Titel: Angesichts des Krieges und des Belagerungszustandes: Lasst uns die Reihen durchbrechen
Datum: 23. November 2015
Bemerkungen: Entnommen aus Dissonanz (Hrsg): "Im Krieg, allesamt - Zusammenstellung von Artikeln von Anarchisten aus Frankreich, Belgien, Italien und der Schweiz, die infolge des Attentats vom 13. November in Paris und der damit verbundenen Kriegsdynamik erschienen.", Zürich, 25. November 2015, S. 29-32.
Original auf Französisch, Originaltitel: "Face à la guerre et l’état de siège : rompons les rangs".

Belagerungszustand in Brüssel. Hunderte von Soldaten sind in den Strassen postiert, Tausende von Polizisten durchziehen die Strassen der europäischen Hauptstadt. Schulen und Universitäten sind geschlossen, das Transportnetz ist praktisch stillgelegt. Die Strassen sind mehr und mehr verlassen, die Angst sucht die Gemüter heim. Die Kontrollen auf den Strassen häufen sich und werden mit dem Maschinengewehr an der Schläfe durchgeführt. Wenn der Raum von den Kräften der Macht zugestellt ist, so scheinen es die Geister ebenfalls. Und dies ist vielleicht noch schlimmer.

Die Zeiten, in denen die europäischen Staaten mittels Luftschlägen, Besatzungen, Eröffnung von neuen Märkten, ungehemmter Ausbeutung und Plünderung der Ressourcen anderswo auf der Welt Krieg führen, und dabei gleichzeitig ihre Territorien vor wenn nicht genau gleichen, so jedenfalls derselben Logik folgenden Kriegsakten bewahren konnten, scheinen vorbei. Der Krieg hat die französische Hauptstadt mitten im Herzen getroffen, und er wird nicht heimlich verschwinden. Und jede Kriegslogik befürwortet es, in die Menge zu schlagen. So, wie es die Staaten seit ihrem Bestehen, gegen ihre eigenen Untertanen und gegen die Untertanen von anderen Staaten tun. Wie es all jene getan haben und tun, welche danach streben, die Macht zu erobern, ihre Herrschaft aufzuzwingen. Sei sie nun islamistisch oder republikanisch, demokratisch oder diktatorisch. Denn es ist, indem man die Freiheit, die Freiheit von jedem Individuum, mit Füssen tritt, wodurch sich die Herrschaft einrichtet. Autorität und Freiheit schliessen sich gegenseitig aus.

Im Krieg spielt man also nach den Regeln des Krieges. Die Sättigung der Gemüter durch den Diskurs der Macht eliminiert die Räume des Kampfes für die menschliche Emanzipation, oder drängt sie jedenfalls an den Rand, mehr noch als sie es zuvor getan hat. Die Mobilisierung will total sein. Entweder mit dem Staat oder mit ihnen – und diejenigen, die nach etwas ganz anderem streben, die gegen die Unterdrückung und die Ausbeutung kämpfen, all die Abertausenden von Rebellen und Revolutionären, welche von den etablierten oder im Aufbau befindlichen Staaten ermordet und massakriert wurden, welche in allen Ecken der Welt verfolgt werden, sie sollen sich nunmehr als im Abseits betrachten. Auf dem Altar der bereits völlig von Blut durchtränkten Macht warten Tausende von weiteren, bis sie an der Reihe sind, geopfert zu werden.

Wer ist verantwortlich? Brauchen wir daran zu erinnern, wo die Phosphorbomben hergestellt worden sind, welche Falludscha niedergebrannt haben, wer den Geheimdiensten von Assad, von Sisi die Informatiktechnologien geliefert hat, wer die Piloten ausgebildet hat, welche Gaza bombardierten? Brauchen wir daran zu erinnern, wie das Kobalt und Silizium für die technologischen Geräte aus den Tiefen von Afrika abgebaut werden, wie all die Konsumprodukte produziert werden, die wir in den Regalen der Supermärkte und der Läden finden? Brauchen wir daran zu erinnern, wie der zivilisierte Kapitalismus seine Hunderten von Arbeitslager, von Bangladesh bis Mexiko verwaltet? Woher die dunklen Schatten der Drohnen kommen, welche überall auf der Welt zuschlagen? Wie und im Namen von was Tausende von Personen seit Jahren im Mittelmeer ertränkt werden? Kommt, sagt es, wer ist verantwortlich?

Aber wenn unsere Augen von Revoltierenden mit gutem Grund nach oben blicken, um die Antwort zu finden, so müssten sie auch in uns selber blicken. Denn in den Zeiten, die kommen, und bereits in den Zeiten, die sind und die waren, ist es unsere Passivität, wodurch wir zu Komplizen unserer eigenen Unterdrückung geworden sind. Und diese Passivität ist nicht nur die Untätigkeit der Arme, es ist auch das Projekt von programmierter Abstumpfung seit Jahrzehnten durch die Macht, welche uns der Werkzeuge beraubt hat, um die Realität zu verstehen, um unsere Wut zu verstehen. Welche uns jeglicher Sensibilität, die nicht in Abhängigkeit von den Anforderungen des Moments dekretiert wird, jeglicher Fähigkeit, zu träumen, beraubt hat. Es ist daraus, aus diesem Programm von Reduzierung des Menschen, woraus heute diejenigen hervorkommen, die sich entscheiden, Blutbäder anzurichten, sich am Spiel der Macht zu beteiligen, ihrerseits ebenfalls zu massakrieren. Es wäre dumm, hätten wir geglaubt, dass ihre Blutbäder auf die Mächtigen und ihre Strukturen abzielen würden. Der moderne Krieg in der hypertrophierten Welt der Technologie und des Massakers aus Distanz erlaubt keine solchen Subtilitäten mehr, falls denn solche Subtilitäten im Kopf von Menschen im Krieg jemals hätten existieren können.

In den Quartieren von Brüssels, heute unter militärischer Besatzung, ist, das muss man sagen, alles aufgewandt worden, um der sozialen Revolte den Stöpsel aufzudrücken, um der Wut gegen eine schreckliche und grausame Welt einen Dämpfer aufzusetzen. Seien es nun die Staatsbürgerschafts- und Demokratieförderungskurse (während man gleichzeitig Bomben abwirft), seien es die von der Religion offerierten Kontrollmechanismen, oder sei es die massive Zudröhnung durch die technologischen Geräte: alles lieber als die Revolte. Und manchmal entweicht dieses Spiel auch den Händen der Macht, wie das heute geschieht. Und hier kommen die Schläge in die Menge. Umso mehr, wenn die Vorspiegelung von einer himmlischen Belohnung auftaucht, welche seit Jahrhunderten und bis heute Millionen von Sklaven in Erwartung der versprochenen Erlösung unter dem Joch zu halten vermochte. Gewissermassen wenden sich die Jahrzehnte, in denen der belgische Staat den Islam benutzt hat, um die Gemüter zu beruhigen, um die Kontrolle über die Gemeinschaften der Ausgeschlossenen zu wahren, um die sozialen Widersprüche zu verwalten, heute gegen ihn. Aber mehr noch vielleicht gegen die Möglichkeit und die Perspektive von einer befreienden Revolte.

Angesichts der Militarisierung des Raumes und der Militarisierung der Geister, angesichts des Krieges, in den uns die Staaten und die Machtanstrebenden reissen; und im Wissen, dass wir mehr und mehr an den Rand gedrängt werden, sollte die Anstrengung sich auf die absolute Verweigerung konzentrieren, in das Spiel einzusteigen. Und diese Verweigerung impliziert auch die Zurückweisung der Regeln, welche sie dabei sind, aufzuzwingen. Heute keinen Lärm machen. Zuhause und somit in den Reihen bleiben. Den Platz den Terroristen der Demokratie und den Terroristen des Kalifats abtreten. Dass es schwierig sein wird, diese Besatzung zu durchschlagen und die Regeln dieses Spiels zu brechen, steht ausser Zweifel. Die Wahl des Deserteurs, desjenigen, der sich weigert, für die Mächtigen Krieg zu führen, hat ihn schon immer tausend und einer Repression ausgestellt. Aber wer weiss, ob sich am Rande nicht andere Zurückgewiesene finden, andere Deserteure, andere Ausgeschlossene, andere Geopferte, mit welchen man den laufenden Krieg sabotieren und, voller Ungestüm, für Ideen kämpfen kann, die sich gegen jede Macht sträuben. Wer weiss, ob nicht an jenem Rand, in jener Ecke, die stolze Internationale, welche alle Autoritäten herausfordert, inmitten von einer durch den Bürgerkrieg zerrissenen Welt, wieder aufleben wird?

Wenn das Letzte, dem wir jetzt entsagen würden, eben das Verlangen nach der Freiheit und der Traum ist, welcher unseren Geist zu schärfen, unser Herz zum Schlagen zu bringen und unsere Hände zu bewaffnen vermag, so müssen wir gleichzeitig auch die Anstrengung machen, der Realität ins Gesicht zu blicken. Die Räume verengen sich, das Blut floss bereits, fliesst heute und wird noch mehr fliessen, der Kampf für die Freiheit und die Revolution hat zweifellos schwierige Zeiten vor sich. Die Bedingungen, worin sich der revolutionäre Kampf entwickeln soll, verschlechtern sich und nach dem Massaker an den Volkserhebungen der letzten Jahre in zahlreichen Ländern kommt auch für uns, die wir uns auf dem europäischen Kontinent befinden, der Moment, wo ein jeder und eine jede sich der Frage wird stellen müssen, die möglicherweise schrecklich an Konsequenzen, aber reich an Herausforderungen ist: sind wir, trotz allem, bereit, für die Freiheit zu kämpfen?

Anarchisten

Brüssel, 23. November 2015