Titel: Synthesenorganisation und informelle Organisation
Datum: Juni 1985
Quelle: Entnommen aus: Alfredo M. Bonanno: "Anarchismus und Aufstand", Edition Irreversibel in Zusammenarbeit mit Konterband Editionen, ohne Ort, August 2014, S. 138-141.
Bemerkungen: Original auf Italienisch, Originaltitel: "Organizzazione di sintesi e organizzazione informale", in “Anarchismo”, Nr. 47, Juni 1985, Italien, S. 24-25.
Übersetzt ins Deutsche in “Grenzenlos”, Nr. 2, Januar 2012, S. 15-16, Zürich [Überarbeitet].

Als Erstes machen wir eine Unterscheidung zwischen der spezifischen anarchistischen informellen Organisation und der spezifischen anarchistischen Synthesenorganisation. Aus dieser Unterscheidung werden, durch den Kontrast, beachtliche Klarstellungen herauskommen.

Was ist eine – selbstverständlich spezifische und anarchistische – Synthesenorgansation? Ein Beispiel für eine solche Organisation war einmal die Italienische Anarchistische Föderation [FAI], und in gewisser Hinsicht kann sie auch heute noch als Beispiel dafür gelten [1985]. Es handelt sich um eine Organisationsstruktur, die von Gruppen oder Individualitäten getragen wird, die in mehr oder weniger konstanter Beziehung zueinander stehen, und deren Kulminationspunkt in den periodischen Kongressen besteht. In diesen öffentlichen Versammlungen diskutiert man die grundlegenden theoretischen Analysen, analysiert man ein Programm und teilt man die Aufgaben auf, die das ganze Spektrum an Interventionen in den sozialen Bereich abdecken. Diese Organisation stellt sich folglich als Referenzpunkt hin, als Pol, der fähig ist, die Kämpfe zu synthetisieren, die sich in der Realität der Klassenkonfrontation ereignen. Die verschiedenen Arbeitsgruppen dieses Organisationsmodells intervenieren in die Kämpfe (als einzelne Gefährten, die sie zusammensetzen, oder als Gruppen) und, indem sie intervenieren, liefern sie den eigenen Beitrag, aber sie verlieren nie die theoretische und praktische Ausrichtung aus dem Blick, welche die Organisation, in ihrer Gesamtheit, am vorherigen Kongress beschlossen hat.

Wenn sich diese Art von Organisation in voller Blüte entwickelt (wie es in Spanien ‘36 der Fall war), beginnt sie gefährlich, einer Partei zu ähneln. Die Synthese wandelt sich in Kontrolle. Sicher, in flauen Zeiten ist diese Rückbildung nicht sehr offensichtlich und mag das auch ein Geläster scheinen, aber in anderen Zeiten tritt sie sichtlicher hervor.

Im Wesentlichen wird in der (noch immer spezifischen und anarchistischen) Synthesenorganisation ein Kern von Spezialisten vorausgesetzt, der auf theoretischer und ideologischer Ebene Vorschläge formuliert, sie, so gut wie möglich, dem Grundsatzprogramm anpassend, das per Kongress beschlossen worden ist. Das Abrücken von diesem Programm kann auch beträchtlich sein (eine allzu pedantische Anpassung würden die Anarchisten schliesslich nicht zugeben), doch, falls sie auftreten, kümmert man sich, kurzerhand, darum, sie wieder zur Normalität der vorherig beschlossenen Linie zurückzuführen.

Das Interventionsprojekt dieser Organisation besteht also darin, in den verschiedenen Realitäten präsent zu sein: Antimilitarismus, Atomkraft, Gewerkschaften, Gefängnisse, Ökologie, Stadtteilarbeit, Arbeitslosigkeit, Schule, usw. Diese Präsenz übersetzt sich in direkte, also direkt organisierte Interventionen, oder in Beteiligungen an Interventionen, die von anderen Gefährten oder von anderen Organisationen (die anarchistisch sind oder nicht) verwaltet werden.

Daraus folgt, dass, da die Beteiligung am Kampf zum Zweck hat, ihn ins Innere des Synthesenprojekts zu führen, derselbe nicht autonom sein kann, mit den anderen revolutionären Kräften nicht wirklich auf einer Ebene von Klarheit zusammenarbeiten kann, wenn nicht durch den ideologischen Filter der Synthese, wenn nicht durch die Bedingungen, die vom Projekt auferlegt werden, das per Kongress gutgeheissen wurde.

Diese Situation, die schliesslich nicht immer so starr ist, wie es hier erscheinen mag, bringt die unauslöschliche Tendenz der Synthesenorganisationen mit sich, das Level der Kämpfe hinab zu ziehen, indem sie Vorsichts- und Umsichtsmassnahmen vorschlagen, die zum Zweck haben, jede Flucht nach vorne, jede Wahl von allzu unverhüllten Zielen, jede Anwendung von allzu gefährlichen Mitteln einzuschränken.

Machen wir ein Beispiel. Wenn eine Gruppe, die dieser Art von (synthesenhaften und noch immer spezifischen und anarchistischen) Organisation angehört, einer Kampfstruktur beitritt, sagen wir gegen die Repression, so wird sie sich gezwungen sehen, die Aktionen, die von dieser Struktur vorgeschlagen werden, im Licht der vorangehend gemachten und, in groben Linien, per Kongress gutgeheissenen Analysen zu bewerten. Daraus folgt, dass die Kampfstruktur sich an diese Analysen wird anpassen müssen, oder aber die Gruppe, die der Synthesenorganisation angehört, wird ihre Zusammenarbeit abbrechen (falls sie eine Minderheit darstellt) oder den Ausschluss von denjenigen durchsetzen (in den Tatsachen, wenn nicht mit einem präzisen Antrag), die andere Kampfmethoden vorgeschlagen haben.

Wie sehr einem diese politische Realität auch Missfallen bereiten mag, genauso sieht es aus.

Bliebe uns noch, zu fragen, wieso denn der Vorschlag der Gruppe, die der Synthesenorganisation angehört, stets, per Definition, rückständiger, also von Nachhut, oder vorsichtiger als andere Vorschläge sein muss, wenn es um mögliche Angriffsaktionen gegen die Strukturen der Repression und des sozialen Konsenses geht.

Wieso? Die Antwort ist leicht. Die spezifische und anarchistische Synthesenorganisation, welche, wie wir gesehen haben, ihren Hauptmoment im periodischen Kongress findet, hat als fundamentales Ziel das quantitative Wachstum. Als Synthesenstruktur benötigt sie eine operative Kraft, die anwachsen muss. Nicht gerade bis ins Unendliche, aber quasi. Andernfalls hätte sie nicht die Kapazität, in die verschiedenen Realitäten zu intervenieren und könnte sie auch nicht ihre Haupftaufgabe ins Auge fassen, die, eben, darin besteht, zu ihrer Synthese in einem einzigen Referenzpunkt voranzuschreiten.

Nun, wer das quantitative Anwachsen zum Hauptziel hat, muss Interventionsmittel gebrauchen, die den Proselytismus und den Pluralismus gewährleisten können. Gegenüber jedem Problem kann er nicht eine klare und deutliche Position einnehmen, die sich oft bei den meisten als unbeliebt erweist, sondern muss er einen Mittelweg finden, einen politischen Weg, um möglichst wenigen zu missfallen und sich möglichst vielen annehmbar zu erweisen.

Weiters ist, was einige Probleme, wie jenes der Repression und der Gefängnisse im Besonderen betrifft, die korrekteste Position oft sehr gefährlich, und keine Gruppe kann eine Organisation, der sie angehört, aufs Spiel setzen, ohne sich erst mit den anderen Gruppen zu einigen. Aber dies kann nur per Kongress, oder zumindest per ausserordentlichem Treffen erfolgen, und alle wissen, dass gerade an diesen Orten letztendlich stets die gemässigtere und gewiss nicht die fortgeschrittenere Meinung überwiegt. Daher bildet die Präsenz der Synthesenorganisation innerhalb der realen Kämpfe, der Kämpfe, die sich mitten in die Klassenkonfrontation einfügen, eine Bremse und eine Kontrolle (oft eine unfreiwillige, aber dennoch noch immer eine Kontrolle).

Die informelle Organisation hat diese Probleme nicht. Die Affinitätsgruppen und die Gefährten, die sich in einem Projektumfeld von informeller Natur wiedererkennen, sind de facto zusammen und sicherlich nicht aufgrund von der Zustimmung zu einem Programm, das an einem Kongress festgelegt wurde. Das Projekt, worin sie sich wiedererkennen, wird von ihnen selbst, von ihren Analysen und ihren Aktionen realisiert. Sie kann einen gelegentlichen Referenzpunkt in einer Zeitung oder in einer Reihe von Treffen finden, aber dies nur, um die Dinge zu vereinfachen, während sie nichts mit Kongressen oder anderen derartigen Dingen zu tun hat.

Die Gefährten, die sich in einer informellen Organisation wiedererkennen, gehören ihr automatisch an. Sie bleiben mit den anderen Gefährten in Kontakt, mittels der Zeitung oder anderen Mitteln, aber, was wichtiger ist, sie bleiben in Kontakt, indem sie sich an den verschiedenen Aktionen, Demonstrationen, Treffen, usw. beteiligen, die, von Mal zu Mal, realisiert werden. Der zentrale Punkt zur Prüfung und Vertiefung wird dadurch gegeben, dass man sich in Momenten des Kampfes trifft, die, zu Anfangs, auch schlicht Momente von theoretischer Prüfung sein können, um dann etwas Anderes zu werden.

In einer informellen Organisation besteht das Synthesenproblem nicht, will man nicht in den diversen Situationen Präsent sein, und geschweige denn davon, ein Projekt formulieren, das die Kämpfe in dem Flussbett eines im Vorhinein gutgeheissenen Programm zusammenführt.

Der einzige Referenzpunkt ist die aufständische Methodologie: in anderen Begriffen, die Selbstorganisation der Kämpfe, die permanente Konflikthaltung und der Angriff.