Titel: Sprung ins Unbekannte
Untertitel: Gedanken für eine anarchistische Offensive im Herzen der Befriedung
Datum: Frühjahr 2011
Bemerkungen: Dieser Text wurde als Broschüre veröffentlicht und in: An die Waisen des Existierenden, einmalige anarchistische Zeitschrift, Zürich, Frühjahr 2011.

Nun, wir fragen uns: Wie könnte eine revolutionäre anarchistische Praxis aussehen, unter den spezifischen sozialen Bedingungen in der Schweiz? Wir denken, dass es zunächst notwendig ist, die Illusion zu beseitigen, die allzu oft als Rechtfertigung für die eigene Resignation dient, dass hier alles tausend Mal schwieriger sei als sonstwo, dass alles völlig befriedet sei und sich sowieso niemand für unsere Ideen interessiert. Um dann die lokalen Besonderheiten ins Auge zu fassen, die eine Herangehensweise erfordern, die weder unbedingt schwieriger noch einfacher, sondern schlicht anders ist, als sonst irgendwo. Deshalb interessieren uns weder revolutionäre Ideologien, die sich als starre Muster einer Realität aufdrücken, von der sie immer wesensgemäss getrennt bleiben, noch denken wir, dass Erfahrungen und Methoden, wie sie an anderen Orten oder zu anderen Zeiten von Gefährten gemacht und entwickelt wurden, einfach kopiert werden können. Wir wollen unsere Inspiration aus all dem ziehen, was uns gefällt, doch stets in der Absicht, eigene Methoden zu entwickeln, die wir angesichts unserer Situation als am geeignetsten erachten. Wir kennen nur zu gut den Hang gewisser Menschen, vereinfachte Bruchstücke alter revolutionärer Theorien zu wiederholen, deren Verschleiss ihnen durch die blosse Tatsache verborgen bleibt, dass sie nicht versuchen, sie auf irgendeinen tatsächlichen Kampf anzuwenden.

Wer die Realität, in der er oder sie lebt, wirklich grundlegend verändern will, wird sich mit keiner Illusion begnügen. Wer die Leidenschaft für Subversion besitzt, will sofort etwas tun. Darum lasst uns alle Modelle verlassen und unsere Möglichkeiten studieren.

Das Erbe der Geschichte

Wir leben in einem Land, in dem sich die kapitalis-tische Herrschaft so ungestört wie selten irgendwo verfestigen konnte. Wenn wir die Geschichte revolutionärer Kämpfe betrachten, können wir das Gefühl nicht leugnen, auf einer Insel der Befriedung zu leben. Scheinbar seit jeher von der demokratischen Illusion umwoben, hat die schweizer Bevölkerung, zumindest seit Beginn der Industrialisierung, kaum tief einschneidende Klassen-konflikte erlebt, die ganze Bevölkerungsschichten dazu gebracht hätten, sich mit sozialrevolutionären Ideen auseinanderzusetzen. Keine grösseren Aufstände, die versuchten, gleichzeitig mit dem gesamten politischen System, alle Gewohnheiten und Traditionen zu untergraben. Dieses Völkchen und seine Geschichte zeugen wenig von Abenteuerlust, aber von einer Unmenge an Gemeinplätzen, die schon viel zu lange unangetastet blieben.

Auch die grossen ideologischen Konflikte zwischen den unterschiedlichen Herrschaftsformen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Faschismus, Staatskommunismus, Demokratie,…) gingen in ihren groben Linien, wenn auch nicht ohne sie unberührt zu lassen, an der Schweiz vorbei. Während sich die Regierenden (und viele Bürger) in den Deckmantel der “Neutralität” hüllten, diese verwerflichste aller Positionen, kamen sie den bedrohlichen Mächten hier und dort mit Anordnungen und Massnahmen entgegen, um die Schweiz als sicheren Umschlagplatz des internationalen Kapitals, egal welchen ideologischen Gewands, aufrechtzuerhalten. Diese Neutralität, die nichts anderes als die Verteidigung der Demokratie als die den modernen Bedingungen am besten angepasste Form der Herrschaft ist, scheint sich allgemein im Sinne einer gewissen Unnahbarkeit gegenüber Ideen breitgemacht zu haben, die die bestehenden Verhältnisse allzu tief in Frage stellen.

So wählen und initiieren die pflichtbewussten Bürger dieser wertvollen partizipativen Demokratie seit Jahrzehnten und Jahrzehnten, ohne dass es jemals notwendig geworden wäre, eine wirkliche Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die den Rahmen der Politik verlässt, eine, die Delegation und Passivität ausschliesst, da sie unmittelbar das eigene Leben betrifft: in einer aufständischen Situation entweder, zu Gunsten der Herrschaft, die bestehenden Verhältnisse zu verteidigen oder, zu Gunsten der Freiheit, für ihre fundamentale Umwälzung zu kämpfen.

Das Erbe dieser Geschichte, dieser Spärlichkeit an sozialen Konflikten ist jene Verkümmerung der Vorstellungskraft, die wir heute oft erleben, wenn wir das Wort Revolution bloss in den Mund nehmen; es ist ein Mangel an subversiven Ideen, die durch solche Konflikte wachsen und sie wiederum provozieren könnten, sowie ein Mangel an Kampferfahrungen, auf die man zurückgreifen und die man weiterentwickeln könnte; es ist eine Generation, die die Möglichkeiten kaum erwägt, die einst andere in Massen zum Ansturm auf diese Welt verleiteten.

Doch uns liegt gewiss nicht daran, den resignierten Jammerdiskurs jener weiterzuführen, die ihre eigene Untätigkeit auf irgendwelchen mangelnden Bedingungen begründen. Diese “mangelnden Bedingungen“ können für uns nur eines Bedeuten: uns umgehend daran machen, jene herbeizuführen, die wir wünschen.

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Was uns ermutigt, sind nicht die Beschreibungen der desolaten Landschaft, die uns heute umgibt, der ach so umfassenden Entfremdung und ausgefeilten Machtverhältnisse, sondern die Ideen und Handlungen der Individuen, die sich ihnen trotz allem entgegenstellten. Darum lasst uns hier bekräftigen, dass das Erbe unserer Geschichte nicht nur die Hegemonie der Macht ist, sondern, wenn auch manchmal etwas verstaubt, ebenso Erfahrungen und Überlegungen in ihren verschiedensten Formen sind, die hier und sonstwo im Kampf gegen sie gemacht und entwickelt wurden. Wenn wir ersterer klar ins Gesicht blicken wollen, dann nicht ohne uns an zweiteren zu stärken. Denn den Traum, den wir weiter spinnen wollen, haben schon Unzählige vor uns zu träumen begonnen; der Kampf für die grösst mögliche Emanzipation der Menschen, den wir weiterführen wollen, jenes schönste Werk in einer von der Pest der Autorität vergifteten Welt, ist reich an Beiträgen von tausend Individuen, an tausend Orten zu tausend Zeiten.

Darum fasziniert uns die historische Bewegung anti-autoritärer Ideen und der Kämpfe gegen Unterdrückung in all ihren Formen. So denken wir durchaus nicht, dass wir in einer ewig langweiligen Gegend leben, bar jeglicher interessanter Ereignisse, ein Land ohne Geschichte, wie viele behaupten. Tatsächlich schien die Schweiz bisher eher Laboratorium von Ideen, Verschwörungsort und Exil für verschiedenste Revolutionäre gewesen zu sein, als konkreter Nährboden für grosse Revolten. Wir sehen aber ebenfalls, dass es dem Staat besonders leicht gelang, die Spuren jener einstigen Kämpfe, die es auch hier gab, zu verwischen, oder zumindest, ihre Bedeutung zu entwenden. Für heutige Kämpfe kann es gewiss wichtig und inspirierend sein, diese Geschichte genauer auszuleuchten. Was diesen Text betrifft, so wäre das jedoch ein Unterfangen, das seinen Rahmen übersteigt. Wir wollen uns vorerst mit einem kurzen historischen Abriss begnügen.

Die Geschichte anarchistischer Ideen in der Schweiz weist weit zurück, wenn nicht bis zu deren Anfängen selbst. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts fanden in den jurassischen Bergen revolutionäre Gemüter zusammen und trieben in Zeitschriften und anderen Publikationen die Entwicklung anti-autoritärer Ideen voran. Dort ist es auch, in St. Imier, um genau zu sein, wo sich 1872, nach den Auseinandersetzungen in der 1.Internationalen Arbeiterassoziation, deren anti-autoritäre Abspaltung zusammenfand. Zu dieser Zeit, die Zeit nach der Pariser Kommune und ihrer blutigen Niederschlagung, der Konstituierung dessen, was sich als internationale Arbeiterbewegung in die Geschichte einschrieb, und vieler revolutionärer Aufstände in umliegenden Ländern, frequentierten viele Anarchisten und Revolutionäre die Schweiz – manchmal auf der Durchreise, oft auf der Flucht. Während immer wieder einige von der schweizer Polizei verhaftet und ausgeliefert wurden, widmeten sich andere, während sie sich hier aufhielten, der Agitation und Verbreitung ihrer Ideen. Verschiedene internationale anarchistische Zeitschriften wurden hier verfasst und in von Gefährten aufgebauten Druckwerkstätten gedruckt. Die anarchistische Diskussion schien lebhaft und stark mit den Kämpfen in anderen Ländern verbunden. Davon zeugt die ab 1900 über 50 Jahre lang in Genf (während des 2. Weltkriegs im Untergrund) gedruckte, französisch- und italienischsprachige Zeitschrift Le réveil anarchiste (ab 1903 existierte auch einige Jahre lang eine in Zürich erscheinende, deutschsprachige Version). Über die meiste Zeit ihres Bestehens wurde die Zeitschrift alle zwei Wochen in anarchistischen Zusammenhängen und offen auf der Strasse verteilt. Die Flugblätter und Artikel, die wir aus dieser Zeit kennen, sprechen oft, und mit einer heute selten gewordenen Selbstverständlichkeit, von der Suche nach einem aufständischen Bruch mit der bestehenden Ordnung, vom gelebten Auseinandersetzen und Experimentieren mit möglichen Wegen, dahin zu gelangen. Einserseits wurden Kämpfe auf eignen Grundlagen lanciert, wie jener gegen den Militarismus, der sich vor allem während der Weltkriege entwickelte und deutlich andere Wege einschlug als jener der pazifistischen Tendenzen, andererseits intervenierten viele Anarchisten mit den eigenen Ideen und der eigenen Tatkraft überall dort, wo sich soziale Spannungen zeigten, wie in die immer wieder aufflammenden Arbeiterkämpfe, die auch hier die fortschreitende Industrialisierung begleiteten.

Schon 1832 wurde in der Nähe von Uster eine der ersten industriellen Webereien von aufgebrachten Handwerkern in Brand gesteckt. Es liegt nahe, dass sie in ihr das Zeichen einer neuen Ära der Ausbeutung, Entfremdung und Unterwerfung durch die Maschinen erkannten. Unzählige Handwerker und Bauern wurden in diesen Jahren ihren, gewiss ebenso von Hierarchien und Unterdrückung durchdrungenen ländlichen Gemeinschaften entrissen und in den Städten und Fabriken zusammengepfercht. Das Zürcher “Niederdörfli“ glich einem Elendsviertel, wie man es sich zwischen den heutigen Einkaufspassagen kaum noch vorstellen kann. 14-16 Arbeitsstunden pro Tag und Kinderarbeit gehörten in den Fabriken zur Normalität. Auf diese Umstände konzentrierten sich auch die Forderungen, die sich in den aufeinanderfolgenden Kämpfen artikulierten.

Schon damals stützte sich die nationale Ökonomie in ihren monotonen, strengen und schädlichen Arbeiten (Textil-, Handwerks- und Schwerindustrie) stark auf ausländische Gastarbeiter, die durch ihren Status unter besonders üblen Bedingungen ausgebeutet werden konnten. So gingen auch viele Arbeiter-unruhen von diesen (hauptsächlich italienischen) Migranten aus, die zum Teil Kampferfahrungen aus ihrem Land miteinbringen konnten. Wenige wissen heute, von dem 1875 blutig niedergeschlagenen Streik von etwa 1‘000 Gotthardtunnelarbeitern in Göschenen, oder von den zahlreichen wütenden, durch massenhafte Arbeitslosigkeit und elende Wohn- und Arbeitsverhältnisse hervorgerufenen Demonstrationen Anfangs 19. Jahrhunderts, die in vielen Schweizer Städten zu Unruhen übergingen. Zu dieser Zeit vermischte sich die Unzufriedenheit der Ausgebeuteten leicht mit den aufkeimenden revolutionären Ideen und nicht selten wurde ihnen durch die Intervention des Militärs ein tödliches Ende bereitet. Der schweizer Staat wusste, durch die günstige Behandlung des Bauernverbandes, die bäuerlichen Truppen stets an seiner Seite, wenn es um die Bekämpfung der Arbeiterinteressen ging. So war es auch bei den verschiedenen Generalstreikversuchen, deren Idee als essenzielles Mittel zur Selbstbefreiung des Proletariats schon lange vor dem grossen Schweizer Landesgeneralstreik 1918, bei dem etwa 300‘000 für drei Tage die Arbeit niederlegten, in anarchistischen Zeitschriften entwickelt und propagiert wurde. Während der Landesgeneralstreik selbst, aufgrund seines stark institutionellen und reformistischen Charakters, auf wenig Interesse stiess, schien die anarchistische Agitation bei anderen, zwar begrenzteren, aber spontaneren und konfliktreicheren Generalstreikversuchen umso enthousiastischer (wie in Genf 1902, in der Waadt 1907 oder in Zürich 1912).

Eine solche Dynamik zwischen einer lebhaften anarchistischen Diskussion und bestehenden sozialen Spannungen nahm gegen Mitte des 20. Jahrhunderts nach und nach ab. Während das Kapital den Arbeitenden infolge ihrer Kämpfe eine Palette sozialer Sicherheiten zugestand (bessere Arbeitsbedingungen, Versicherungen, etc.), um sich den “Arbeitsfrieden“ zu erkaufen, machte es sich daran, die gefährlichen Milieus, die grossen Fabriken und Viertel, wo es die Ausbeutung einst selbst konzentrierte, wieder zu zersetzen und die ganze Industrie einer tiefgreifenden Restrukturierung zu unterziehen. Doch entgegen dem, was die Reformisten gerne behaupten, denken wir nicht, dass das Kapital den Forderungen der “Arbeiterbewegung“ nur infolge des “aufgebauten Drucks“ entgegenkam, sondern, dass die Ausbeutungsverhältnisse meistens erst dann angepasst wurden, wenn die Produktionskraftentwicklung es auch ermöglichte oder gar erforderte. So dränge es sich beispielsweise auf, die Arbeitszeiten zu verkürzen, da die Automatisierung der Produktion, die zur Gewährleistung der Kapitalakkumulation notwendig war, eine immer grössere Arbeitslosigkeit mit sich brachte. In Anbetracht dessen, dass die grosse Weltwirtschaftskrise unter anderem entstand, da zu viel produziert, aber zu wenig konsumiert wurde, mussten nun einerseits die Arbeitsstunden zurückgeschraubt, andererseits die Stunden des Konsums ausgedehnt werden (der Tag bestand also noch immer aus gleichviel toter Zeit). So konnte zugleich der hohen Arbeitslosigkeit, den ökonomischen Widersprüchen, sowie der Wut der Arbeiter entgegengewirkt werden.

Für die Verkürzung der Arbeitszeit zu Kämpfen, bedeutete also, von einem revolutionären Standpunkt aus gesehen, nichts anderes, als dem Kapital beim aufkommen von Widersprüchen zu einer Lösung zu verhelfen. So, wie es im Grunde bei jeder fordernden Bewegung der Fall ist. Was nicht heissen soll, dass in diesen Arbeiterkämpfen keine essentiellen Erfahrungen mit Selbstorganisation, Sabotageakten oder Revolten gemacht wurden, dass in Teilkämpfen nicht immer auch das Potential besteht, zu einer revolutionären Infragestellung der Gesamtheit zu gelangen. Doch dies sind stets Momente, in denen es nicht darum geht zu “fordern“, sondern anzugreifen und sich zu “nehmen“…

Auch das Kapital zog seine Lehren aus dieser Episode. Die rasante technologische Entwicklung ermöglichte es ihm, allzu deutliche soziale Misstände zu zerstreuen, das heisst, die Arbeitenden immer mehr voneinander zu isolieren und das Eindringen der Ware in jeden Aspekt unseres Lebens voranzutreiben. Die Gewerkschaften und die Linke spielten ihre historische Rolle als Rekuperateure der Konflikte und lehrten den Ausgebeuteten gut, sich stets mit dem geringeren Übel abzufinden: das, was mittlerweile scheinbar zur Leitmentalität dieser Gesellschaft geworden ist.

Doch nach Jahrzehnten relativer Windstille sollte noch einmal ein revolutionärer Ansturm etwas überall in Europa die Strassen, Fabriken und Hochschulen erfassen und diese Welt in ihren Grundfesten in Frage stellen. Der revolutionären Theorie gelang es endlich, die starren, längst veralteten Modelle zu verlassen und sich mit der neuen Situation zu konfrontieren. Von diesem Sturm, der Ende 60er bis Ende 70er Jahre gleich neben uns, in Frankreich und Italien, besonders stark wütete, war hierzulande leider nur eine leichte Brise zu vernehmen.

Hier verbreitete sich mit der nuklearen Frage in den 70er/80er Jahren zum letzten Mal eine grössere radikale Bewegung, die sich über alle sozialen Kategorien hinweg ausbreitete und Konflikte im ganzen Land provozierte. Vielleicht, weil es dabei um eine Frage ging, bei der es offensichtlich war, dass sie alle betrifft.

Seither tun sich soziale Kämpfe rar, die nicht auf ein bestimmtes Milieu beschränkt bleiben, wie es bei jenen um besetzte Häuser und “Alternativkultur“ der Fall war und ist, deren massivster Ausdruck wohl die “Zürcher Unruhen“ Anfangs 80er Jahre waren. Ohne den Enthousiasmus jener Leute zu negieren, die auch in ihnen nach einer Vertiefung und Ausweitung auf eine revolutionäre Ebene suchten, gelang es diesen Kämpfen kaum, ihren partiellen Charakter zu verlassen. Einem wirklich revolutionären Diskurs muss es gelingen, anhand jeder Thematik aufzuzeigen, wieso sie alle etwas angeht, ob es sich nun um die AKW‘s oder um das geistige und kulturelle Elend handelt. Gleichzeitig kann er sich nicht auf eine Thematik beschränken, sondern muss damit enden, alles in Frage zu stellen. Indem man es zuliess, die Bewegung der Zürcher Unruhen so stark an der Frage des AJZ festzumachen, machte man es dem Staat allzu leicht, sie mit der “Eröffnung eines Dialogs“ und einem “Entgegenkommen“ zu beschwichtigen: das Schicksal einer jeden Bewegung, die Verhandlungspartner akzeptiert. Gewiss, auch hier wurden gemeinsame Erfahrungen von offensiver Selbstorganisation gemacht und diese haben ihren Wert, doch der Mangel an tiefergehenden Verlangen bot ihnen keinen Boden, um weiterzuwachsen. So vegetieren heute die meisten Überbleibsel dieser Jahre in irgendwelchen alternativen Nischen dahin, während andere in fatalistischer Desillusioniertheit vereinzeln. Einst subversive Ideen wurden immer mehr zu Identitäten – und somit zu etwas Getrenntem, das isoliert oder integriert werden kann.

Diese Zerstreuung und Wiedereingliederung, wie sie in irgendeiner Form auf alle überwundenen Kämpfe zu folgen scheint, ist ein zweiseitiger Prozess. Sie geschieht gewiss seitens der Revoltierenden, infolge der Schwäche ihrer Verlangen, die sich täuschen oder kaufen lassen, aber auch seitens des Kapitals, das aus den artikulierten Verlangen seine Lehren zieht und Massnahmen ergreift, um deren falsche Befriedigung im Rahmen der herrschenden Logik wieder anzubieten. Deshalb halten wir es für so wichtig, diese Mechanismen in unseren Kämpfen von Anfang an deutlich aufzuzeigen. Während es bei den Kämpfen gegen die miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen die Gewerkschaftler waren, die irgendwelche sozialen Sicherheiten aushandelten, die die Arbeiter gleichzeitig beschwichtigten und wieder stärker an den Staat banden, so bildete sich die Fusstruppe der Rekuperation nach den Kämpfen gegen das kulturelle Elend aus dem alternativen Kulturschaffenden, dem genossenschaftlichen Kleinunternehmer, dem NGO-Ökologisten, dem “Aussteiger“ der Landkommune, dem kritischen Künstler (ja, selbst jenem kritischen Künstler, der kritische Künstler kritisiert),…

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Heute wirken die Ausbeutungsverhältnisse subtiler als noch vor einigen Jahrzehnten – was sie nicht erträglicher, aber weniger greifbar macht. Allzu grobe Hierarchien wurden zerstückelt, die Produktionsverhältnisse grösstenteils automatisiert und bürokratisiert. In der Ausweitung des Dienstleistungssektors hat die Kapital-akkumulation scheinbar endlos fruchtbaren Boden gefunden. Die stockenden sozialen Mechanismen wurden ausgefeilt. Die Maschine läuft geschmiert. Dies ist zumindest der Anschein, den man uns an jeder Ecke zu präsentieren versucht.

Die Leute arbeiten und konsumieren, und beschäftigen sich mit all den belanglosen Fragen, mit denen uns die Politiker das Gefühl geben wollen, irgendwie über unsere Lebensbedingungen bestimmen zu können. Der Journalist kümmert sich darum, unsere eigene Denkfähigkeit in der täglichen Informationsflut zu ertränken, während er jegliche Ereignisse, die etwas aufrüttelnd sein könnten, aus seinem demokratisch-polizeilichen Blickwinkel verzerrt oder schlicht und einfach verschweigt. Der brave Bürger durchquert in normiertem Schritt die Strassen und versucht mit seinen warenförmigen Freuden die geistige Leere zu kompensieren, die seinen Alltag füllt. Der Fabrikarbeiter schläft in einer abgelegenen Blocksiedlung, die er auch zum Einkaufen nicht zu verlassen braucht, und arbeitet in Industriezonenen, von denen die meisten kaum wissen, dass sie überhaupt existieren. Der Alternative hat seine Räume, wo auch die “Widerständigkeit“ von jenen, denen die Grauheit und Kälte des kapitalistischen Alltags entsagt, innerhalb der Warenlogik ausgelebt werden kann. Jeder hat seine Rolle, jeder seinen Platz.

Währenddessen versuchen sich jene, die sich täglich über die Runden zu kämpfen haben, so gut es geht nichts anmerken zu lassen, denn der Druck der Normen wiegt schwehr, der Anblick von Armut ist auf der Strasse nirgends erwünscht. In den letzten Jahrzehnten gelang es dem Schweizer Staat besonders gut, das bestehende materielle Elend zu zerstreuen und zu isolieren. Wer die Veränderung der Strassen und Plätze im Zürich der letzten 20 Jahre mitverfolgte, hat deutlich gesehen, wie ihm Repression und Architektur dabei halfen. So vernehmen wir selbst in sozialkritischen Kreisen immer wieder die etwas naive Ansicht, hier gehe es niemandem wirklich schlecht. Als ob die Armut, auf die sich das kapitalistische System seit jeher stützte, wirklich verschwinden würde, wenn man sie von der Bildfläche verdrängt. Und als ob die Armut nicht auch in der Verarmung der Beziehungen, der Denkfähigkeit und der Emotionen liegt, die uns, und allen, die noch etwas Lebensanspruch in sich haben, täglich vor den Kopf stösst.

Tatsächlich sind sich so einige der Verarmung des Lebens durchaus bewusst. Doch, wie gesagt, wir leben in einer Welt des “geringeren Übels“. Dieses haben wir zum Preis eines gesicherten Überlebens alle in Kauf zu nehmen und dieses ist auch die Grundlage, auf der diese Welt argumentiert: «Ich oder die Armut, ich oder der Tod, ich oder das Chaos, die Gewalt, die Katastrophe, das Ungewisse…».

Trotz der vorherrschenden sozialen Befriedung, könnten wir behaupten, dass sich diese Gesellschaft weniger auf die von ihr erreichte Gutheissung, sondern eher auf ihre Akzeptanz stützt. Wir akzeptieren sie als unsere natürliche Umgebung, da wir nichts anderes kennen. Sie hat die aktive Zustimmung, die sie zu Zeiten grosser macht-bedingter oder ideologischer Interessenskonflikte unter den herrschenden Klassen (vor der Staatsräson, während der Weltkriege) noch suchte, nicht mehr nötig. Die totalitäre Warendemokratie kann sich heute als “beste aller möglichen Welten“ behaupten, ohne in wirklicher Konkurrenz mit anderen ideologischen Entwürfen zu stehen. Sie hat im Grunde alle Ideologien unter einer einzigen vereinigt: unter dem globalen Spektakel, das, hinterlegt von einer Bilderflut, seinen ununterbrochenen Monolog hält.

Wenn sich diese Gesellschaft vor allem auf die Aufrechterhaltung ihrer allgegenwärtigen Rechtfertigung und weniger auf grosse Ideen stützt, die nach Zustimmung suchen (die Zeit der grossen Ideen gehört angeblich der Vergangenheit an, die sie jetzt als getrennte Geschichte zur Schau stellt), dann zeigt sich darin auch ihr Schwachpunkt: Jeder Moment birgt die Möglichkeit, diese Rechtfertigung zu durchbrechen. Eine falsche Idee am falschen Ort zur falschen Zeit… darin liegt unsere Stärke. Die Geschichte hat gezeigt, wie aus der sozialen Qualität anti-autoritärer Ideen, von einer entschlossenen Minderheit in den Nihilismus dieser Epoche gesäht, immer wieder Aufstände hervorbrachen, die von niemandem vorauszusehen waren.

Ideen und Perspektive

Es scheint Heute deutlicher denn je, dass das Konzept der “Gegeninformation“ nichts taugt. Wir würden uns offensichtlich nicht in der Situation befinden, in der wir uns befindenen, wenn die Vorfälle, die die Arroganz der Macht ans Licht bringen, noch immer eine Wut provozieren würden, die fähig wäre, ganze Strassen und Plätze zu füllen. Viele sind sich dessen bewusst, was so passiert, doch dieses Wissen bewirkt keine Reaktion. Um uns herum, sowie in uns selbst hat sich eine gewisse Abgestumpftheit breitgemacht. Eine Apathie, die, vielleicht wichtig zu erwähnen, in den meisten Fällen auch eine Art Selbstschutz darstellt. Das Gewicht all der Übel, von denen wir erfahren, mit dem eigenen Herzen aufzunehmen, wäre als Mensch kaum ertragbar. Wir sehen keinen Sinn darin, schlicht den Lautstärkepegel des Weltschmerzes hochzudrehen, um diese Apathie zu durchbrechen. Ebensowenig wollen wir die Menschen davon überzeugen, ihre eigene Situation als Elend zu erkennen. Vielmehr denken wir, dass, von dem Moment an, wo sich die Menschen ein anderes, schöneres Leben vorstellen können, ein anderes Licht auf ihre Situation fällt, und sie entscheiden, dass sie ein Elend ist.

Sei es in Gegenden, in denen der soziale Frieden hartnäckig erhalten wird, wie hier in der Schweiz, oder in Gegenden, in denen er immer mehr zu brechen beginnt, unter Anarchisten ist, seit den letzten revolutionären Vor-stossen vor einigen Jahrzehnten, überall ein starker Mangel an positiven Perspektiven innerhalb der sozialen Konfrontation vorzufinden, die über den grundlegenden Moment des Negativen, das heisst, über die reine Kritik und die zerstörende Gewalt in der Revolte hinausgehen. Den sozialen Frieden zu durchbrechen ist zweifellos eine Notwendigkeit, aber nicht die Perspektive. Dies wollen wir auch hier lieber früh genug bekräftigen, denn wir sehen die Falle, sich in einer blossen Radikalisierung der Angriffe zu verrennen (was nicht bedeutet, der Radikalität der Angriffsformen Grenzen zu setzten, sonderen bloss, je nach Kontext, die Grenzen der jeweiligen Formen zu erkennen, was die Verbreitung der dahinterliegenden Ideen betrifft). Mit einer positiven Perspektive meinen wir schlicht, mit Worten und Taten nicht nur das zu bekräftigen, wogegen wir kämpfen, sondern auch das, wofür. Die Intensivierung, von der wir denken, dass sie eine solche Perspektive aufbringen kann, ist die der Subversion in sozialer und alltäglicher Hinsicht. Egal in welchem Land wir uns befinden, wenn wir nach einem aufständischen Bruch mit allen Autoritäten streben, oder zunächst nach einer sozialen Verbreitung von Akten der Revolte, dann ist es ebenso essentiell, wie mit konkreten offensiven Handlungsvorschlägen zu experimentieren, möglichst klar von den Ideen zu sprechen, die uns bewegen. Mehr denn je in Zeiten, in denen dort, wo eine gewisse soziale Spannung besteht, die Konflikte zunehmends bürgerkriegsähnliche Allüren annehmen, das heisst, den vom Kapital gesähten Verwirrungen folgen (ethnische, religiöse, nationalistische Konflikte), während in befriedeteren Gebieten jene, die danach suchen, den Konflikt zwischen sich und der Welt auszuleben, kaum mehr Wege kennen, die sich jenseits der Logik von Politik und Institutionen erstrecken, wo dieser Konflikt stets in den demokratischen Wirrungen versiegt.

Sich selbst und der Welt gegenüber immer fremder, verlieren sich heute die meisten, denen es weder gelingt, sich in dem Regelwerk dieser Gesellschaft zurechtzufinden, noch ein Zurechtfinden gegen sie zu entwickeln, in der Orientierungslosigkeit – davon spricht nicht nur die hohe Selbstmordrate, die verbreitete Depression, die willkürliche Gewaltbereitschaft und ein gewisser Selbstzerstörungskult, sondern auch die triste Suche nach institutionellen Strukturen, „um seinem Leben Sinn und Halt zu geben“.

Wir denken, dass die Würde und die Lebenslust, die so vielen täglich genommen wird, nur in der Auflehnung gegen alles, was Ursache dieser Enteignung ist, zurückerobert werden kann.

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Mit dem Eindringen der Logik der Autorität und der Ware in jeden Aspekt unseres Lebens, mit der technologischen Vertiefung der Kontrolle, mit der Unwiderruflichkeit von genmanipulierten Organismen und nuklearen Strahlungen, ist es dem Kapital während der vergangenen Jahrzehnte endgültig gelungen, seinen Horizont totalitär zu machen. Die allumfassende Verschmutzung und Entfremdung hat nicht nur jede Möglichkeit eines autonomen Experimentierens mit anderen Lebensweisen beseitigt, sondern ist heute dabei, deren blosse Denkbarkeit zu verdrängen. So bleibt jenen, die sich nicht mit dem Bestehenden zufriedengeben wollen, nicht viel mehr als eine blosse Ahnung, dass hinter diesem Horizont doch etwas ganz anderes möglich sein muss. Eine Möglichkeit, die wir alle manchmal spühren. In jenen Momenten, in denen wir unser Leben dem Zugriff der Autoritäten zu entreissen versuchen, im Kampf gegen sie mit freien Beziehungsformen experimentieren und unsere Umwelt nicht mehr als unantastbare Gegebenheit betrachten. So schwer es auch ist, dieser Möglichkeit einen Ausdruck zu geben, während wir uns nur Worten und Erfahrungen bedienen können, die unweigerlich an die vorherrschende Entfremdung gebunden sind, ist es heute wohl notwendiger denn je, auf alle möglichen Arten und Weisen von ihr zu sprechen.

Doch eben weil wir alle Kinder des Kapitals sind, kann es nicht darum gehen, nein, würde es uns zutiefst widerstreben, Entwürfe einer anderen Lebensweise in einer utopischen Zukunft zu skizzieren und zu propagieren, wie es z.B. manche Anhänger des “Lebens auf dem Lande“ tun. Wir wollen die Träume der Menschen stimulieren, nicht vorkauen. Und ausserdem, als ob wir uns mit dem zufrieden geben könnten, was wir uns heute vorstellen können, als würden unsere Verlangen, nach all den Erfahrungen, die wir durchlebten, würden wir uns wirklich die Möglichkeit erkämpfen, unser Leben frei zu erschaffen, nicht uns noch völlig unbekannte Wege gehen.

Worum es uns geht, ist, wie wir gerne wiederholen, von unseren Ideen zu sprechen: von sozialen Beziehungen, die auf gegenseitiger Hilfe beruhen und keine Autorität unter sich zulassen, von der freien Entfaltung der Individualität, die alle auferlegten sozialen Rollen missachtet, vom nicht-institutionellen und nicht-repressiven Umgang mit Problemen und Konflikten, von der Selbstorganisation und dem Verlangen, selbst Herr über jeden Moment unseres Lebens zu sein, von einem Leben ohne Staat, Geld, und Bürokratie, von der Entfesselung der Leidenschaften und dem Durst nach neuen Gedanken und Erfahrungen – in einem Wort, von der Freude am zügellosen Leben, und allem, was sich davon ableitet. Es bleibt der Vorstellungskraft eines jeden überlassen, wie ein solches Leben vielleicht einmal aussehen könnte.

Da wir aber materialistische Revolutionäre sind, und nicht bloss idealistische Träumer, wollen wir in erster Linie all diese Ideen mit dem verbinden, was sie für uns jetzt, in dieser Situation bedeuten, in der sie sich mit einer Welt konfrontiert sehen, die ihnen grundlegend entgegensteht. Darum wollen wir, wenn wir von diesen Ideen sprechen, vor allem von der Möglichkeit sprechen, sie im Kampf gegen diese Welt bereits so weit wie möglich zu verwirklichen.

Die Ansicht, dass die Ziele nicht von den Mitteln zu trennen sind, und die Methoden des Kampfes bereits Einblick in das Leben geben, wofür wir kämpfen, ist schliesslich das, was uns als Anarchisten charakterisiert. Umso trauriger ist es zu sehen, an welchem Tiefpunkt die Diskussion über diese Mittel und Methoden heute angelangt ist. Eine Diskussion, die wohl so alt ist, wie die anarchistische Bewegung selbst, und stets ein Indikator ihrer Lebendigkeit war. Wenn wir die hiesige “revolutionäre“ Landschaft betrachten, allzu sehr von Repräsentationspolitik, inhaltlicher Vagheit und einer Leere an offensiven Projekten dominiert, drängt sich der Eindruck auf, “anarchistisch“ sei eher ein von irgendwelchen Personen oder formellen Organisationen wie ein Schmuckstück umgehängtes Adjektiv, als eine relativ konkret mit gewissen Vorgehensweisen verbundene Art und Weise zu kämpfen. Allzu oft verdrängen taktische Erwägungen, die meistens in den Wert- und Masseinheiten dieser Gesellschaft gefangen bleiben, die Ethik und die Ehrlichkeit in der Aktion. Aber ist es nicht das, was uns von all den politischen Abenteurern unterscheidet? Natürlich, ohne repräsentative Organisation, Spezialisierung, Hierarchien und taktischen Opportunismus zu kämpfen, mag zunächst wenig effizient erscheinen. Darauf können wir erwidern, dass der Sinn dessen, was wir tun, der Aktivität selbst, und nicht der Anzahl unmittelbarer quantitativer Resultate anhaftet. Ausserdem haben wir oft genug gesehen, dass die sozialen Kräfte unvorhersehbar sind, und somit nicht in Zahlen zu bemessen. Was wir wahrnehmen, sind im Grunde nur die ersten sich bildenden Ringe, von den Steinen, die wir ins Wasser werfen.

Eine Wiederbelebung der anarchistischen Bewegung (jene der direkten Aktion, um uns richtig zu verstehen, jene die unabhängig von der anarchistischen Föderation und dem Syndikalismus existiert) setzt zunächst voraus, diese Debatte über das «Wie kämpfen?» erneut zu entfachen – auf theoretischer Ebene, sowie anhand von konkreten Umsetzungsversuchen in der Praxis.

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Präzisieren wir einige Punkte:

aus der Verweigerung der Autorität in all ihren Formen, weisen wir Avantgardismus und Spezialisierung sowohl auf theoretischer wie auf praktischer Ebene zurück; das heisst, ebenso irgendwelche Organisationen und Parteien (auch imaginäre), die Anhänger um sich scharen oder den Anspruch erheben, den theoretischen Prozess der Emanzipation zu leiten, sowie die Überordnung irgendeines Mittels der Subversion über andere, wie beispielsweise die Verherrlichung des “bewaffneten Kampfes“, die diesen als höchstes Mittel präsentieren will, während sie nur die Reduzierung des ganzen Spektrums der Subversion auf das blosse Mass an Gewalt und auf einen Zweifrontenkrieg mit den Kräften des Staates ist. Wir lassen keine Hierarchie unter den Mitteln zu, ein Sprengstoffanschlag hat die selbe Würde wie ein Flugblatt. Die Frage ist bloss, was, wann, wie, wo am angebrachtesten ist, um die Umwälzung der Beziehungen voranzutreiben.

Aus der Bekräftigung der freien Entfaltung der Individuen weisen wir alle starren und formellen, wenn auch “kämpferischen“ Kollektivitäten und Organisationen zurück. Stattdessen suchen wir nach flexiblen Momenten der Kollektivität und einer lebendigen Organisation tatsächlicher Bedürfnisse, mit denen wir uns in der gemeinsamen Bekämpfung dieser erdrückenden Welt gegenseitig den notwendigen Raum verschaffen, um die eigene Individualität zu entfalten, und nicht die Starrheit einrichten, die sie erstickt.

Aus der Missachtung aller sozialen Rollen, die uns aufgedrückt werden, halten wir es für notwendig, in unseren Kämpfen diese Rollen wann immer möglich zu zersetzen. Daher denken wir, dass wir genauso selbstverständlich wie wir die Unterdrückung einer gewissen sozialen Kategorie (Migranten, Frauen, Homosexuelle, etc.) zurückweisen, auch die Umkehrung davon, nämlich, die Bekräftigung einer gewissen sozialen Kategorie, um eine spezifische Unterdrückung zu bekämpfen zurückweisen sollten. Wenn wir wirklich alle sozialen Rollen zersetzen wollen, müssen wir uns endlich jenseits aller Kategorien als Individuen begegnen und können wir eine spezifische Unterdrückung nicht bekämpfen, ohne jegliche Unterdrückung zu bekämpfen.

Wenn wir behaupten, dass heute die einzig mögliche Selbst-organisation, die Selbstorganisation des Kampfes ist, dann weil wir denken, dass es nur in einem Bruch mit dem Bestehenden möglich ist, sich dem Zugriff der Autoritäten wirklich zu entziehen. Daher wollen wir den Gebrauch von direkten Aktionen, Sabotageakten, Blockaden, kollektiven Revolten und anderen Mitteln, die einen unmittelbaren Angriff jenseits von Delegation und Repräsentation ermöglichen, stets verteidigen und vorantragen. Daher verwerfen wir alle Gewerkschaften, auch die “anarchistischen“, und alle programmatischen Organisationen, die die Ausgebeuteten und Unzufriedenen bloss davon abhalten, sich selbst zu organisieren. Daher wollen wir die Möglichkeit der Selbstorganisation im Kampf durch Worte und Taten so sichtbar wie möglich machen.

Wenn wir uns die Entfesselung der Leidenschaften wünschen, dann weil sie die treibende Kraft ist, die uns ohne Berechnung das nach Aussen tragen lässt, was wir in uns tragen. Sie ist der Irrealismus unserer Träume, der in die Wirklichkeit bricht. Ein Mensch, der etwas leidenschaftlich will, wird sich mit keiner Illusion zufrieden geben, er will alles, und zwar jetzt sofort. Diese Entfesslung mag manchmal zäh sein, denn die Fesseln der Berechnung und der Sicherheit sitzen fest, doch scheint es uns eher nach Krampf als nach Kampf, wenn der Wille zu Handeln das blosse Produkt des Verstandes und nicht auch das innige Drängen unserer Leidenschaft ist. Angesichts unserer Begierden, kann die Angst nur eine überwindbare Hürde sein.

So gehen die Gründe, die uns zur Revolte verleiten, nicht aus dem Streben nach einem utopischen Paradies, nicht aus einer moralischen Erpressung mit dem Elend anderer und auch nicht aus der katastrophistischen Dringlichkeit einer zugrundegehenden Welt hervor, sondern zunächst und vorallem aus dem Willen, uns bereits jetzt, indem wir den persönlichen Konflikt mit dieser Welt ausleben, jenes Wohlgefühl zu verschaffen, jene Stückchen Freiheit zu geniessen, die wir empfinden, wenn das Denken mit dem Handeln einig ist. Weit mehr als eine blosse “Meinungsverschiedenheit“, ist es die Art und Weise selbst, die Existenz zu betasten, was uns von jenen unterscheidet, die sich mit den herrschenden Lebensbedingungen zufriedengeben können. In einer Welt, in der jeder nach seiner Rolle zu funktionieren hat, in der nicht nur Fügsamkeit, sondern auch Langeweile den Alltag regieren, verlangt es uns nach noch nie gedachten Gedanken, noch nie getroffenen Personen, noch nie erlebten Erfahrungen, noch nie erarbeiteten Fähigkeiten, von denen wir mit jedem gewagten Schritt, mit jeder durchbrochenen Gewohnheit einige weitere entdecken und zugleich tausend weitere erahnen. Es ist die Verlockung des Unbekannten, ein “Mehr, viel mehr!“, ein Lebensanspruch, der sich mit nichts zufriedenstellen lässt, was uns diese Ordnung anbieten kann. Dies ist es, was jeglicher Resignation entgegenhält. Dies ist es, was nach der aufständischen Zerstörung aller Schranken strebt, nach der sozialen Revolution.

Methoden und Möglichkeiten

Mit der “aktivistischen Tendenz“ und der “Bewegung der Autonomen“, die während der vergangenen Jahrzehnte in den libertären Milieues den Diskurs dominierten, löste sich die subversive Fantasie immer mehr von klar anti-autoritären und aufstandsorientierten Methoden, um sich im Ausdruck zu verwässern und in immer gleichen Mustern zu verfangen. Nur noch wenigen scheint es darum zu gehen, als Anarchisten, auf klaren Grundlagen mit den eigenen Ideen und Mitteln, in soziale Kämpfe zu intervenieren oder diese zu provozieren.

Wenn wir uns nicht bloss mit der Maske einer Widerständigkeit selbst etwas vormachen wollen, sondern hier und jetzt die Umwälzung der Beziehungen vorantreiben wollen, dann muss unsere Agitation endlich die blosse Anwesenheitspolitik bei grösseren Demonstrationen und die Abhängigkeit vom Zeitplan der Mächtigen (Treffen, Abstimmungen, etc.) zurücklassen, um einen Kampf voranzutragen, der die Herrschaft in ihrer Gesamtheit in Frage stellt. Wenn wir die Subversion des alltäglichen Lebens wollen, dann muss diese so alltäglich sein wie das Leben selbst. Was nützt es, wenn die Revolte an spezifischen Ereignissen festgemacht wird, ohne dass sie mit der eigenen täglichen Realität verbunden werden kann?

Wenn wir nicht, wie eine besonders einfältige Revolutionärin am 1. Mai vor einem Jahr gegenüber den Medien äusserte, von der „Revolution vor dem Bundeshaus“ träumen, wenn wir die Macht nicht als Zentralität betrachten, als Winterpalast, den es zu stürmen gilt, sondern denken, dass Macht ein soziales Verhältniss ist, das überall in Frage gestellt werden kann, und überall verstreut in Strukturen und Personen Form annimmt, dann öffnet sich ein ganzes Spektrum von einfachen und breitgefächerten Angriffsmöglichkeiten.

Auf der Suche nach Wegen, das Bestehende und somit unsere tatsächliche Lebensbedingung wirklich zu untergraben, werden uns auch die leerlaufenden Diskussionszirkel nicht weiter bringen, die sich in ideologischen Auseinandersetzungen oder in bis in alle Ewigkeiten vertieften Analysen der “polymorphen Beziehungen der Macht“ verlieren. Ihnen entwischt die soziale Realität schon alleine dadurch, dass sie die Tatsache zu negieren scheinen, dass das Bewusstsein an die gelebte Erfahrung gebunden ist. Wir glauben nicht an im Hinterzimmer geschmiedete Pläne der zukünftigen Umwälzung, nicht an eine Vertiefung der Kritik, ohne ein Experimentieren damit in der Praxis, und auch nicht an die perfekte Methode, um “wirklich zu schaden“, ohne von irgendwelchen Mechanismen dieser Gesellschaft in irgendeiner Form verwertet zu werden. Wir haben oft genug gesehen, wie dies letztenendes bloss darauf hinausläuft, in Untätigkeit zu resignieren (oder Kunst zu machen – welch Widersinn!). Jenseits irgendeiner illusorischen “Reinheit“ in der Aktion, liegt die Herausforderung darin, unseren Verlangen, die gewiss in keinster Weise integrierbar sind, einen möglichst deutlichen Ausdruck zu geben, der, durch beständige Selbsthinterfragung, möglichst wenig von der herrschenden Entfremdung reproduziert, die diesen Ausdruck wieder integrierbar macht.

Wir halten es in unserem Kontext für besonders wichtig, das Werk der Rekuperation, das heisst, der Wiedereingliederung von Konflikten in die Mechanismen der Gesellschaft (von den Strömungen der “Linken“ bis zum künstlerischen und subkulturellen Milieue als ihre Avantgarde), überall dort gnadenlos zu denunzieren, wo es sich zeigt – und wenn es ganz dicht bei uns ist. Und es geht uns dabei nicht um die persönlichen Kompromisse, die wir alle eingehen, da wir Teil der Welt sind, die wir bekämpfen, sondern um jene Verdrehungen, die diese Kompromisse als eine Art verkaufen wollen, diese Welt zu bekämpfen. Die Geschichte hat uns die tausend Wirrungen immer und immer wieder gezeigt, die zahlreiche einstmalige Revolutionäre zur Einbindung ihrer Kritik und somit zur Verstärkung des Bestehenden verleiteten. Wenn wir diesen Zyklus wirklich durchbrechen wollen, dann müssen wir endlich die Lehren aus diesem dunklen Kapitel unserer Geschichte ziehen.

Gerade hier, wo es aufgrund der niedrigen sozialen Spannungen vielleicht mehr als sonstwo an den Subversiven selbst liegt, Kämpfe zu lancieren, die nach einer gewissen sozialen Verbreitung suchen, könnte eine deutliche Erkennung und Benennung der rekuperierenden Kräfte eine qualitative Stärke sein.

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Anarchisten haben schon immer mit unterschiedlichen Methoden gekämpft, in Abhängigkeit der historischen und sozialen Situation, in der sie sich befanden, sowie der Debatten und Konflikte, die unter ihnen geführt wurden. Wir stehen heute in der Schweiz vor einer gänzlich verschiedenen Ausgangslage als noch vor 100 oder vor 40 Jahren, und ebenso, als im heutigen Frankreich oder Griechenland. Jede revolutionäre Anwandlung kommt nicht umhin, sich dessen bewusst zu werden.

Die Zeit der grossen Arbeiterkämpfe scheint vorbei, eine deutliche Klasse von Ausgebeuteten, die die Last der Macht und des Reichtums einiger weniger trägt, und es weiss, ist verschwunden. Doch die Transformation des Proletariats in eine grosse Masse von Lohnabhängigen ohne irgendwelche Verbundenheit oder Klassensolidarität hat die sozialen Kämpfe nicht beseitigt, wohl aber den Klassenkampf. Wenn wir nach Methoden suchen, um seine Rückkehr zu begünstigen (falls wir diese Begrifflichkeit überhaupt noch verwenden wollen), dann meinen wir damit schlicht solche, die den Antagonismus verdeutlichen und intensivieren, der zwischen jenen verläuft, die sich in dieser Welt unterdrückt und ausgebeutet fühlen und diesem Zustand ein für alle Mal ein Ende setzen wollen, und jenen, die diese Unterdrückung und Ausbeutung aufrechterhalten wollen.

Methoden, die in anderen Ländern durchaus angebracht sind, wie die anarchistische Intervention in Massenkämpfe, deren Teilziele uns zwar nicht genügen (vergangenes Jahr beispielsewise gegen eine Renten-Reform in Frankreich oder gegen eine Mülldeponie in Italien), die aber zu Mitteln greifen, die wir befürworten (Selbstorganisation, Sabotage, direkte Aktion,…), scheinen hierzulande weniger naheliegend, schlicht, da sich zurzeit äusserst selten solche Kämpfe artikulieren. Eines der letzten umfangreichen Beispiele dafür war wohl die Bewegung gegen die AKW‘s in den 70er/80er Jahren. Über Jahre hinweg versuchten Gefährten in ihrem Innern eine revolutionäre Kritik zu entwickeln, die sich, über die nukleare Frage hinaus, mit einer Kritik an der ganzen Gesellschaft und ihren tausend Schädlichkeiten und Unterdrückungsformen verband. Gleichzeitig sah sich die Bewegung von einem breiten Spektrum an praktischen Vorschlägen begleitet, die es ermöglichten, jenseits der politischen Delegation, die Veränderung selbst in die Hand zu nehmen. (Eine Evaluation dieser Bewegung und ihrer radikalen Tendenzen könnte sicher lehrreich sein, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass der Staat gegenwärtig den Bau von zwei neuen AKW‘s plant…)

Zurzeit rührt sich in dieser Hinsicht also wenig, kein Brodeln, in dem unsere Ideen der Gärstoff für enthousiastische Vorstosse gegen diese Welt sein könnten. Weniger als die Frage der Intervention, stellt sich uns heute jene der Provokation von sozialen Kämpfen.

Wo liegen die Unzufriedenheiten? Wo liegen die Verantwortlichkeiten dafür? Inwiefern sind diese bereits verständlich, oder können sie verständlich gemacht werden? Eignet sich das Thema als Ausgangspunkt, um einen anarchistischen Diskurs zu lancieren? Bietet es eine Vielfalt an ersichtlichen und reproduzierbaren Angriffsmöglichkeiten?

Diese Überlegungen lassen uns gewissen Thematiken näher kommen, was aber nicht bedeutet, dass uns andere weniger am Herzen liegen. Schliesslich besteht die Kunst der Subversion darin, die verschiedenen Punkte untereinander zu verbinden. Wo besteht der Zusammenhang zwischen dem Gefängnis und dem Urbanismus? Den AKW‘s und dem Militarismus? Der Migration und der Entfremdung? Der Verwüstung der Umwelt und der Vereinzelung der Menschen? Dem Kapitalismus und unserem alltäglichen Leben?

Die konfliktuelle Leere, die uns momentan umgibt, hat auch ihre Vorteile. Ohne uns mit grossen gewerkschaftlichen und reformistischen Bewegungen herumschlagen zu müssen, die den sozialen Konflikten stets ihre Forderungen aufzupfropfen versuchen, können wir genau jenen Diskurs aufwerfen, den wir wollen, und ihm vielleicht einfacher Raum verschaffen. Gewiss, wer in einer Einsatz/Gewinn Logik denkt, wird dabei kaum weit gehen. Ein solcher Kampf muss der gelebte Ausdruck unserer Verlangen sein, dann ist der Einsatz der Gewinn. Egal um welche spezifische Thematik er sich drehen mag, die Qualität liegt in dem unintegrierbaren Charakter der Mittel, die wir wählen, und der Kritik, die wir entwickeln; darin, dass wir ausgehend von jedem Punkt das aufzeigen wollen, was nur auf die Infragestellung der Gesamtheit hinauslaufen kann.

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Als Revolutionäre sind wir daran interessiert, einen Bruch mit der Normalität und nicht einen illusorischen Rückzug aus ihr zu verbreiten. Mit diesem Bruch, dem von manchen offenbar als ominös empfundenen Begriff der Revolte, meinen wir schlicht jene individuellen oder kollektiven, kurz oder lang anhaltenden Momente in all ihren Formen, in denen mit der Akzeptanz einer Autorität gebrochen wird, sei dies nun jene des Lehrers, der Eltern, des Chefs, des Bullen, des Gefängniswärters, des Sozialarbeiters, oder jene von Gesetz und Moral. Die affektive oder bewusste Revolte ist, kurz gesagt, eine befreiende Konfrontation mit Personen oder befreiende Zerstörung von Strukturen, in denen sich die Autorität manifestiert. Sie ist das offene Zutagetreten des Konfliktes, der sonst so oft in sich selbst zurückgehalten wird.

Gewiss, jemand der gegen irgendeine Form von Unterdrückung revoltiert, stellt nicht zwangsweise die Unterdrückung als solche und in ihrer Gesamtheit in Frage, im Gegenteil, eine solche Behauptung wäre bloss der Grundstein zur Errichtung des alten Konstrukts irgendeines revolutionären Subjektes (der revoltierende Arbeiter, Gefangene, Migrant, Jugendliche,…). Dennoch kann die Verteidigung von oder, falls möglich, die Komplizenschaft in diesem Akt, in dem wir auch unser Verlangen nach Freiheit wiedererkennen, ein Moment sein, um die Auseinandersetzung zu vertiefen – nicht nur mit den Revoltierenden selbst sondern auch mit allen anderen. Gerade hierzulande, wo sich solche Momente so selten ereignen.

Wenn wir also sagen, dass wir daran interessiert sind, einen Bruch mit der Normalität zu verbreiten, dann natürlich in der Aussicht auf eine Akkumulation dieser Befreiungsschläge in einer grösseren Revolte, in einem Aufstand. Dabei spielt es keine Rolle, wie nah oder fern wir eine solche Möglichkeit sehen, sondern einzig, dass diese Aussicht unsere heutigen Vorgehensweisen beeinflusst. Ohne gegen die individuelle Revolte oder Angriffe von kleinen Gruppen zu argumentieren, deren Möglichkeit und Wichtigkeit wir stets betonen wollen, suchen wir, da ein Aufstand zweifellos ein soziales Ereignis ist, nach kollektiven Momenten der Revolte. Solche Momente zu kreieren, die in ihrer Tragweite über das beschränkte Milieu der Subversiven hinausgehen, ist, in anbetracht der vorherrschenden Befriedung, vielleicht ein längerfristiges, aber gewiss kein aussichtsloses Projekt.

Falls wir nicht ewig warten wollen, bis irgendeine “Krise“ des Kapitalismus vielleicht auch irgendwann die Schweiz erschüttert, dann lasst uns die Hypothese aufstellen, dass hier der Nährboden für potentielle Revolten in nächster Zeit weniger das materielle Elend sein wird, sondern vielmehr die radikale Zurückweisung der von dieser Gesellschaft angepriesenen Werte und Glücksvorstellungen sein muss; also die andere Seite derselben traurigen Elends-Medaille, die sich der Kapitalismus erworb. Damit wollen wir in keinster Weise sagen, dass wir damit aufhören sollten, den Krieg gegen die Armen und Unerwünschten aufzuzeigen, der sich hinter dem Trugbild des sozialen Friedens verbirgt, und in diesem sozialen Krieg unsere Komplizen zu suchen, um das Feuer zu erwidern. Als Individuen, die sich von dieser Welt unterdrückt fühlen, suchen wir stets danach, an der Seite von anderen Unterdrückten zu kämpfen, doch als Individuen, die von einem ganz anderen Leben träumen, suchen wir vor allem auch danach, an der Seite von anderen Träumern zu kämpfen. Im Bewusstsein, dass die Revolten, die weiterhin stets aus dem Elend hervortreten werden, erst dann revolutionär werden, wenn sie von dieser Gesellschaft nichts mehr erhoffen.

Daher verlangt es uns nach einer wiederergriffenen Offensive subversiver und anarchistischer Ideen, von ihren einfachsten Grundlagen bis zu ihren tiefgründigsten Auseinandersetzungen, an allen möglichen Orten, mit allen möglichen Mitteln (Flugblätter, Plakate, Brochüren, Bücher, intern oder auf der Strasse verteilte Zeitschriften, Sprayereien, Diskussionen, Provokationen, Skandale und allem, was die Fantasie ergreift).

Aller Schwierigkeiten und Hindernisse zum Trotz, wollen wir schliesslich auch bekräftigen, dass eine radikale Bewegung, die sich hier in der Schweiz gegen eine so ausgereifte Form der Herrschaft auflehnen würde, von einer solchen Qualität wäre, dass sie von ihr wohl äusserst schwer noch zu täuschen oder zu befrieden wäre. Denn wer sich nicht nur dem Elend, sondern auch dem “Reichtum“ dieser Welt entgegenstellt, den wird sie nicht erkaufen können.

Das Spiel der Subversion

Der Graben, der heute zwischen den Subversiven und anderen sich unterdrückt Fühlenden besteht, einerseits durch Subkultur und identitäre Abgrenzung selbst geschaffen, andererseits durch die mediale Lynchung systematisch vertieft, ist vielleicht schwierig, aber für jede revolutionäre Anwandlung notwendig abzubauen. Das Auftreten als getrennte Organisation oder als getrenntes Milieue wird diesen Graben nur vertiefen. Wir verstehen unsere Aktion als Teil der sozialen Spannung, aus der sie hervortritt, und nicht als etwas, das ihr äusserlich ist.

Kennzeichen und Identitäten erschweren es ausserdem bloss, die verschiedenen Ideen- und Handlungsvorschläge als das wahrzunehmen, was sie tatsächlich sind, und eine lebhafte Diskussion in Gang zu bringen, deren Ziel es nicht ist, sich selbst zu behaupten, sondern, die geeignetsten Wege zu finden, um das Bestehende wirklich zu untergraben. Nur allzu oft wird die inhaltliche Leere, was diesbezügliche Überlegungen betrifft, durch das ewige Wiederholen von Markenzeichen zu verbergen versucht, wie wir das von gewissen Marxisten-Leninisten und ihren Jugendtruppen sehr gut kennen.

Eine revolutionäre anarchistische Bewegung, verstanden als Dynamik und nicht als Einheitlichkeit, könnte sich dadurch konstituieren, dass eine jede autonom von Individuen oder Gruppen von Individuen ergriffene Initiative (seien dies Direkte Aktionen, Flugblätter, Plakate, verschriebene Mauern, Zeitschriften, Blockaden, Sabotageakte, vertiefende Texte, Diskussionen, Demos, etc.), durch jede weitere an Bedeutung gewinnt – in einem Wechselspiel von Ergänzungen, Weiterentwicklungen, Konflikten und Kritik. Die Isoliertheit der Initiativen, die so viele beklagen, liegt also an jeder einzelnen Person zu durchbrechen. Ihre mangelnde Tragweite liegt an jedem und jeder zu erweitern. Eine Bewegung die auf einer solchen Dynamik beruht, ist nicht nur flexibler und lebendiger, sie entgeht auch den autoritären Fallen, die sich hinter dem Organisationismus und Programmatismus verbergen, die schon so viel subversive Spontaneität erstickten. Ihre Grundlage wären die verschiedenen individuell oder kollektiv initiierten Projekte, die nach Komplizen in der Revolte, sowie nach einer Verbreiterung und Vertiefung der Diskussion suchen. Eine koordinative Organisierung um spezifische kurz- oder längerfristige Projekte ist dadurch nicht ausgeschlossen, solange die Projekte der Grund zur Organisierung sind, und daraus nicht eine “Organisation“ entsteht, die sich ihnen überstülpt. Für am wichtigsten halten wir es jedoch, eine möglichst grosse gegenseitige Autonomie unter den agierenden Grüppchen oder Personen zu bewahren und eine gewisse Sensibilität für die Möglichkeiten zu entwickeln, die sich denjenigen überall zeigen, die sich mit dem ganzen Leben auf das grosse Spiel einlassen, das die Subversion ist.

Wenn dass Terrain einer möglichen sozialen Konfliktualität (um die Frage der Migration, um den Urbanismus, um den Bau neuer Atomkraftwerke,…) von Gefährten angegangen wird, wieso, wenn man sich darin wiedererkennt oder daran Kritik übt, dieses Terrain nicht seinerseits auf seine Art und Weise ebenfalls aufgreifen? Sollte die aus allfälligen Differenzen entstehende Diskussion nicht eher auf der Suche nach den geeignetsten Methoden beruhen, unsere Ideen auszuleben, mitzuteilen und zu verbreiten, anstatt auf dem Sich Verlieren in tausend strategischen Erwägungen? Wenn beispielsweise bei einer Demonstration, an der unterschiedlichste Leute teilnahmen, zahlreiche Vitrinen eingeschlagen wurden, wieso dann nicht, egal ob man daran beteiligt war oder es schlicht befürwortet, daraufhin in den verwüsteten Gegenden oder in den damals anwesenden Umfeldern Flugblätter verteilen, die von den Gründen sprechen, zum Angriff überzugehen und das zu zerstören, was uns zerstört? Wenn die Medien die Angriffe stets verzerren oder verschweigen, warum sie nicht mit allen möglichen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen und präsent machen? Wieso dies nicht sowieso bei jeder passenden Gelegenheit tun? Je mehr Personen die Angriffe als etwas wahrnehmen, das von Verlangen und Ideen spricht, mit denen sie sich bereits irgendwie, irgendwo konfrontiert sahen, die sie verstehen oder sogar gutheissen, desto mehr entgehen die Angriffe der Isolation und sprechen für sich selbst.

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Suchen wir durch unsere Agitation vor allem nach medialer Aufmerksamkeit, die sowieso stets darauf abzielt, die Angriffe und ihre potentiellen Urheber sozial zu isolieren, oder suchen wir vor allem nach einer gewissen “Kommunikation durch Akte“ unter jenen, die sich davon ermutigen und inspirieren lassen könnten? Suchen wir vor allem nach spektakulären Aktionen mit “wirklich effizientem Schaden“, der sich allzu oft in der Warenlogik, statt im Ausmass der wirklichen Blockierung oder Durchbrechung des Alltags ermisst, oder suchen wir vor allem nach der sozialen Verbreitung der Revolte, was gewisse Überlegungen zu Sichtbarkeit, Reproduzierbarkeit und Verständlichkeit impliziert? Das eine bedeutet, auf der militärischen und quantitativen Logik aufzubauen, die wir doch bekämpfen und in deren Rahmen wir immer den Kürzeren ziehen werden, das andere, auf einer gewissen Sensibilität für soziale Spannungen und Unzufriedenheiten aufzubauen, das heisst, auf jener Stärke, die wir wirklich haben: den sozialen Charakter unserer Ideen.

Wollen wir vor allem “mehr werden“, “Zustimmung“ erheischen, auch wenn dies die Verwässerung unserer Ideen und die Negation der autonomen Emanzipation der Individuen bedeutet, oder wollen wir vor allem das, was uns am Herzen liegt, die Ideen, die uns faszinieren und für die wir kämpfen, auf möglichst verständliche Weise mitteilen, so dass jeder damit anfangen kann, was er will? Das eine bedeutet, Sympathisanten und Anhänger um sich zu scharen, das andere, mögliche Gefährten zu suchen, die aus eigener freier Entscheidung dieselbe Richtung einschlagen wie wir. Das eine bedeutet, in einer von den eigenen unmittelbaren Verlangen getrennten Tätigkeit eine quantitative Bewegung aufzubauen, die sich recht schnell zufrieden geben wird, das andere, gestützt auf die Verwirklichung unserer Verlangen im Jetzt, eine Bewegung zu entwickeln, die sich mit nichts zufriedengeben wird, da sie alles will.

Wenn wir dennoch in unserem Handeln nicht auf einen kleinen Kreis vertrauter Anarchisten beschränkt bleiben wollen, schlagen wir vor, offensive Projekte zu lancieren, deren Grundlage nicht notwendigerweise die völlige Übereinstimmung in allen Aspekten unserer Ideen (die letztendlich zwischen keinen einzelnen Individuen existiert), sondern die Art und Weise ist, zu einem spezifischen Ziel zu gelangen. Darin liegt beispielsweise der Unterschied, ob wir die “Abschaffung“ oder die “Zerstörung“ einer spezifischen Struktur der Unterdrückung wollen, eines Ausschaffungsgefängnisses beispielsweise. Das eine bedeutet, sich in der Wahl der Worte und Taten auf das Terrain von Politik und Medien zu begeben und sich dem demokratischen Gewissen anzupassen, das man für sich gewinnen will, das andere ermöglicht uns, einen anarchistischen Diskurs voranzutragen, der sowieso stets auf die Zerstörung des Staates und aller Strukturen der Unterdrückung abzielt. Das eine bedeutet, zu fordern, an den Staat zu delegieren und kann unter Umständen und unter einem gewissen Druck auch im Rahmen des Bestehenden umgesetzt werden, das andere bedeutet, keine Verhandlungspartner zu akzeptieren und können wir nur erreichen, wenn wir mit Praktiken der offensiven Selbstorganisation experimentieren (während wir beispielsweise durch Worte und Taten aufzeigen, dass die Instanzen, die die Ausschaffungsgefängnisse, die Atomkraftwerke, die Forschungslabore, die urbanistischen Projekte, oder was auch immer am Laufen halten, in den Strassen auffindbar und angreifbar sind). Das Ziel eines solchen Kampfes wäre nicht der Akt der Zerstörung an sich (der wohl meist mit einer kleinen Gruppe leichter zu bewerkstelligen wäre), sondern der kollektive Aufstand gegen die spezifische Struktur, und vor allem, die Erfahrungen, Diskussionen und Entwicklungen, die auf dem Weg dahin gemacht werden.

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Man könnte in diesen Tagen fast den Verdacht hegen, dass sich etwas neuer Elan zu verbreiten beginnt. Darum lasst uns für unsere Vorhaben keine Grenzen akzeptieren, ausser die Grenzen unserer Vorstellungskraft, und auch die Möglichkeiten in Betracht ziehen, die die Situation unter uns selbst bietet: ein Kontext, der noch nicht von tausend verhärteten Streitigkeiten durchdrungen ist, wo unzählige Felder noch offen liegen, um erforscht zu werden, wo noch nie geführte Diskussionen zu entwicklen sind, in denen man sich gegenseitig zu verstehen und zu kritisieren versucht, um die Waffen gegen diese Ordnung zu schärfen, und sich nicht damit begnügt, kleine Burgen zu errichten.

Es bleibt noch viel zu sagen,

es bleibt noch viel zu tun.

„Zu träumen wecke sich wer kann“