einzuführen ?

Wollte man die Einfuhr billigerer Industrieerzeugnisse und Getreide aus dem Auslande verbieten oder die Zölle wieder einführen, so würde man den deutschen Arbeiter zwingen, die nothwendigsten Lebensmittel theurer zu bezahlen, um die besitzende Klasse zu bereichern. Da giebt es kein Entrinnen. Entweder Schutz für Alle oder Schutz für Niemanden.

Verzichtet man nun auf die internationale Arbeitsgesetzgebung, dann muss man auch auf die nationale verzichten. Somit fällt der ganze Plunder einfach ins Wasser.

Zergliedern wir nun genauer die verlangten Gesetze:

a) Festsetzung eines höchstens acht Stunden betragenden Normal-Arbeitstages.

Also acht Stunden für alle Industriezweige, für alle Arbeiten ohne Ausnahme, für alle Breitegrade und alle Jahreszeiten, in den Fabriken und zu Hause. Ob der Arbeiter will oder nicht, ob er auf eigene Rechnung oder für Lohn arbeitet, ob er viel verdient oder so wenig, dass er kaum davon zu leben vermag.

Es ist wahr, man sagt „Normal“, aber man giebt keine Ausnahmen an, weil man weiss, dass sie zahlreich sein werden. Es ist auch nicht gesagt, ob Ueberzeit verboten sein soll, und doch wird durch Ueberzeitarbeiten die Einschränkung der Arbeitszeit überhaupt illusorisch. Ebenso erwähnte man auch nicht die Preise der nothwendigsten Dinge, nicht die Miethen, noch die Verfälschungen der Lebensmittel, noch das Grundproblem, d. i. dem Arbeiter die Arbeit zu sichern.

Nichts von alledem – und doch bildet man sich ein, das Loos der Arbeiter zu verbessern !

Der Achtstundentag kann nur in den Ländern und Betrieben angenommen werden, wo die Kapitalisten sich entschädigen können, sei es durch Einführung und Verbesserung von Maschinen oder durch Verbesserung der Erzeugnisse, durch verschiedene Manipulationen, welche ermöglichen, mehr Gewinn aus der achtstündigen Arbeit herauszuziehen, als heute aus der neun- oder zehnstündigen.

Würde das ein Vortheil für die Arbeiter sein ?

Haben wir Vortheile, wenn mehr Frauen zur Fabrikarbeit angewendet werden, und Krisen und Arbeitseinstellungen sich vermehren?

Nach der Achtstundenarbeit folgt:

b) Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren.

c) Verbot der Nachtarbeit, ausser für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach aus technischen Gründen oder der öffentlichen Wohlfahrt, Nachtarbeit erheischen.

d) Eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter.

e) Verbot des Trucksystems.

Da sehe man nun diese „Verbote“, welche doch blos auf dem Papiere bleiben, weil der Arbeiter selbst ein Interesse daran hat, dieselben zu verletzen. Er wird sich durch diese Verbote noch mehr Plackereien und Drangsalen aussetzen.

Bedenken wir nur, dass der Arbeiter der Sklave seines Elends ist.

Doch weiter

2. Ueberwachung aller gewerblichen Betriebe. Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch Reichsarbeitsamt, Bezirk-Arbeitsämter und Arbeitskammern. Durchgreifende gewerbliche Hygiene.

Ein Arbeitsminister hätte den Auftrag, alle Beziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern in allen Industriezweigen, in Städten und auf dem Land zu überwachen und zu regeln. Geht das nicht über die pharaonische Judensklaverei?

Das also sind die bescheidenen Wünsche der sozialdemokratischen Führer; das System, welches sie sich vorstellen. Die Macht, welche sie anstreben, ist einfach zum Erstaunen.

3. Rechtliche Gleichstellung der landwirthschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern. Beseitigung der Gesinde-Ordnungen.

Wieder so ein Humbug.

Kann man überhaupt die Gleichheit der Land und Industriearbeiter gesetzlich bestimmen ? Wenn erstere schon sich in vollkommener Abhängigkeit der Grundbesitzer befinden, so kann doch kein Gesetz sie emanzipiren. Man müsste die ökonomischen Bedingungen ändern, welche den Stand ihrer Unterjochung hervorbringen

4. Sicherstellung des Koalitionsrechtes.

Wir kennen schon den Gebrauch, welchen die Grundbesitzer, Kapitalisten und Monopolisten von ihrem Koalitionsrecht machen.

5. Uebernahme der gesammten Arbeiter-Versicherung durch das Reich, mit massgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Wieder ein riesenhaftes Unternehmen der Regierung. Durch gesetzliche Zusicherung wird der Arbeiter nach und nach der Sklave des Arbeitgebers und der Regierung. Die Arbeitsgesetzgebung dient hier nach allen Richtungen den Arbeiter zu umketten und zum Soldaten umzuformen, durch die Fäden der Vorschriften ihn zum Automaten zu machen und der Gewalt, der Kriegszucht und den Staatsaufsehern zu unterwerfen.

Dieses neue Programm ist die Frucht eines fünfzehnjährigen sozialistischen Rückschrittes, die Frucht des allgemeinen Wahlrechts der Arbeiterklasse gewährt, um sie zu täuschen, sie zu zersplittern und von der revolutionären Bahn abzulenken.

Nun wollen wir die grossen Luftsprünge der Führer in der militärischen Frage hinzufügen. Es ist ein dunkler Wortschwall in dem Paragraphen, „die Internationalität der Arbeiterbewegung“ betreffend.

Die sozialdemokratische Partei Deutschlands erklärt sich eins mit den klassenbewussten Arbeitern aller übrigen Länder.

Diese Zeilen enthalten einen Hintergedanken.

Sind die russischen Bauern klassenbewusst? Vielleicht nicht.

Vollmar predigte den Kreuzzug gegen Frankreich, Bebel und Liebknecht gegen Russland. Im Ganzen sind sie einig. Die deutschen Sozialdemokraten – Bebel an der Spitze – können unter dem Vorwande, nur mit den klassenbewussten Arbeitern aller Länder eins zu sein, gegen Russland marschiren und folglich auch in den Reihen der kaiserlichen Armee gegen Frankreich.

Die europäischen Arbeiter dürften sich dieses Mal im Namen des „internationalen Klassenbewusstseins“ zerfleischen und ihre Bestrebungen würden im Blute des nächsten Schlachtfeldes ertränkt.

Die Gefahr ist gross! Der sozialdemokratische Rückschritt droht das ganze Proletariat mit sich zu reissen, und nicht allein in Deutschland.

Sozialistische Arbeiter (nicht Sozialdemokraten) vereinigt Euch, aber frei, ohne Führer. Lasset keine Gelegenheit vorübergehen, um selbst ausserhalb der Organisation zu handeln. Nehmt als die einzige Grundlage eures Programms die Abschaffung der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung. Keine Palliative, keinen politischen Ehrgeiz, bleiben wir gleich. Keinen Krieg! Wir wollen Brüder aller Bedrückten und Feinde aller Bedrücker sein.

Schlusswort.

Wir haben im Vorhergehenden das Wort Anarchismus nur selten gebraucht, obschon wir anarchistische Prinzipien genügend dargelegt haben. Der Grund davon ist, dass wir nicht wollen um Worte streiten. Wäre mit dem Wort Sozialismus nicht allerhand Schwindel vereinbart worden, so hätten wir dasselbe wahrscheinlich beibehalten; denn Anarchismus bedeutet nichts anderes, als den gründlichen, konsequenten und durchgreifenden Sozialismus, d. h. politische und ökonomische Reorganisation der Gesellschaft.

Was Noth thut, ist eine Gesellschaftseinrichtung, worin die Menschen sich gegenseitig nützlich machen, ohne zur Ausbeutung und Unterdrückung zu greifen oder sich denselben zu unterwerfen.

Dieses bedingt die Beseitigung des Lohnsystems, der Klassen und Klassenherrschaft; aber, wohlgemerkt, nicht die Beseitigung für eine Zeit lang, sondern für immer.

Um das Lohnsystem, die Klassen und Regierungen für immer zu beseitigen, ist es nöthig, dass Jedermann, der zu arbeiten gewillt ist, die Benutzung der Arbeitsinstrumente gestattet werde, ohne Erpressungen, wie: Miethe, Profit, Zins und Steuern unterworfen zu sein. Jeder Mensch, der das Licht der Welt erblickt, muss theilnehmen können an dem Genuss der Reichthümer, welche seiner Generation übertragen wurden.

Wie kann dies bewerkstelligt werden? Wie das System so eingerichtet, dass dem Arbeiter immer und zu jeder Zeit die Arbeitsmittel zu Gebote stehen?

Die Sozialdemokraten sagen: Der Staat nehme Besitz von den Arbeitsmitteln und organisire die Arbeit in Staatswerkstätten, unter der Kontrolle von Staatsbeamten und mit einem Lohnabzug für die öffentlichen Ausgaben.

Hierzu sagen wir ganz nachdrücklich – Nein! Das würde die Herrschaft sein von Politikern und Büreaukraten, welche das Volk durch Bestimmungen, Anordnungen und Steuerauflage unter drücken. Und das muss verhütet werden; denn, würden wir erlauben, dass sich eine neue Klasse bildet, uns zu regieren und zu beherrschen, dann würden wir in eine Reaktion verfallen und für lange Zeit nicht wieder herauskommen.

Der kürzeste und, in der That, der einzige Weg zur Lösung der sozialen Frage ist der, dass die Arbeiter von allem Anfang der sozialen Revolution an Besitz ergreifen von allen Produktionsmitteln, sich in so viele Associationen zusammenthun als nöthig sein werden, diese Associationen mit den nothwendigen Werkzeugen versehen und jede derselben ihre Arbeiten selbst organisiren, überhaupt ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln lassen.

Keine kaiserliche oder republikanische Regierung, kein Parlament, wie es auch heissen mag, weder eine Zentral- noch Lokalverwaltung – freie Menschen vereinigen sich in freien Associationen, das ist der Grundstein des Anarchismus.

Viele werden sagen, dass die Menschen nicht friedlich miteinander auskommen werden. Wir Anarchisten sind überzeugt davon, dass sie es werden; denn sie müssen leben und daher produziren. Sie werden einsehen, dass sie durch Zusammenarbeiten mit weniger Arbeit mehr produziren können und folglich mehr freie Zeit und Genüsse haben, wie durch vereinzeltes Arbeiten. – Ihre gemeinsamen Interessen werden sie vereinigen; es wird kein Zwang nöthig sein, keine Richter, Polizisten etc.

Jedoch, würde jede Association ausschliesslich ihre eigenen Interessen im Auge haben und das absolute Eigenthumsrecht von den Werkzeugen in ihrem Besitz beanspruchen, sowie unbeschränkten Gebrauch von ihren erzeugten Produkten, so würden sie zu kapitalistischen Kompagnien ausarten und neue Ungleichheiten würden in der Gesellschaft hervortreten. Aber das werden sie nicht thun können, weil jede Association nur einen oder wenige Artikel produziren und viele andere benöthigen wird. Darum müssen sie miteinander in Verbindung treten, das heisst, Vereinbarungen treffen, um sich gegenseitig zu helfen und die Gleichheit in des Gesellschaft zu bewahren. Welcher Art diese Vereinbarungen sein werden, das können wir nicht vorhersagen, besonders da dieselben je nach Gegenden und Gegenständen verschieden sein müssen.

Wahrscheinlich ist, dass die Associationen einen Teil ihres Produkte nach einem gerechten Plane austauschen, andere in Gemeinschaft gebrauchen und wieder andere nach den Bedürfnissen jedes Einzelnen vertheilen, oder zu einem ähnlichen Einverständniss betreffs der Produkte gelangen werden, während sie in derselben Zeit dafür sorgen, dass in keiner Association weder Mangel noch Ueberfluss an Arbeitsinstrumenten eintrete und die Gründung neuer Associationen nicht verhindert werde. Gegen etwaige Eingriffe in ihre Freiheit, von Seiten reaktionärer Bourgeois oder anderen Müssiggängern, werden sich die Associationen schon zu vertheidigen wissen.

Man wird sehen, dass wir keinen vorgeschriebenen Plan vorschlagen, nach welchem die Volksmasse automatisch zu arbeiten hätte, wie sie von Zentral-Drathziehern in Bewegung gesetzt wird. Wir wollen, dass das Volk selbst denke und selbst handle. Wir wollen, dass alle Arbeiter die Unterschiede und Ungleichheiten ihrer Lage abstreifen. Wir wollen keinen vierten oder fünften Stand. – Der thatsächlich Arbeitslose, der gewöhnliche Handarbeiter und die arme ausgebeutete Frau, müssen sich zu derselben Stellung erheben, wie irgend einer ihrer Mitmenschen. Sie alle müssen sich zum Kampf vereinigen und alle die Früchte des Sieger ernten.

[1] Der Grossgrundbesitz der sieben östlichen Provinzen Preusens umfasst 42 Prozent des kultivirbaren Landes – in Mecklenburg-Schwerin 59,9 Proz. – in Mecklenburg-Strelitz 61 Proz. Der Durchschnitt für ganz Deutschland ist 24,4 Proz.

[2] Man gedenke nur der von den Gemeinden gemachten Schulden, um Unterrehmungen zu befördern, deren Hauptziel und Resultat gewesen ist, den Werth des Eigenthums zu erhöhen.