Titel: Anarchismus und Marxismus
AutorIn: Guérin, Daniel
Datum: 6.11.1973
Quelle: Text entnommen von https://www.anarchismus.at/texte-anarchismus/anarchismus-und-marxismus/6290-guerin-anarchismus-und-marxismus von dort gescannt aus: Daniel Guerin: Anarchismus und Marxismus / Noam Chomsky: Anmerkungen zum Anarchismus, Syndikat A (Broschüre)
Bemerkungen: Vortrag gehalten am 6.11.1973 in New York, deutschsprachig erschienen erstmals 1975 im Verlag Freie Gesellschaft.
I

Wenn man dieses Thema behandeln will, steht man vor mehreren Schwierigkeiten, Beginnen wir mit der ersten: Was verstehen wir unter dem Begriff "Marxismus"? Um welchen "Marxismus" handelt es sich?

Ich halte es für notwendig/ hierauf sofort zu antworten. Wir nennen im folgenden "Marxismus" die gesamten Schriften von Marx und Engels selbst, nicht jedoch die ihrer mehr oder weniger treuen Nachfolger/ die für sich die Etikette "Marxisten" in Anspruch genommen haben. Mit Sicherheit schließen wir den entstellten Marxismus, ja man könnte sagen: Den verratenen Marxismus der deutschen Sozialdemokratie aus.

Dazu einige Beispiele: In den ersten Jahren der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland, zu Lebzeiten von Marx, prägten die Sozialdemokraten die Forderung nach dem "Volksstaat". Marx und Engels waren vermutlich so glücklich und so stolz darauf, daß es in Deutschland endlich eine Massenpartei gab, die sich auf sie berief, daß sie ihr gegenüber eine unangebrachte Nachgiebigkeit an den Tag legten. Erst musste Bakunin in heftigen und wiederholten Angriffen gegen den "Volksstaat" polemisieren, erst musste - um die gleiche Zeit - ein heimliches Übereinkommen der Sozialdemokraten mit den radikal-bürgerlichen Parteien zustande kommen, bevor sich Marx und Engels genötigt sahen, den Begriff und die Praxis des Volksstaats fallen zu lassen.

Später erarbeitete der alternde Engels, als er 1895 sein berühmtes Vorwort zu Marxens "Die Klassenkämpfe in Frankreich" schrieb, eine vollständige Revision des Marxismus zum Reformismus, indem er den Akzent vor allem auf den Gebrauch des Wahlzettels legte, der ihm als geeignetes, wenn nicht gar als einziges Mittel zur Erringung der Macht galt. Schließlich wurde dann Karl Kautsky der zwielichtige Nachfolger von Marx und Engels. Theoretisch erhob er zwar den Anspruch, noch auf der Grundlage des Kampfes der revolutionären Klassen zu stehen, in der Praxis jedoch deckte er die Handlungsweise seiner Partei, die sich mehr und mehr opportunistisch und reformistisch verhielt.

Zur selben Zeit forderte Eduard Bernstein/ der sich ebenfalls für einen "Marxisten" ausgab, Kautsky auf, konsequent zu sein und den Klassenkampf abzulehnen, den er für überholt hielt Dagegen sprach er sich für Wahlen, Parlamentarismus und Sozialreformen aus.

Kautsky selbst behauptete, daß es völlig verfehlt sei, zu sagen, daß das sozialistische Bewußtsein eine notwendige und direkte Folge des proletarischen Klassenkampfs sei. Wenn man ihm glauben würde, so wären Sozialismus und Klassenkampf nicht abhängig voneinander. Sie gingen aus verschiedenen Bedingungen hervor. Das sozialistische Bewußtsein entstünde aus der Wissenschaft. Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die intellektuelle Bourgeoisie. Erst durch diese würde der Sozialismus den Proletariern "vermittelt". Folglich: "Das sozialistische Bewußtsein ist ein Element, das von Außen in den Klassenkampf des Proletariats eingeführt wird, und nicht eines, das spontan aus dem Klassenkampf hervorgeht."

Die einzige Theoretikerin in der deutschen Sozialdemokratie, die dem ursprünglichen Marxismus treu geblieben ist, war Rosa Luxemburg. Allerdings musste sie viele taktische Zugeständnisse an die Führung ihrer Partei machen. Sie wagte es nicht, Bebel und Kautsky offen zu kritisieren. Sie trat vor 1910 nicht in offenen Konflikt mit Kautsky, als nämlich ihr Ex-Tutor die Idee des politischen Massenstreiks verwarf. Vor allen Dingen aber bemühte sie sich, die enge Übereinstimmung abzustreiten, die zwischen dem Anarchismus und ihrer Konzeption der revolutionären Spontaneität der Massen bestand, indem sie die Anarchisten in verzerrten Darstellungen verleumdete. Und dies tat sie, um eine Partei nicht zu erschrecken, mit der sie sich sowohl ihrer Überzeugung nach verbunden fühlte, aber auch - man muß es deutlich sagen - durch materielle Interessen.

Aber abgesehen von den unterschiedlichen Darstellungsweisen, gab es keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem anarcho-syndikalistischen Generalstreik und dem Massenstreik Rosa Luxemburgs. Ebenso sind ihre Kontroversen mit Lenin (1904) und mit dem zur Macht gelangten Bolschewismus (1918) vom Anarchismus nicht weit entfernt. Dasselbe gilt auch von ihren Zielvorstellungen zu Ende 1918 in der Spartakus-Bewegung, von einem Sozialismus, der von unten nach oben durch die Arbeiterräte getragen wird. Rosa Luxemburg ist einer der Berührungspunkte von Anarchismus und ungetrübtem Marxismus.

Aber der ursprüngliche Marxismus ist nicht nur von der deutschen Sozialdemokratie entstellt worden. Er ist maßgeblich von Lenin verändert worden, der deutlich einige der jakobinischen und autoritären Züge verstärkte, die zuweilen - jedoch keineswegs immer - in den Schriften von Marx und Engels auftauchten. Er erweiterte diese auch um einen Ultrazentralismus, eine enge und sektiererische Konzeption der Partei und vor allem um die Praxis der Berufsrevolutionäre als Führer der Massen. Von diesen Punkten ist in den Schriften von Marx nicht viel zu finden, wo sie höchstens im Kern und unterschwellig vorhanden sind. Indessen beschuldigte Lenin die Sozialdemokraten aufs heftigste, die Anarchisten verunglimpft zu haben und in seinem Buch "Staat und Revolution" widmete er einen besonderen Abschnitt ihrer Würdigung hinsichtlich ihrer Treue zur Revolution.

II

Unserer Aufgabe stellt sich ein zweites Problem. Das Denken von Marx und Engels ist auch in sich reichlich schwierig zu verstehen, weil es sich im Laufe der Arbeit eines halben Jahrhunderts sehr stark weiterentwickelt hat, und weil Marx und Engels ständig versucht haben, die tatsächlichen Ereignisse ihrer Zeit wiederzuspiegeln. Trotz aller Versuche einiger ihrer heutigen Kommentatoren - unter ihnen ein Kirchenvater - gibt es kein marxistisches Dogma.

Nehmen wir einige Beispiele: Der junge Marx, Humanist und Schüler des Philosophen Feuerbach, entwickelt sich anschließend zu einem rigiden wissenschaftlichen Deterministen. Der Marx der "Neuen Rheinischen Zeitung", der nur Demokrat genannt werden wollte, und der die Verbindung mit der fortschrittlichen deutschen Bourgeoisie suchte, ähnelt in nichts dem Marx von 1850, Kommunist und sogar Blanquist, Befürworter der permanenten Revolution, der unabhängigen, politischen kommunistischen Aktion und der Diktatur des Proletariats.

Welch ein Unterschied auch zwischen den Abschnitten im Kommunistischen Manifest 1848, welche forderten, daß der Staat die Gewalt über die gesamte Ökonomie erlange und den späteren Erklärungen, in denen der Staat durch die "assoziierten Produzenten" ersetzt wird. Der Marx der folgenden Jahre, der die internationale Revolution auf wesentlich später verschob und sich in die Bibliothek des Britischen Museums einschloß, um sich umfassenden wissenschaftlichen Studien zu widmen, ist noch einmal völlig anders als der aufständische Marx von 1850, der an eine allgemeine, unmittelbar bevorstehende Erhebung glaubte.

Der Marx von 1864-1869, der zunächst hinter den Kulissen die Rolle des heimlichen und an der Macht uninteressierten Beraters der in der I. Internationalen zusammengeschlossenen Arbeiter gespielt hatte, wird ab 1870 plötzlich ein sehr autoritärer Marx, der von London aus den Generalrat der Internationalen dirigiert. Der Marx, der Anfang 1871 vor einer Erhebung in Paris heftig warnt ist nicht derselbe, wie der, der nachher in seiner berühmten Adresse unter dem Titel "Bürgerkrieg in Frankreich" die Commune von Paris in den Himmel lobt, von der er - nebenbei bemerkt - einige Züge idealisiert.

Schließlich ist der Marx, der in der gleichen Schrift versichert, die Commune habe den Verdienst, den Staatsapparat zerschlagen und durch die Kommunale Macht ersetzt zu haben, keineswegs derselbe Marx wie der, der in seinem Brief über das Gothaer Programm unbedingt beweisen will, daß der Staat nach der proletarischen Revolution noch für eine relativ lange Zeit überleben müsse.

Wir könnten all diese Widersprüche und diesen Zickzack-Kurs durch die Jahre hindurch verfolgen. Es kann nunmehr wohl keine Frage mehr sein, daß der ursprüngliche Marxismus, derjenige von Marx und Engels, kein einheitlicher Block ist. Wir müssen ihn einer kritischen Prüfung unterziehen und können nur Teile von ihm übernehmen, die zu unserem libertären Kommunismus in keinem Widerspruch stehen.

III

Wir stehen nun einer dritten Schwierigkeit gegenüber. Der Anarchismus bildet, noch weniger als der Marxismus, eine einheitliche Lehre. Wie ich es in meinem kleinen Buch "Anarchismus" dargelegt habe, bewegt die Libertären speziell die Ablehnung der Autorität und der Schwerpunkt, der auf die Vordringlichkeit der individuellen Entscheidung gelegt wird, wie es Proudhon in einem Brief an Marx ausgedrückt hat, "sich zum Antidogmatismus zu bekennen". Auch sind die Ansichten der libertären verschiedener, fließender und schwieriger zu erfassen als die der autoritären Sozialisten.

Es gibt unterschiedliche Strömungen im Anarchismus. Neben den libertären Kommunisten gibt es Individualanarchisten, sozietäre Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten und wie sie wissen, zahlreiche weitere Anarchismen: Gewaltfreie Anarchisten, Anarcho-Pazifisten, vegetarische Anarchisten usw.

Die Frage stellt sich nun, welche Spielarten des Anarchismus wir mit dem ursprünglichen Marxismus konfrontieren wollen, mit dem Ziel, herauszubekommen, in welchen Punkten die zwei Hauptschulen des revolutionären Denkens sich decken und in welchen sie auseinandergehen. Es scheint mir klar, daß die Richtung des Anarchismus, die dem Marxismus am wenigsten entfernt sein dürfte, der konstruktive Anarchismus ist, der sozietäre, kollektivistische oder kommunistische Anarchismus. Und diese Tatsache beruht keineswegs auf einem Zufall, wie ich in dem Buch "Anarchismus" bereits betont habe.

IV

Wenn man in die Probleme etwas tiefer einsteigt, so ist es unschwer festzustellen, daß sich in der Vergangenheit Anarchismus und Marxismus gegenseitig beeinflusst haben. Malatesta, der bekannteste italienische Anarchist, hat einmal geschrieben: "Nahezu die gesamte anarchistische Literatur des 19. Jahrhunderts war durch den Marxismus beeinflusst".

Sie wissen, daß Bakunin eine große Hochachtung gegenüber den wissenschaftlichen Fähigkeiten von Marx hatte, und daß er damit begonnen hat, das "Kapital" ins Russische zu übersetzen. Des weiteren veröffentlichte Bakunins Freund, der italienische Anarchist Carlo Cafiero italienische Kurzfassungen des "Kapitals." Umgekehrt haben die ersten Bücher Proudhons: "Was ist das Eigentum?" (1840) und vor allem sein großes Werk "Systeme des contradictions economiques ou philosophie de la misere" (1846) den jungen Marx stark beeinflusst, auch wenn wenig später der undankbare Ökonom seinen Lehrer durch den Kakao zog und gegen ihn "Misere de la philosophie" schrieb.

Trotz ihrer Auseinandersetzungen verdankte Marx vieles den Ideen Bakunins. Wir wollen hier nur zwei Beispiele anführen: Die Adresse, die von Marx über die Commune verfasst wurde, steht stark unter bakunistischem Einfluß - wie es von Arthur Lehning, dem Herausgeber des "Archives Bakounine" herausgearbeitet worden ist. Und, wie ich es bereits erwähnt habe, wurde Marx Dank Bakunins dazu gezwungen, die Forderung nach dem Volksstaat, die seine sozialdemokratischen Verbündeten aufgestellt hatten, zu verwerfen.

V

Marxismus und Anarchismus haben sich nicht nur gegenseitig beeinflusst, sie haben auch einen gemeinsamen Ursprung. Sie gehören quasi derselben Familie an. Als Materialisten glauben wir nicht, daß die Ideen so einfach in den Köpfen der Menschen entstehen. Sie widerspiegeln lediglich die Erfahrungen der Massenbewegungen, die diese in ihren Klassenkämpfen gemacht haben. Die ersten sozialistischen Autoren, sowohl Anarchisten wie Marxisten, haben ihre gesamte Inspiration zuerst aus der großen Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts geschöpft, später von 1840 an aus den Bemühungen der französischen Arbeiter, die das Ziel hatten, sich selbst zu organisieren/ um gegen die kapitalistische Ausbeutung zu kämpfen.

Wenige nur wissen, daß es 1840 in Paris einen Generalstreik gab. Und während der 40er Jahre folgte diesem Generalstreik eine Blüte der Arbeiter-Zeitungen wie "L'Atelier". Im selben Jahr 1840 - die Übereinstimmung ist verblüffend - veröffentlichte Proudhon seine Denkschrift gegen das Eigentum. Und vier Jahre später, 1844, legte der junge Marx in seinem berühmten Manuskripten den Bericht seines Besuches bei den Pariser Arbeitern vor und betonte den tiefen Eindruck, den diese Handarbeiter auf ihn gemacht hatten. Im vorhergehenden Jahr hatte eine bemerkenswerte Frau, Flora Tristan, den Arbeitern die Arbeiterunion gepredigt und eine Tour de France unternommen, um mit den Arbeitern der Großstädte Kontakt aufzunehmen.

Sowohl der Anarchismus als auch der Marxismus schöpfen anfangs aus derselben Quelle. Und unter dem Eindruck der neu entstandenen Arbeiterklasse legen beide dasselbe Endziel fest, d.h. den kapitalistischen Staat abzuschaffen, den sozialen Reichtum, die Produktionsmittel den Arbeitern selbst anzuvertrauen. Dies war die Grundlage der kollektiven Übereinstimmung, die zwischen Marxisten und Bakunisten auf dem Kongreß der I. Internationalen, kurz vor Beginn des deutsch-französischen Kriegs von 1870, zustande gekommen war. Bemerkenswert ist dabei, daß diese Übereinkunft gegen die letzten Schüler Proudhons (gest. 1865) gerichtet war, die sich zu Reaktionären entwickelt hatten. Einer von ihnen, Tolain, hatte sich dem Privateigentum an Produktionsmitteln verschrieben.

VI

Bisher habe ich erwähnt, daß die ersten Sprecher der französischen Arbeiterbewegung ihre Inspiration auf eine bestimmte Weise aus der großen Französischen Revolution gezogen haben. Kommen wir darauf zurück.

Tatsächlich bestanden innerhalb der Französischen Revolution zwei sehr verschiedene Formen von Revolution, oder besser gesagt, zwei verschiedene, entgegengesetzte Kräfte. Eine wurde vom linken Flügel der Bourgeoisie gebildet, die andere von einem Vorläufer des Proletariats: kleine Handwerker und Lohndiener. Die erste war autoritär, ja diktatorisch, zentralistisch, repressiv gegenüber den Nicht-Privilegierten. Die zweite war demokratisch, föderalistisch und zusammengesetzt aus, wie man heute sagen würde, den Arbeiterräten, d.h. den innerhalb der Pariser Commune assoziierten 48 Sektionen der Stadt und den Volksvereinen in den Städten der Provinz.

Ich zögere nicht zu sagen, daß diese zweite Kraft einen libertären Inhalt hatte und in gewisser Weise der Vorlaufer der Pariser Commune von 1871 und der russischen Sowjets von 1917 war wohingegen die erste Kraft im 19. Jahrhundert eine jakobinische Fortsetzung fand. In Wahrheit ist jedoch das Wort "jakobinisch" ungenau zweideutig und künstlich. Es war der Name eines Pariser Volksclubs der "Gesellschaft der Jakobiner", die diesen wiederum vom Konvent eines Klosterordens übernommen hatte, in dessen Gebäude der Club sich eingerichtet hatte. Tatsächlich verlief die Trennungslinie des Klassenkampfs zwischen revolutionärem Bourgeois und Nicht-Privilegierten auch innerhalb der Gesellschaft der Jakobiner und quer durch sie hindurch. Genauer, auf ihren Treffen gerieten die Mitglieder der einen und der anderen Richtung in Streit miteinander. Dennoch wird in der späteren Literatur das Wort Jakobiner angewandt, um eine revolutionäre bourgeoise Tradition zu bezeichnen, die von oben mit autoritären Mitteln Land und Revolution dirigiert; der Begriff wurde in diesem Sinne sowohl von den Anarchisten als auch den Marxisten verwandt. So nannte sich z.B. Charles Delecluze, der Führer des rechten Mehrheitsflügels im Rat der Commune von Paris, selbst ein Jakobiner, einen Anhänger Robespierres.

Proudhon und Bakunin haben in ihren Schriften die Politik der revolutionären Bourgeoisie als "jakobinisches Denken" bekämpft. Dagegen hatten Marx und Engels einige Mühe, sich von diesem jakobinischen Mythos freizumachen, der durch die Helden der bürgerlichen Revolution berühmt und glorifiziert wurde, unter ihnen Danton (der in Wirklichkeit ein korrumpierter Politiker und Doppelagent war) und Robespierre (der als Diktator endete.) Die Libertären wurden Dank ihrer anarchistischen Erkenntnis nicht zu den Geprellten des Jakobinertums. Sie begriffen sehr gut daß die Französische Revolution nicht nur ein Bürgerkrieg zwischen der absoluten Monarchie und dem revolutionären Bürgertum war, sondern auch - etwas später - ein Bürgerkrieg zwischen Jakobinertum und Communalismus, wie ich ihn einmal nennen möchte. Ein Bürgerkrieg, der im März 1794 zur Niederlage der Commune von Paris und zur Enthauptung ihrer beiden Stadtmagistraten, Chaumette und Hebert, führte, d.h. zur Abschaffung der Herrschaft von unten, genau wie die russische Oktoberrevolution zur Liquidierung der Fabrikräte führte.

Marx und Engels schwankten ständig zwischen Jakobinertum und Communalismus. Anfangs lobten sie die "rigorose Zentralisierung, wie sie in Frankreich 1793 modellhaft vorgeführt wurde". Aber später - wohl zu spät - 1895, bemerkte Engels, daß sie sich im Irrtum befunden hätten, und die besagte Zentralisation den Weg zur Diktatur Napoleons I. geebnet habe. Es kam vor, daß Marx einmal schrieb, die Enrages, die Anhänger des linksradikalen Ex-Priesters Jaques Roux, der ein Sprecher der arbeitenden Bevölkerung der Vorstädte war, seien "die Hauptvertreter der revolutionären Bewegung" gewesen. Während Engels ein andermal behauptete, dem Proletariat von 1793 "hätte überhaupt nur von oben her Unterstützung zuteil werden können." Später dann zeigte sich Lenin wesentlich jakobinischer als seine Lehrer Marx und Engels. Ihm zufolgte stellt das Jakobinertum "einen der höchsten Gipfel dar, den die unterdrückte Klasse in ihrem Kampf um die Befreiung erreicht hat". Und er schätzt es, sich selbst einen Jakobiner zu nennen, dem er jedoch hinzufügt: "ein Jakobiner, der mit der Arbeiterklasse verbunden ist". Daraus ergibt sich für uns, daß die Libertären mit den Marxisten nur unter der Bedingung zusammenarbeiten können, daß diese vollständig alle jakobinischen Überbleibsel verwerfen.

Fassen wir nun die Hauptunterschiede zwischen Marxismus und Anarchismus zusammen. Zunächst, wobei sie in dem Endziel der Abschaffung des Staats übereinstimmen, halten es die Marxisten für notwendig, nach der siegreichen proletarischen Revolution, für eine unbestimmt lange Zeit einen neuen Staat zu schaffen, den sie "Arbeiterstaat" nennen und von dem sie dann versprechen, daß dieser neue Staat - gelegentlich auch "Halbstaat" genannt - damit endet, daß er von selbst verschwindet. Dagegen wenden die libertären Kommunisten ein, daß der neue Staat sogar noch allmächtiger und noch unterdrückender als der bürgerliche Staat sein wird, weil sich die gesamte Wirtschaft im staatlichen Besitz befindet und weil sich seine ständig wachsende Bürokratie weigern wird, einfach "zu verschwinden". Außerdem reagieren die libertären Kommunisten einigermaßen misstrauisch auf jene Aufgaben, die von den Marxisten der kommunistischen Minderheit gegenüber der Bevölkerung zugesprochen werden. Wenn sie in den Heiligen Schriften von Marx und Engels nachlesen, so tun sie gut, in diesem Punkt gewisse Zweifel zu hegen. Sicher, im Kommunistischen Manifest kann man lesen, daß die Kommunisten "keine getrennten Interessen vom Gesamt-Proletariat" haben, und das sie ständig das "Interesse der Gesamtbewegung repräsentieren". Ihre theoretischen Konzeptionen, so schwören die Autoren des Manifests, "beruhen in keiner Weise auf den Ideen, auf den erfundenen Prinzipien des einen oder anderen Weltverbesserers, sie sind nur der allgemeine Ausdruck eines bestehenden Klassenkampfs, einer historischen Bewegung, die sich vor unseren Augen abspielt". Ja sicher, mit diesem Punkt werden wir Libertären auch einverstanden sein!

Aber das nun folgende Zitat steht dazu einigermaßen im Widerspruch und alarmiert: "Theoretisch haben die Kommunisten gegenüber dem Rest der proletarischen Masse den Vorteil, klar die Bedingungen, den Weg und die schließlichen Ergebnisse der proletarischen Bewegung zu verstehen".

Bedeutet das nicht, daß die Kommunisten aufgrund eines solchen "Vorsprungs" ein historisches Recht darauf haben, sich die Führung des Proletariats anzumaßen? Wenn es so wäre, wären wir libertären Kommunisten nicht mehr einverstanden. Wir bestreiten, daß es außerhalb des Proletariats überhaupt eine Avantgarde geben kann, und wir sind der Meinung, daß wir nur die Rolle von uneigennützigen Beratern an der Seite oder innerhalb des Proletariats spielen können, um den Arbeitern in ihren Anstrengungen zu helfen, mit dem Ziel, einen höheren Bewusstseinsstand zu erreichen.

Das führt uns zu der Frage nach der revolutionären Spontaneität der Massen, einem typischen anarchistischen Begriff. Wir finden in den Schriften von Proudhon und Bakunin in der Tat sehr häufig die Worte "spontan" und "Spontaneität". Aber, was sehr seltsam ist, niemals in den Schriften von Marx und Engels in ihrer ursprünglichen Fassung. In den Übersetzungen tauchen diese Worte von Zeit zu Zeit auf, sie sind jedoch nur ungenaue Wiedergaben. Tatsächlich beziehen sich Marx und Engels nur auf die Selbsttätigkeit der Massen, was eher weniger ist als Spontaneität. Sicherlich kann sich eine revolutionäre Partei neben ihren hervorragenden Aktivitäten ein gewisses Maß an Selbsttätigkeit der Massen erlauben, aber die Spontaneität der Massen würde ihren Anspruch auf die führende Rolle gefährlich in Frage stellen. Rosa Luxemburg war die erste Marxistin, die in ihren Schriften in deutscher Sprache das Wort "spontan" gebrauchte, das sie von den Anarchisten übernommen hatte; und sie legte auch das Schwergewicht auf die Spontaneität in der Massenbewegung. Man kann annehmen, daß die Marxisten gegenüber sozialen Bewegungen ein bestimmtes Unbehagen hegen, die keinen ausreichenden Platz für das Eindringen ihrer anmaßenden Führer lassen.

Sodann sind die libertären Kommunisten nicht allzu sehr erbaut, wenn sie von Zeit zu Zeit beobachten, daß es die Marxisten nicht verschmähen, die Mittel und die Kunsttricks der bürgerlichen Demokratie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Die Marxisten bedienen sich nicht nur mit Vergnügen des Wahlzettels, den sie für eines der besten Mittel halten, die Macht zu erringen, sondern es kommt auch vor, daß sie sich darin gefallen, mit den liberalen oder radikalen Bürgerparteien ekelhafte Wahlbündnisse zu schließen, wenn sie nur mit Hilfe solcher Wahlbündnisse zu Parlamentssitzen kommen können. Natürlich haben die libertären Kommunisten keine metaphysische Abscheu vor Wahlurnen. Proudhon wurde einmal in die Nationalversammlung von 1848 gewählt. Ein anderes Mal unterstützte er die Wahl von Raspail. Auch später unter dem zweiten Empire befürwortete er, daß die Arbeiter Kandidaten zu den Wahlen aufstellten. Das war für ihn nur eine Frage der Opportunität. Bei anderer Gelegenheit vermieden es die spanischen Anarchisten 1936, gegen die Wahlbeteiligung der Volksfront eine starre Haltung einzunehmen. Aber abgesehen von diesen, sehr seltenen Ausnahmen, beschreiten die Anarchisten ganz andere Wege, um den kapitalistischen Gegner zu Fall zu bringen: Direkte Aktion, gewerkschaftliche Aktion, Arbeiterautonomie und Generalstreik.

Kommen wir nun auf folgende Zwickmühle zu sprechen: Verstaatlichung der Produktionsmittel oder Selbstverwaltung? Hier zögern Marx und Engels erneut. Im Kommunistischen Manifest von 1848, geschrieben unter dem direkten Einfluß des französischen Staatssozialisten Louis Blanc, kündigten sie ihre Absicht an, "alle Produktionsmittel in den Händen des Staates zu zentralisieren". Aber unter dem Begriff Staat verstanden sie "das als herrschende Klasse organisierte Proletariat". Gut, aber warum zum Teufel nennen sie eine solche proletarische Organisation "Staat?" Und weiter: Warum fügten sie später, im Juni 1872, ein Vorwort zur Neuauflage des Manifests hinzu, in dem sie sich von ihrer früheren Liebe zum Staat distanzieren und annehmen, daß die Produktion in die Hände der "assoziierten Produzenten" überführt werden soll?

Diese Gesinnungsänderung war nur das Ergebnis der Vereinbarung, die, wie wir gesehen haben, auf dem Kongreß der I. Internationalen, der dem Krieg von 1870 vorausging, mit den Bakunisten zustandegekommen war. Aber es ist hervorzuheben, daß Marx die Wege, wie die Selbstverwaltung zu erreichen sei, niemals gründlich untersucht hat, während Proudhon ihr Seite um Seite seines Werks widmete. Proudhon, der sein Leben als Arbeiter begonnen hatte, wusste wovon er sprach, er hatte mit intensiver Aufmerksamkeit die Arbeiterassoziationen beobachtet, die während der Revolution von 1848 entstanden waren. Der Grund für Marx Haltung ist vermutlich, daß er diese Frage mit Geringschätzung als "utopisch" ansah. Heute gehören wir libertäre Kommunisten zu denen, denen es gelungen ist, wenigstens in Westeuropa die Selbstverwaltung zu einer aktuellen, sehr konkreten Frage zu machen und sie auf die Tagesordnung zu setzen - eine Frage, die darüber hinaus bereits derart in Mode gekommen ist, daß sie heute von fast allen politischen Strömungen vereinnahmt, verbogen und verkürzt wird.

VII

Erwähnen wir nun, wie Anarchisten und Marxisten von ihrer proletarischen Entstehung an in Konflikt miteinander geraten sind. Der Schlagabtausch wurde von Marx und Engels eröffnet, mit ihrem bösartigen, gegen Stirner gerichtetem Buch "Die Deutsche Ideologie". Es beruht auf einem gegenseitigen Missverständnis. Stirner hebt nicht deutlich genug hervor, daß er hinter seiner übersteigerten Hervorhebung des Ich, des Individuums, das er als Einziges ansah, darüber hinaus tatsächlich die freiwillige Assoziation dieses Einzigen mit anderen vorsieht, d.h. eine neue Gesellschaft, die auf der Freien Wahl der Föderation und auf dem Recht beruht, sich von der Föderation wieder zu trennen; eine Idee, die später von Bakunin aufgenommen werden sollte, und schließlich von Lenin verwandt wird, wenn er über die nationale Frage schreibt. Ihrerseits interpretieren Marx und Engels Stirners Schmähschriften gegen den Kommunismus falsch, die sie für reaktionär hielten, wohingegen Stirner eigentlich gegen einen völlig anderen Kommunismus anstänkerte, gegen den "plumpen" Staatskommunismus der utopischen Kommunisten seiner Zeit, wie Weitling in Deutschland und Cabet in Frankreich, denn - so Stirner - er gefährde die individuelle Freiheit.

Dann der rasende Angriff von Marx gegen Proudhon, teilweise aus den- selben Gründen, der besagte Proudhon feiere das Privateigentum, weil er in ihm eine Garantie der persönlichen Freiheit sähe. Aber Marx erfasste nicht, daß sich Proudhon für den Bereich der Großindustrie, in anderen Worten, im kapitalistischen Bereich zum Anwalt des kollektiven Besitzes machte. Notierte er nicht in seinen "Carnets", daß die "Kleinindustrie eine genau so dumme Sache sei wie die Kleinkultur?" Im Bereich der Großindustrie ist er leidenschaftlicher Kollektivist. Den Arbeiter-Gesellschaften, wie er sie nennt, soll in seinen Augen eine bedeutende Rolle zukommen, nämlich die der Verwaltung der großen Industrien, wie die der Eisenbahnen, der Manufakturen, des Bergbaus, der Metallverarbeitung, der Marine usw.

Andererseits forderte Proudhon gegen Ende seines Lebens in "Die Fähigkeiten der arbeitenden Klassen" die voltständige Trennung der Arbeiterklasse von der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. den Klassenkampf. Das hielt Marx nicht davon ab, so infam zu sein, den Proudhonismus als kleinbürgerlichen Sozialismus zu behandeln.

Jetzt kommen wir auf den heftigen und wenig sauberen Streit zwischen Marx und Bakunin zu sprechen, den der I. Internationalen. Auch hier spielten teilweise Missverständnisse eine Rolle. Bakunin unterstellte Marx schreckliche, autoritäre Absichten, einen Machthunger nach Herrschaft über die Arbeiterbewegung. Bakunin überzog sicherlich, erstaunlich ist jedoch, daß er sich als Prophet in dieser Frage herausstellte. Er hatte eine sehr hellseherische Vision der späteren Zukunft. Er sah das Entstehen einer "roten Bürokratie" vorher, genauso wie die Tyrannei, die schließlich von den Führern der III. Internationale (Komintern) auf die Arbeiterbewegungen der ganzen Welt ausgeübt wurde. Marx schlägt gegen Bakunin zurück, indem er ihn aufs niedrigste verleumdet, und indem er auf dem Haager Kongreß 1872 seinen Ausschluß erreicht.

Von nun an sind die Brücken zwischen dem Anarchismus und dem Marxismus zerstört. Ein verheerendes Ereignis für die Arbeiterklasse, weil beide Bewegungen die theoretischen und praktischen Beiträge der jeweils anderen sehr nötig gehabt hätten. Während der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts scheiterte der Versuch, eine geschrumpfte anarchistische Internationale zu schaffen. Der gute Wille hierzu fehlte nicht, aber der Anarchismus hatte sich von der Arbeiterbewegung getrennt nahezu isoliert.

In derselben Zeit entwickelte sich der Marxismus sehr rasch, in Deutschland mit dem Anwachsen der Sozialdemokratie und in Frankreich durch Gründung der Arbeiterpartei durch Jules Guesdes. Später vereinigten sich die verschiedenen sozialdemokratischen Parteien, um die II. Internationale zu gründen. Auf ihren folgenden Kongressen entwickelten sich heftige Kämpfe mit den Libertären, denen es gelungen war, an ihren Kongressen teilzunehmen. 1893 machte der holländische libertäre Sozialist Domela Nieuwenhuis in heftigen und brillanten Worten der deutschen Sozialdemokratie den Prozeß und erntete dafür Hohngelächter. In London beschimpften 1896 die Tochter von Marx, Aveling und der französische Sozialistenführer Jean Jaures die Anarchisten, die als Delegierte verschiedener Arbeitersyndikate in den Kongreß gelangt waren, und ließen sie hinauswerfen.

Es stimmt, daß der anarchistische Terrorismus, der in Frankreich zwischen 1890 - 1895 wütete, nicht wenig zu der hysterischen Ablehnung den Anarchisten gegenüber beigetragen hat, die von nun an als "Banditen" behandelt wurden. Die ängstlichen und auf Legalität bedachten Reformisten waren nicht in der Lage, deren revolutionäre Beweggründe zu verstehen, ihren Rückgriff auf die Gewalt, ihre aufsehenerregenden Protestaktionen gegen eine verabscheuungswürdige Gesellschaft.

Von 1860 bis 1914 schieden die deutsche Sozialdemokratie und mehr noch die schwere Maschinerie der deutschen Arbeitergewerkschaften den Anarchismus aus: Selbst Kautsky wurde von den Arbeiterbürokraten jener Zeit, als er sich zu Gunsten des Massenstreiks aussprach, verdächtigt, ein Anarchist zu sein. In Frankreich spielte sich eine gegensätzliche Entwicklung ab. Der parlamentarische, auf Wahlen bedachte Reformismus von Jaures stieß die Arbeiter ab, die soweit fortgeschritten waren, daß sie die Gründung einer revolutionären, syndikalistischen und äußerst kämpferischen Organisation in Angriff nahmen, der berühmten CGT, deren Pioniere Fernand Pelloutier, Emile Pouget und Pierre Monatte aus der anarchistischen Bewegung kamen.

Die russische Revolution und später die Spanische Revolution vertieften den Abgrund zwischen Anarchismus und Marxismus, ein Abgrund, der nicht mehr nur ideologisch, sondern auch durch die blutige Praxis begründet war. Um diese Überlegungen zur Vergangenheit von Marxismus und Anarchismus zu beenden, muß ich noch folgendes anmerken:

  1. Bestimmte Marx-Forscher, wie z.B. in Frankreich Maximilian Rubel sind in gewisser Weise - wenn auch nicht vollständig - im Irrtum, wenn sie in Marx einen "Libertären" sehen.

  2. Einige sektiererische und engstirnige Anarchisten, wie in Frankreich Gaston Leval, sind in gewisser Weise im Irrtum, wenn sie Marx hassen als sei er der Teufel persönlich. Ich möchte mich irgendwo zwischen diesen beiden Männern mit extremen Positionen ansiedeln, die jedoch beide meine Freunde sind.

VIII

Wie steht es nun mit der Gegenwart? Zweifellos erleben wir in unseren Tagen eine Renaissance des libertären Sozialismus. Ich muß ihnen wohl kaum erzählen, wie diese Renaissance in Frankreich im Mai 1968 entstanden ist. Sie war die spontanste, die Überraschendste, die am wenigsten geplante aller Erhebungen. Ein starker Freiheitswille durchfegt das Land, so zerstörerisch und gleichzeitig so schöpferisch, daß nichts mehr dem ähnlich sein wird wie es früher war. Das Leben hat sich verändert, oder, wenn sie lieber mögen, wir haben das Leben verändert. Aber diese Wiedergeburt fand statt im Rahmen einer allgemeinen Renaissance der gesamten revolutionären Bewegung, vor allem bei der studentischen Jugend (statt). Deshalb gibt es keine dichten Trennwände mehr zwischen den libertären Bewegungen und denen, die sich zu einem angeblichen "Marxismus-Leninismus" bekennen. Es gibt sogar eine gewisse nicht-sektiererische Durchdringung dieser Bewegungen untereinander.

Junge Genossinnen in Frankreich wechseln von autoritären marxistischen Gruppen zu Anarcho-Gruppen über, und auch der umgekehrte Fall kommt vor. Ganze Gruppen von "Maoisten" zerbrechen unter dem libertären Einfluß, spüren die Anziehungskraft der anarchistischen Ideen. Selbst trotzkistische Organisationen verändern teilweise ihre Ansichten und werfen einige ihrer früheren Betrachtungsweisen über Bord, dank dem Einfluß anarchistischer Theorien und Schriften. Menschen wie Jean Paul Sartre und seine Freunde bringen heute in ihrer Monatsschrift anarchistische Ideen zum Ausdruck, und einer ihrer jüngeren Artikel trug den Titel "Lenin Ade".

Sicherlich gibt es noch immer nicht wenige autoritäre marxistische Gruppen, die im besonderen Maße anti-libertär eingestellt sind, genauso wie man weiterhin anarchistische Gruppen findet, die ausgesprochen anti-marxistisch auftreten.

Die beiden libertär-kommunistischen Organisationen, die es in Frankreich gibt, und die Absicht haben, sich bald zu vereinigen, befinden sich am Rande von Marxismus und Anarchismus. Sie haben mit den klassischen Anarchisten ihre Zugehörigkeit zur antiautoritären Strömung gemeinsam, die bis auf die I. Internationale zurückgeht. Aber sie haben mit den Marxisten die Tatsache gemeinsam, daß sie sich entschlossen zum Klassenkampf des Proletariats bekennen und zum Kampf mit dem Ziel, die bürgerliche, kapitalistische Gewalt zu brechen.

Auf der einen Seite versuchen die libertären Kommunisten alle konstruktiven Punkte im Beitrag der Anarchisten der Vergangenheit zu beleben - nebenbei bemerkt, war dies auch das Ziel bei den Buchveröffentlichungen von "Anarchismus" und "Ni Dieu/ ni Maitre" - andererseits beziehen sich die libertären Kommunisten im Erbe von Marx und Engels auf die Teile, die ihnen immer noch gültig und fruchtbar erscheinen, und die vor allem auf Bedürfnisse unserer Zeit antworten. So z.B. der Begriff der Entfremdung, der in den Manuskripten von 1844 des jungen Marx erscheint und sich so gut verträgt mit der Betonung der individuellen Freiheit durch die Anarchisten. Oder der Leitgedanke, daß die Befreiung des Proletariats nur die Sache der Arbeiter Selbst sein kann, der allen Auffassungen widerspricht, die revolutionäres Bewußtsein von außen in die Arbeiterklasse hineintragen wollen. Schließlich die bekannte Methodik des dialektischen und historischen Materialismus, die eine der Leitfäden bleibt zum Verständnis der Ereignisse in der Vergangenheit und in der Gegenwart - jedoch unter der Bedingung, daß diese Methode nicht starr und dogmatisch angewandt wird, mechanisch oder als Entschuldigung für die Abkehr vom Kampf unter dem Vorwand, die materiellen Bedingungen für eine Revolution seien noch nicht gegeben, wie es die Stalinisten in Frankreich 1936,1945 und 1968 gleich drei mal taten. Eine weitere Bedingung ist das Vertrauen auf die beiden elementaren Kräfte, zum einen des individuellen Willens sowie der revolutionären Spontaneität der Massen.

Wie es der libertäre Geschichtsschreiber Kaminsky in seinem hervorragenden Buch über Bakunin ausgedrückt hat, ist eine Synthese zwischen Anarchismus und Marxismus nicht nur notwendig, sondern auch unvermeidlich. "Die Geschichte", fügt er hinzu, "schafft sich ihre Kompromisse selbst". Ich möchte anmerken - und das ist meine eigene Meinung – daß ein libertärer Kommunist, Ergebnis einer solchen Synthese, zweifellos die tiefen Wünsche - auch wenn sie sich dessen bisher manchmal noch nicht voll bewusst sind - der fortgeschrittenen Arbeiter ausdrückt, die man heute die "Arbeiterlinke" nennt, vielmehr als der degenerierte autoritäre Marxismus und der versteinerte Altanarchismus.