Titel: Was ist der Aufstand?
Datum: Oktober 1985
Quelle: Entnommen aus: Alfredo M. Bonanno: "Anarchismus und Aufstand", Edition Irreversibel in Zusammenarbeit mit Konterband Editionen, ohne Ort, August 2014, S. 21-37.
Bemerkungen: Original auf Italienisch, Originaltitel: "Che cos’é l’insurrezione", in dem Buch “Teoria e pratica dell’insurrezione”, Edizioni Anarchismo, Catania, Oktober 1985.

Erste grundlegende Annäherung

Der Aufstand ist eine eingegrenzte Massenbewegung, die gewaltsam eine Struktur der Macht angreift.

Diese Definition ist sehr ungefähr und es ist daher hilfreich, zu versuchen, sie zu vertiefen.

In ihr unterscheiden sich drei Elemente:

  1. Die Begrenztheit der Massenbewegung;

  2. Die Gewalt des Angriffs;

  3. Die Partialität der Struktur der Macht.

Eine Kritik des Aufstands ist daher sehr leicht. Eine eingegrenzte Massenbewegung bedeutet: minoritär, schwach, ineffizient. Sie wird mit Leichtigkeit zerstört, kriminalisiert, und ist ein Widerspruch in sich selbst, da sie, wenn sie eine Massenbewegung ist, danach streben muss, sich auszuweiten. Zu Anfang mag sie klein sein, aber dann, unter solchen Bedingungen, ist es nicht angebracht, sich zu bewegen. Und abgesehen davon muss eine Bewegung, die tatsächlich am anwachsen ist, die in den Anfängen ist, oder die, aus verschiedenen Gründen, begrenzt bleibt, eben weil sie keinen Raum findet, eine Entscheidung treffen, um sich zu bewegen, bei einer grossen Massenbewegung hingegen sind es eben diese enormen Ausmasse von ihr, die sie auf natürliche Weise, ohne sie zu Entscheidungen zu zwingen, veranlassen, als spontane Konsequenz des inneren Antriebs zu handeln. Daraus schlussfolgert sich, dass die Entscheidung des Angriffs, in sehr bescheidenen Massenrealitäten, immer minoritär ist. Und da die Einstimmigkeit in solchen Sachen ein Ding aus den Märchen ist, wird diese Entscheidung das Werk von kleinen spezifischen Gruppen sein, die innerhalb der eingegrenzten Bewegung agieren. Aber worauf werden sich diese Gruppen stützen? Werden sie nicht die Tendenz haben, eine Avantgarde zu bilden? Werden sie nicht darin enden, den Willen der anderen zu missbrauchen? Werden sie nicht die Wachstumsmöglichkeiten selbst der Bewegung zerstören?

Soviel dazu, was den ersten Punkt betrifft. Was den Zweiten betrifft, so kann die Kritik ebenso leicht anmerken, dass der Angriff mit minoritären Kräften praktisch immer zum Scheitern verurteilt ist. Daher die tragischen, an das Ansteigen der Repression gebundenen Konsequenzen. Ferner ist der Gebrauch der Gewalt im Verlaufe des Angriffs keine normale politische Massenaktion, denn er entspricht einer Wahl von Mitteln, die nicht alle teilen, einer Wahl, die von einer Minderheit getroffen wird, welche eben über die Zeiten, Arten und Orte des Angriffs entscheidet. In dem Falle der Gewalt, die von den grossen Massen entfesselt wird, besteht das Problem nicht, es verändert sich die Situation in ihrer Gesamtheit und die Gewalt wird zu einer spontanen Manifestierung der Befreiungskräfte.

Was schliesslich den dritten Punkt betrifft, so kann die Kritik die Bedeutungslosigkeit davon ausmachen, eine begrenzte Struktur der Macht zu treffen, während die anderen Strukturen unangegriffen und imstande bleiben, dem getroffenen Punkt zu Hilfe zu eilen, indem sie sich unverzüglich darum kümmern, die Gefahr zu meiden. Die Unmöglichkeit, einen Punkt zu wählen, der bedeutsamer ist als ein anderer. Heute besitzt die Macht nicht mehr ein “Herz” und folglich wird man sich nicht gut dabei zurechtfinden, die neuralgischen Punkte des Feindes zu ermitteln. Die Gefahr, schliesslich nicht in der Lage zu sein, darauf zu warten, breitere Strukturen oder verschiedene Strukturen in einer einzigen Aktion zu treffen.

Die Gesamtheit dieser Kritiken ist sehr begründet und verdient es, zum Nachdenken anzuregen. Es sei ausserdem angemerkt, dass sie auf diverse Details ausgeweitet werden könnte, die ebenso vernünftig und beachtenswert sind.

Es muss jedoch gesagt werden, dass in diesen besorgten Überlegungen auf die positiven Aspekte und die konkreten Grenzen des aufständischen Aktes nicht eingegangen wird.

Untersuchen wir sie, indem wir sie mit den obengenannten Kritiken vergleichen

a) Die aufständische Entscheidung vergeudet nicht die Energien, die im Laufe der revolutionären Spannung angesammelt wurden, denn sie schliesst die Reihe von Anstrengungen, die auf Dauer Gefahr laufen, sich in der Leere zu verlieren, mit einem präzisen Ziel ab;

b) die Gewalt des Angriffs überrascht den Feind fast immer, der die Orte und Zeiten der sozialen Verhandlung auf dem demokratischen Terrain festgelegt hat und das Zurückgreifen auf andere Waffen nicht erwartet;

c) das Ziel an sich, betrachtet als eine mit dem immensen institutionellen Komplex verbundene Struktur, ist etwas ziemlich Geringfügiges, aber man darf nicht den Reproduktionseffekt vergessen, den der aufständische Akt hat (wenn er einmal auf gewisse Weisen realisiert wird und sich, eben, als reproduzierbare Tatsache vorschlägt).

Soviel dazu, was die positiven Aspekte betrifft, kommen wir nun zu den konkreten Grenzen:

a) die Beteiligung an der aufständischen Tat ist an die Übereinstimmung der Organisationen gebunden, die sich daran beteiligt haben, sie vorzubereiten, das heisst daran, wie diese gegenüber der Wahl des Zieles, dem Einsatz von bestimmten Methoden, den möglichen repressiven Konsequenzen, usw., reagieren;

b) die Anwendung der Gewalt selektiert die Antwort der Bewegung in ihrer Gesamtheit stark, auch infolge der um sich greifenden ideologischen Unsitte, die die befreiende Gewalt der Ausgebeuteten in ein schlechtes Licht zu stellen neigt, ausgehend von einem philosophischen Betrug, der von Grund auf der bürgerlichen Ethik entnommen wurde.

c) die Reproduzierbarkeit des aufständischen Aktes, wie sehr sie auch in den kleinsten Einzelheiten studiert und objektiv möglich gemacht werden mag, wird von der Intervention der grossen Informationsmittel stets auf beträchtliche Weise gestört, die eine volkstümliche Antwort zu jedem Zeitpunkt konditionieren können.

Die Begrenztheit der Massenbewegung

Denken wir einen Augenblick über die Massenbewegung nach. Sie besteht in einer mehr oder weniger schlagartigen Veränderung des Bewusstseinslevels einer beachtlichen Personengruppe, die von objektiven Elementen, im Allgemeinen von der Zugehörigkeit zur selben Klasse verbunden wird.

Zum Beispiel eine Gruppe von Proletariern, die auch Elemente aus benachbarten Klassen (Lumpenproletarier, Bauern, Arbeitslose, Marginalisierte) oder aus den herrschenden Klassen stammende Elemente, die ihre Herkunftsideologie zurückgewiesen haben, versammeln kann, diese Gruppe bewegt sich, das heisst, richtet sich nach bestimmten Zielen aus, infolge der sozialen oder kulturellen Veränderungen, die sich in den Produktionskräften, in der Klassenzusammensetzung, in der Bedingung der sozialen Schichten, in den Ideologien usw. am ereignen sind.

Das Bewusstseinslevel, das von der Bewegung in ihrer Gesamtheit erreicht wird, bestimmt auch ihre Selbstorganisationsfähigkeit. Aber unter Berücksichtigung, dass das Bewusstseinslevel seinerseits eine Folge der Veränderungen ist, wovon wir vorhin sprachen, leitet sich daraus ab, dass auch der selbstorganisatorische Antrieb an diese Veränderungen gebunden ist. Wenn sie bescheiden sind, wenn sie langfristig sind, wenn die Macht das Geschick hat, sie zeitlich abzustufen, wenn sich der soziale Frieden realisiert, dann werden auch die selbstorganisatorischen Kräfte weniger offenkundig und verfügbar sein.

Es ist jedoch nicht gesagt, dass diese spezifische Fähigkeit, wodurch das aufständische Projekt gefördert wird, in der ganzen Masse, die sich bewegt, unentbehrlich ist. Eine Generalisierung ist nicht nur undenkbar, sondern auch unüberlegt, denn ein jedes Individuum hat andere Bewusstseinslevels, Motivationen, die nicht gleich sind, und überhaupt einen anderen Charakter und eine eigene andere Geschichte.

Leichter kann es sich ergeben, dass eine kleine Minderheit, innerhalb der sich in Bewegung befindlichen Masse, diese selbstorganisatorischen Charakteristiken hat, von denen wir sprechen, und es ist auch möglich, dass sie diese in die Tat umsetzen will, sie aus schlichter Potenz in “konkreten Akt”, das heisst in den Aufbau von einer präzisen Organisationsstruktur umwandelnd, eine Struktur, um die herum es die Massenbewegung zu polarisieren gilt, die sich am formieren ist, wenn auch in bescheidenen Ausmassen, aber stets in der Lage, die wesentlichen Grundbegriffe des libertären und antagonistischen Diskurses zu empfangen.

Wir haben also eine präzise Begrenzung, die sich, bei genauer Überlegung, in jeder Massenarbeit mit auch längerfristigen politischen Absichten finden lässt. Nur, dass in diesem letzteren Fall, wenn ein Schema von endlosem quantitativen Wachstum in Aussicht steht, eben das ständige und vage Aufschieben nach hinten die reale Begrenztheit der Bewegung selbst verbirgt, indem es die Illusion erweckt, dass man, auch wenn man heute mit wenigen ist, morgen mit vielen sein wird, in ausreichend grosser Zahl, um das Kräfteverhältnis mit dem Feind zu kippen. Wenn man die quantitative Illusion hingegen ablehnt und sofort handeln will, oder zumindest innerhalb von vernünftig kurzen Zeiten, dann muss man die unausweichliche Begrenztheit der Massenbewegung anerkennen.

Die aufständische Struktur

Es ist nicht denkbar, dass die mit einem hohen revolutionären Bewusstsein ausgestattete, agierende Minderheit, zuerst darauf wartet, dass die Gruppe, worauf man Bezug nimmt, die sogenannte Massenbewegung, dasselbe Bewusstseinslevel erreicht, oder schlimmer noch, dass ein immer generalisierterer Prozess von Erweiterung der Bewusstseinslevels sichtbar wird, bevor sie sich bewegt. Das würde heissen, das organisatorische Projekt auf ewig hinauszuschieben, das jedoch Bedarf an unmittelbarem Charakter hat.

Sich den Leuten als Träger eines politischen Programms zu präsentieren, das (wenn auch minimale und spezifische) Details über das Ziel und die Methoden enthält: dies ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt der revolutionären Aufgabe. In der Praxis präsentieren sich die reformistischen und pseudo-revolutionären Organisationen mit Programmen, die sehr detailliert, und manchmal auch aggressiver und faszinierender sind.

Neben dem Programm und den Methoden, braucht es einen organisatorischen Referenzpunkt.

Dies kann jedoch nicht die Gruppe selbst sein, welche die Initiative fördert, das Programm vorschlägt und die Güte der vorgebrachten Methoden sicherstellt. Diese Gruppe wird, eben infolge des erreichten Bewusstseinslevels, eine gewisse Homogenität haben, die sich, fast immer, in einer organisatorischen Struktur ausdrückt, aber es ist nicht eine solche Art von Struktur, wovon wir hier sprechen. Wir können nicht gedenken, der Massenbewegung (und somit einer mehr oder weniger grossen Anzahl von Proletariern und Ausgebeuteten) vorzuschlagen, in unsere anarchistischen Gruppen einzutreten.

Dadurch würde die Gruppe sich in eine Mini-Partei verwandeln und die Leute wären dazu veranlasst, Anordnungen zu erwarten und zu akzeptieren. Die Selbstorganisation wird nicht übertragen, indem man dafür sorgt, dass die Leute ins Innere von spezifischen Strukturen wandern, wo sie sich stotternd ausdrücken, sondern indem man zum Aufbau von Strukturen beiträgt, die mit besonderen Charakteristiken versehen sind, imstande, wenn nicht eine vollständige Entwicklung der Selbstorganisation zu gestatten, so zumindest ihre keimenden Impulse nicht zu zerstören.

Die Charakteristiken dieser Strukturen sind recht deutlich:

a) Sie sind um ein einzelnes Problem ausgerichtet, sie präsentieren sich also nicht als Mini-Gewerkschaften, die fähig sind, Produzenten zu verteidigen, oder sich um die Bedürfnisse von dieser oder jenen Personengruppe zu kümmern. In der Aktion sind sie deshalb ausschliesslich auf ein genau festgelegtes Ziel ausgerichtet, welches im Angriff gegen die Machtstruktur besteht, die man gewählt hat;

b) Sie sind auf permanente Weise konfliktbereit, das heisst, sie warten nicht auf Signale von irgendwem oder irgendwas, um das Ziel anzugreifen, sondern beginnen von Anfang an Aktionen auszuüben, die ihren Möglichkeiten angemessen sind. Diese Aktionen enden erst mit der Versiegung der zugrundeliegenden Massenbewegung, sei es aufgrund eines Erreichens des Ziels, sei es aufgrund eines Verschiebens von diesem letzteren infolge von Staatsentscheiden, sei es aufgrund von einem repressiven Hindernis, das so gross ist, das es sich als unüberwindlich herausstellt.

c) Sie sind autonom, das heisst, sie sind weder abhängig von der Gruppe, die zu ihrer Bildung beigetragen hat, noch von anderen, mehr oder weniger konsistenten politischen Kräften, mit denen sie im Verlaufe ihres Bestehens in Kontakt treten.

Das Ziel

Das Ziel muss eine gewisse Konkretheit haben und darf nicht nur symbolisch sein. Eine aufständische Aktion gegen ein einzelnes Individuum (zum Beispiel gegen einen Richter oder einen Polizisten) ist nicht möglich. Die Unschlüssigkeit ist offensichtlich.

Genauso ist sie nicht möglich gegen eine ganze Klasse von Feinden (die herrschende Klasse, die Bürokratie, die politischen Führer, usw.), dabei handelt es sich um Ziele, die im physischen Raum nicht lokalisiert werden können, auch wenn sie im sozialen Raum identifizierbar sind.

Die aufständischen Ziele sind die laufenden Realisierungen der Ausbeutung und der sozialen Kontrolle, und sie sind, offensichtlicherweise, Strukturen.

Dabei handelt es sich um aufgegliederte Prozesse, in denen, mit präzisen Systemen, Pläne realisiert werden, die auf zentraler Ebene festgelegt wurden, eine Aufteilung der Arbeit zwischen verschiedenen Komponenten durchgeführt wird und unabdingbare Verhaltensnormen festgelegt werden. In den Strukturen zeigt sich, im Konkreten, die Aktion der Herrschaft.

Ein Polizist, ein Richter, ein Kapitalist, ein Gefängnis, ein Gericht, eine Irrenanstalt, ein Rathaus, das Parlament, ein Steuerbüro, und viele andere Individuen und Orte, durch welche der obengenannte Prozess in Bewegung gesetzt und realisiert wird, sind alles mögliche Kampfziele, aber können, alleine, nicht ein aufständisches Ziel darstellen.

Einen einzelnen Kapitalisten anzugreifen, hat – in der Praxis – eine symbolische Bedeutung. Nicht so sehr gegenüber den anderen Kapitalisten, die, wie wir alle wissen, ihren Beruf nicht aus Angst hinlegen, sondern gegenüber den anderen Proletariern, welche die Möglichkeit eines derartigen Angriffs verstehen sollen. Nun, eine solche Aktion ist nur in zwei Perspektiven gültig: in der Annahme, dass derjenige, der sie begeht, beabsichtigt, einen konkreten Ausdruck des Feindes, einen wenn auch winzig kleinen Teil des enormen Hindernisses, das uns unterdrückt, zu zerstören, zweitens, in der Annahme, dass sich der Angriff selbst in eine breitere aufständische Strategie einfügt und dass sich somit der Einzelne als ein Element herausstellt, das Teil der Institution ist, die man angreifen will.

Die erste von diesen beiden Annahmen betrifft uns hier nicht. Die zweite muss auf die Untersuchung über das aufständische Ziel selbst zurückgeführt werden, das, wie sich von selbst versteht, nicht nur von einem laufenden Prozess, sondern auch von Menschen und Dingen dargestellt wird.

Um auf unseren Diskurs zurückkommen, so können wir nun präzisieren, dass der aufständische Kampf – stets bei der Konzeption von laufenden Realisierungen bleibend – gegen die Repression, gegen die parlamentarische Demokratie, gegen das Bildungssystem, gegen die Arbeit, gegen den Militarismus, gegen den Bürokratismus, etc., geführt werden kann.

Was Angriff gegen jedes einzelne Element bedeutet, das dazu beiträgt, die Repression, die parlamentarische Demokratie, das Bildungssystem, die Arbeit, den Militarismus, etc., zu ermöglichen.

Das Projekt

Auch wenn es nicht möglich ist, von detaillierten Projekten zu sprechen, so ist es erforderlich, dass man einen Rohentwurf hat, sowohl, um die Aktionen in Abhängigkeit vom Level der Konfrontation angemessen einzuschätzen, als auch, um die Intervention der verschiedenen aufständischen Strukturen zu koordinieren.

Dieses Projekt, auch wenn es embryonal ist, muss alle Kräfte berücksichtigen, die im Spiel sind. An erster Stelle die politischen Kräfte, die scheinbar dieselbe Art von Kampf unterstützen. Zum Beispiel die Linksparteien und auch die revolutionären Formationen von autoritärem Ansatz, für den Fall, dass diese ausreichend Signifikanz haben und nicht blosse ideologische Hypothesen sind. Nicht wegen dem, was sie, als organisierte Systeme, repräsentieren, sondern wegen den Proletariern, die es ihnen gelingt, zu erreichen, zu desinformieren und, somit, zu konditionieren. Im Grunde sind unsere Referenzpersonen dieselben, wir können also ihre Positionen nicht ignorieren oder es vermeiden, uns zu konfrontieren, wenn wir in einer aufständischen Perspektive kämpfen.

Sie werden systematisch gegen diese Perspektive sein, aber sie werden es vor den Ausgebeuteten und den Proletariern, die ihnen folgen, nie offiziell zugeben können. Sie werden deshalb Schleichwege verfolgen, Kompromisse machen und alle politischen Künste einsetzen müssen, über die sie verfügen. In diesen Umständen kann es unsere Aktion schaffen, jene Massenbewegung auszuweiten, auf die wir uns stützen, indem wir eben auf die Elemente, die mit diesen Parteien und diesen Organisationen in Verbindung stehen, eine Anziehungskraft ausüben.

Gleichzeitig muss das Projekt die allgemeinen Bedingungen der Konfrontation, die produktive und soziale Situation des Landes, sowie die internationale Situation in Betracht ziehen.

In einer anderen Hinsicht muss das Projekt eine präzise Konkretisierung des Kampfes, eine Verkörperung des Zieles aufzeigen, die nicht bloss symbolisch ist, sondern eine präzise Interventionsgrundlage darstellt, die leicht zu verstehen ist.

Wenn man gegen die Repression kämpft, kann es ein grosses Gefängnis sein, das sich in Bau befindet, wenn man gegen den Militarismus kämpft, kann es eine Racketenbasis sein, wenn man gegen das Bildungssystem kämpft, kann es eine grosse Universität sein, wenn man gegen die Arbeit kämpft, kann es eine Fabrik oder ein Stellenvermittlungsbüro sein, wenn man gegen den Bürokratismus kämpft, kann es das Rathaus, der Sitz einer Partei oder einer Gewerkschaft, oder auch das Häuserverwaltungsbüro sein. 

Die Dekodierung des Ziels

Wie sich im Verlaufe von diesem ganzen Buch [Teoria e pratica dell’insurrezione] deutlich zeigen wird, kann sich das Ziel, manchmal, dem ungeschulten Auge des Proletariers, der sich bewegt und sich zum Kampf bereit erklärt, als abstrakt erweisen. Das Konzept selbst von Aufstand erweist sich als voller Missverständnisse, auch unter denjenigen, die einen Instinkt für solche Probleme haben müssten. Es ist deshalb erforderlich, zwischen das Ziel und seine Verkörperung, einen Dekodierungsprozess, das heisst, in der Praxis, Erklärungen zu stellen.

Zum Beispiel kann sich der Kampf gegen die Repression als zu abstrakt erweisen, während er verständlicher wird, wenn man ein präzises Gefängnis als Verkörperung des Ziels angibt. Aber auch diese Phase kann sich als von den unmittelbaren Interessen der einzelnen Proletarier getrennt erweisen, und hier ist es, wo die Dekodierungsarbeit zur Entfaltung kommt: die Gefahr des Gefängnisses, der Mangel an Freiheit, seine abschreckende Bedeutung gegenüber den sozialen Kämpfen, die falsche Ideologie der Guten und der Bösen, wie der Verbrecher konstruiert wird, die Funktion der Polizei, des Richterwesens, usw. Es handelt sich dabei um eine breite Palette von Informationen, die ausgearbeitet und in dem Territorialgebiet verbreitet werden müssen. Die Verbreitung kann äusserst intensiv sein, eben weil die Referenzpersonen sehr begrenzt sind. Im Allgemeinen handelt es sich um ein Viertel, ein Städtchen, eine mehrere Dörfer oder kleine Städte umfassende Zone.

Es ist selbstverständlich, dass die territoriale Realität mit den anderen Situationen, im ganzen Land und auch im Ausland, verbunden werden muss, aber dabei handelt es sich um normale Arbeit für anarchistische revolutionäre Gruppen, die auf vielen Wegen miteinander in Verbindung stehen.

Die Gewalt des Angriffs

Viele stellen sich den Aufstand als den schlichten Kampf auf den Barrikaden vor. Das ist kindisch.

Oft kommt es gelegen, die kritische Bewertung auf dieses Bild zu beschränken und zu bekräftigen, dass es sich dabei um Träume aus dem 19. Jahrhundert handelt, die heute antiquiert sind.

Dieses ganze Buch ist dem gewidmet, eine solche illusorische Hypothese zu demontieren. Der aufständische Kampf ist ein Projekt von mittelfristiger revolutionärer Aktion, das sich nicht darauf beschränkt, auf eine hypothetische Revolte der Massen zu warten.

Die vorgeschlagenen Kampfmethoden sind also, demnach, von gewaltsamer Natur. Das heisst, sie gestatten keinen Gebrauch von pazifistischen oder rein symbolischen Techniken. Aber die Gewalt besteht nicht in einer unmittelbaren und wunschtraumhaften Radikalisierung der Konfrontation. Sie stützt sich hingegen auf einen ständigen Bezug zum realen Level des Konflikts, um Fluchten nach vorne zu vermeiden, die, als unmittelbare Konsequenz, eine unnötige Erhöhung der Repression auslösen würden.

Die Gesamtheit von diesen Interventionen, Methoden und kritischen Betrachtungen hat zum Ziel, einen möglichst grossen Teil der Massenbewegung, der mit der vorangehenden Gegeninformationsarbeit sensibilisiert worden ist und der mit den aufständischen Strukturen in Kontakt getreten ist, in Richtung des Ziels zu verlagern.

Die Verlagerung hat zum Zweck, die Leute physisch in das feindliche Territorium, in die institutionelle Struktur zu bringen, die man angreifen will. Daher die zentrale Bedeutung, die der Besetzung in der aufständischen Perspektive zukommt.

Die Besetzung

Jede stattfindende Realisierung der Ausbeutung und der sozialen Kontrolle hat eine Ausdehnung auf dem Territorium. Eine solche Tätigkeit wäre nicht möglich ohne die Errichtung von Gebäuden, Büros, Umfassungsmauern, Alarmsignalen, Polizeiwachen, Zutrittsverboten, Karteien, Computern, Maschinerien, Waffendepots, Schulzimmern, Beratungssälen, Depotlagern, Montageketten, Gerichtssälen, usw.

Innerhalb von diesem physischen Raum ist die Anwesenheit der Ausgebeuteten und der Kontrollierten nur infolge der Akzeptanz von einigen Vorbedingungen möglich: beschnüffelt, erzogen, durchsucht, bemessen, beschaut, bewertet, gewogen, sortiert und robotisiert zu werden. Die Regeln, nach denen es sich zu verhalten gilt, werden von den Gesetzen, von den Gewohnheiten und von der herrschenden Moral festgelegt. Jedes Verhalten, das “abweichend” ist, wird mit einer gesetzlichen Sanktion und mit der Missbilligung der Gruppe bestraft, die uns umgibt.

Die vom Gesetz bezeichnete Grenze, sei sie nun vom Eigentum oder von der staatlichen Autorität geweiht, kann nur durch eine gewaltsame Aktion überwunden werden, die jene, die diesseits bleiben müssen, auf einen Schlag und ohne jede Autorisierung, jenseits von dem führt, was das Gesetz vorschreibt.

Diese tatsächliche Überwindung darf nicht mit der blossen symbolischen Überwindung der Pazifisten verwechselt werden. Die gewaltsame Aktion nimmt nur aufständische Charakteristiken an, wenn sich die Beteiligten jenseits der obengenannten Grenzen begeben, um die feindliche Struktur anzugreifen und wenn möglich zu zerstören, und nicht, um schlicht ihren Dissens zu bekunden.

Von Mal zu Mal, im Verlauf der einzelnen Kämpfe, wird dieser Unterschied klar zum Vorschein kommen, sowohl durch die eingesetzten Methoden, als auch durch die Entscheidungen und die organisatorischen Vorschläge.

Leider ist der tiefe Sinn vom Begriff “Besetzung” durch die grosse sozialdemokratische Verschmutzung dieser letzten Jahre abgewertet worden. Oftmals hat man darin geendet, diesen aufständischen Akt mit der schlichten symbolischen Demonstration, mit der Forderung nach besseren Arbeits-, Lohn- und Lebensbedingungen, mit der reformistischen und spiessbürgerlichen Praxis in Entsprechung zu bringen.

Dabei ist die Besetzung eben der Brennpunkt des Angriffs auf das Tabu, der Moment der Überwindung der Schwelle, die ins Territorium eingelassen ist, das uns per Gesetzesbestimmung entzogen worden ist und das wir uns wieder zurückerobern. Nur, dass wir es nur unter der Bedingung zurückerobern können, es zu zerstören, anderenfalls verschwindet unsere Aktion im Symbol.

Die Partialität der Struktur der Macht

Ein letzter klassischer Einwand ist jener, eine aufständische Aktion für zu eingegrenzt und unbedeutend zu halten. In einer Welt, die immer mehr zur Generalisierung der Kontrolle neigt, – fragt man sich – welchen Sinn hat es da, einen der unzähligen peripheren Punkte von dieser Kontrolle (und der damit zusammenhängenden Ausbeutung) anzugreifen und zu zerstören?

Wir müssen anerkennen, dass die Antwort auf diesen Einwand nicht leicht fällt und somit eine bessere Vertiefung verdient.

Um zu verstehen, müssen wir auf das Konzept von “Reproduzierbarkeit” zurückkommen. Die Aktion muss auf eine solche Weise studiert werden, dass das revolutionäre Ziel, die eingesetzte Methode und das ideale Fundament von Freiheit, das die Bewegung in ihrer Gesamtheit inspiriert, klar sind. Sie muss ausserdem eine Bewegungsaktion sein, das heisst, eine Überwindung der vom Gesetz festgelegten Grenze, welche nicht Werk einer beschränkten Gruppe von revolutionären Militanten ist, sondern eine möglichst grosse Anzahl von Proletariern und Ausgebeuteten miteinbezieht.

Sicher, man wird einen repressiven Preis bezahlen müssen, der oft auch beträchtlich hoch ist. Aber für jene, die sich auf den revolutionären Weg begeben, gibt es keine andere Alternative.

Der Staat hat sich mittlerweile an den Symbolismus der pazifistischen Kämpfe gewöhnt. Es ist ihm jedoch noch nicht gelungen (und es wird ihm auch nie gelingen), die aufständischen Kämpfe, auf schmerzlose Weise, zu neutralisieren. Aber auch der repressive Gegenschlag hat eine gewisse Wirkung auf die Leute.

Zunächst, scheinbar, verbreitet sich die Angst. Dann entwickelt sich die Unterstützung und die Sympathie. Zuletzt könnte sich auch die Phase der Bewusstwerdung öffnen.

Wie klein auch die Aktion sein mag und wie ineffizient sich auch unsere Anstrengungen darin erweisen mögen, sie auf andere Situationen auszuweiten und sie mit der Aussenwelt in Kontakt zu halten – angesichts auch der endemischen Inkonsistenz und Faktiosität der revolutionären Bewegung – so ist der Aufstand stets eine revolutionäre Tatsache von grosser Bedeutung, welche die wirkliche Natur der Macht, ihren falschen Demokratismus, die Grausamkeit der Repression (aber auch ihre Grenzen), die Nutzlosigkeit der Verhandlungen, den Kollaborationismus der Reformisten, den Jesuitismus der neuen Machtanwärter blosslegt.

In solcherlei Unterfangen ist keine quantitative Einschätzung möglich. Das wissen die Gefährten, die verstehen, was aufständischer Kampf heisst, gut. Ein Kampf, der oft im Dunkeln bleibt, der sich nicht sofort als verständlich erweist, der auf den Argwohn der Superkritiker und die Untätigkeit der grossen Massen stösst. Aber es ist eben ein kleiner Kern von Gefährten, der das aufständische Projekt immer wieder erneut vorschlägt, während er es je nach der Realität und den Konfliktbedingungen verändert, der sich über die Grenzen und die Möglichkeiten seines Wirkens im Klaren sein muss. Und diese Handvoll Männer und Frauen ist es, an die sich meine Arbeit an erster Stelle richtet.