Titel: Anarchistischer Wahlabstentionismus
Datum: 27. Juli 1974
Quelle: Alfredo M. Bonanno - Anarchistischer Wahlabstentionismus. Edition Konterband. Zürich Oktober 2015.
Bemerkungen: Übersetzt aus dem Italienischen. Original: Alfredo M. Bonanno, Astensionismo elettorale anarchico. Arma del proletariato per la rivoluzione sociale, als Broschüre bei La Fiaccola, Ragusa 1974. Meccanismo elettorale e repressione. Per un astensionismo sovversivo, publiziert in "Crocenera” Nr. 26, Juni 1983, S. 1-2. Costruzione delle strutture astensioniste, publiziert in “Crocenera”, Ebd., S. 1-2. Le possibilitä di una struttura organizzativa astensionista, in "Crocenera", Ebd., S. 5-6. Documento organizzativo delle strutture astensioniste zonalit publiziert in “Provocazione" Nr. 5, Mai 1987, S. 5. Auch publiziert in: Anfügung zur zweiten Edition von Alfredo M. Bonanno, Movimento e progetto rivoluzionario, bei Edizioni Anarchismo, Triest 2013. Zitate wo möglich abgeglichen und aktualisiert. Zürich, Oktober 2015

Vorwort

Der anarchistische Abstentionismus kann nicht bloss die Bekräftigung von einer Verweigerung, sich am demokratischen Betrug der Wahlen zu beteiligen, sein. Die Verweigerung, nicht nur anlässlich der periodischen Wahlen, sondern als Haltung gegenüber allen partizipativen Mechanismen, die sich über die verschiedenen gesellschaftlichen Verwaltungsbereiche erstrecken, ist sicherlich ein unerlässlicher Ausgangspunkt der Bewusstwerdung und Verantwortlichmachung des Einzelnen, aber nicht ausreichend. Der anarchistische Wahlabstentionismus muss ein konkreter Angriff auf diese Mechanismen zur Konsensbeschaffung sein, worauf der demokratische Staat seine Legitimität aufbaut, und die nicht von den repressiven Mechanismen zu trennen sind. Denn erstere sind, letztlich, schlicht die Sondierungen, um letztere in geregelte Bahnen zu lenken.

In diesem Sinne bietet uns die Frage des Abstentionismus Anlass, um die anarchistische Analyse und Kritik des demokratischen Regierungsmechanismus zu vertiefen, und um über konkrete Interventionsperspektiven zu reflektieren, die über eine regelmässige Wiederpräsentation unserer Thesen und einen generischen Verweis auf die Möglichkeit der Selbstorganisation und der Revolte hinausgehen. Dies ist der Grund, weshalb wir diese Broschüre publizieren. In ihr wird, neben einer ausführlichen und organischen Analyse des Autoritäts- und Delegationsbegriffe, der Verteidigungsthesen der Demokraten, dem Problem der Mehrheit und der Minderheit, sowie der Position der autoritären Revolutionäre gegenüber dem Abstentionismus, im ersten Teil, in einem zweiten Teil der Vorschlag des Aufbaus von zonalen abstentionistischen Strukturen entwickelt, welche zum Ziel haben, ihre Entscheidungen, durch die direkte Aktion, an Stelle jener der politischen Führungen zu setzen.

Sicher, die Umstände haben sich seit der Verfassung von diesem Pamphlet, im Jahr 1974 in Italien, verändert. In der Tat kann man sagen, dass der Abstentionsimus heute, global gesehen, ein generalisiertes Phänomen ist. Auch die Schweiz, mit ihrer Heuchelei von demokratischer Tugend, bildet dabei keine Ausnahme. Die zahlreichen Initiativen, um, insbesondere die Jugend, zum Wählen zu animieren, sind ein verzweifeltes Zeugnis davon. Im Grunde steht es schlecht um die repräsentative Politik, darin sind sich alle Parteien einig. Aber bedeutet dieses Phänomen, für uns, die wir die Verweigerung des demokratischen Wahlmechanismus verbreiten wollen, eine wachsende Bewusstwerdung und eine entschiedene Ablehnung? Wohl kaum.

Vielmehr haben die generalisierten Bedingungen von Ungewissheit und flexibler Anpassung, in denen sich die neuen Generationen wiederfinden, das starre Modell der Parteien allmählich zum erodieren gebracht. Sich zwischen den Falten der tausend Opportunitäten arrangierend, um sich in der kapitalistischen Wirtschaft über Wasser zu halten, bilden die politischen Programme der Parteien, ob links oder rechts ist im Grunde beliebig austauschbar, für die meisten keinen Orientierungspunkt mehr.

Eines der Mittel, um dieser Tendenz abzuhelfen, und das wir heute allmählich aufkommen sehen, sind die Systeme zur elektronischen Stimmabgabe. In der Tat scheint es, dass sich Systeme wie jenes der sogenannten “Liquid Democracy“ sehr gut in die heutigen Ansprüche der kapitalistischen Verwaltung einfügen liessen, die immer mehr auf einem allumfassenden Sammeln, Vernetzen und Verwalten von Daten basiert, um permanent eine möglichst schnelle und flexible Anpassung des Systems zu ermöglichen.

Aber was würde eine Entwicklung in diese Richtung bedeuten? Die Tatsache, dass nahezu jedes Mitglied einer Gesellschaft mit einem Endgerät ausgestattet ist, das über ein Netz mit allen anderen verbunden ist, beseitigt, im Grunde, einige Hürden, die von den Verfechtern der repräsentativen Demokratie gegen das Modell der direkten Demokratie vorgehalten wurden. So beispielsweise das Problem, simultan eine derart grosse Anzahl von Menschen über jeweilige Entscheidungen und Gesetzestexte zu befragen, ein Problem, das schon Rousseau anführte, der selber ein heftiger Kritiker des repräsentativen Systems war. Die Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt die aktuelle Meinungslage in der Bevölkerung zu erfassen, kombiniert mit den immer grösseren Möglichkeiten, diese Meinungen durch die Masseninformationsmittel zu beeinflussen und zu steuern, wäre, tatsächlich, die perfekte Grundlage für eine totalitäre Demokratie. Schliesslich, auch wenn sich alle Einzelnen permanent über Beschlüsse und Gesetzestexte äussern könnten, so bleibt es noch immer der Staat, der den Rahmen der möglichen Alternativen festlegt, welche, selbstverständlich, seine Grundlagen von Eigentum und Autorität niemals in Frage stellen können. Das, was wir allenfalls werden selbstverwalten können, wird nichts anderes als unser eigenes Elend sein.

Der anarchistische Abstentionismus bleibt, gerade in diesem Kontext, fundamentaler Ausgangspunkt für den Kampf gegen die Herrschaft in ihrer demokratischen Form.

Aber die Möglichkeit, sich unabhängig von den politischen Strukturen zusammenzuschliessen, und Entscheidungen, die autonom getroffen werden, durch die direkte Aktion an Stelle von jenen zu setzen, die uns von oben auferlegt werden, muss konkret werden, muss sich in konkreten Kämpfen realisieren, muss auf einer präzisen Kenntnis des, auch politischen, Kontexts basieren, in dem wir agieren. Eine vertieftere Analyse der demokratischen Mechanismen ist Grundlage, um ein solches Projekt zu entwickeln.

Ein Ansatz dazu wird uns in dieser Broschüre gegeben.

Zürich, 14. Oktober 2015

Einleitende Notiz zur ersten italienischen Ausgabe

Die Anarchisten kämpfen gegen das sogenannte demokratische Wahlsystem und in periodischen Abständen schlagen sie erneut ihre abstentionistischen Thesen vor. Oft werden diese Thesen bei präzisen Anlässen wie den politischen oder administrativen Wahlkampagnen entwickelt, manchmal, seltener, als Zweck für sich, das heisst als Klärung dessen, was eines der prinzipiellen Fundamente der anarchistischen Lehre ist: der Abstentionismus.

Unserer Ansicht nach gibt es zwei Wege, das Argument auf erschöpfende Weise anzugehen, von diesen zwei Wegen werden wir den zweiteren verfolgen. Der eine geht von Betrachtungen von subjektivistischer Art aus, sich über die unheilvollen Einflüsse auslassend, die die Institutionen auf alle Menschen haben, über die Degeneration, die die Institution Parlament, im spezifischen Fall, beim gewählten Abgeordneten bewirkt, und sei dieser letztere auch ein Arbeiter oder ein Bauer. Der andere geht von einer umfangreicheren Klassenbetrachtung aus, einen breiten Diskurs führend und die Gründe untersuchend, weshalb die Institution nicht akzeptiert werden kann, da sie Produkt eines präzisen Ausbeutungssystems ist, das in Widerspruch steht mit den Charakteristiken von Verantwortlichmachung, die jeder einzelne Mensch bestrebt sein muss, zu erlangen, wenn er nicht aufhören will, sich als Mensch zu definieren.

Diese zweite Art und Weise, die Analyse vom Problem des anarchistischen Abstentionismus zu entwickeln, ist diejenige, die von Malatesta in diversen Schriften von grosser Wichtigkeit angewendet wurde, darunter all jene, welche er anlässlich der Polemik mit Merlino verfasste und welche wir dieses Jahr ebenfalls bei ”La Fiaccola” von Ragusa, im Band Anarchismo e Democrazia herausgegeben haben.

Die erste Art und Weise ist die klassische der zahlreichen Galleanis, Molinaris, Faures, usw., welche, unserer Beurteilung nach, auch wenn vom unmittelbar propagandistischen Standpunkt aus gültig, die zwei wesentlichen Punkte des Problems nicht anrührt: die Klassenanalyse und die Grenzen der Verantwortlichmachung des Einzelnen.

Noch ein anderer Zweck hat uns dazu angetrieben, diese kleine Broschüre zu verfassen: jener, die allzu häufige Verwirrung zu klären, die zwischen dem anarchistischen Abstentionismus und dem revolutionären kommunistischen Abstentionismus verläuft, welcher manchmal präsent ist in der Propaganda der kommunistischen Gefährten und manchmal abwesend. Das Problem sollte nicht unterschätzt werden, besonders in Hinblick auf die häufigen Beziehungen, die wir dennoch gezwungen sind, mit solchen Gruppierungen zu bewahren.

Wir müssen schliesslich hinzufügen, dass wir uns bemüht haben, der schwierigen Materie eine möglichst einfache Gliederung zu geben. Wir wissen nicht, ob uns das gelungen ist.

Catania, 27. Juli 1974 Alfredo M. Bonanno

Anarchistischer Wahlabstentionismus

Autonomie und Verantwortung

Der Mensch hat die fundamentale Pflicht, vor sich selber, seine Verantwortungen zu übernehmen. Nicht nur weil er im Stande ist, vernünftig zu denken, und somit Entscheidungen zu treffen, sondern weil er erst durch seine Verantwortlichmachung wirklich frei sein kann.

Diese grundlegende philosophische Formulierung hat natürlich keinen präzisen Sinn, wenn sie eingetaucht in die dunkle Nacht der Metaphysik gelassen wird. Es stimmt nämlich nicht ganz, dass der Mensch sich ständig in einem Reflexions- und Entscheidungsprozess befindet: meistens, was den grössten Teil der Handlungen betrifft, die er in seinem Leben begeht und die die allgemeine Regel des alltäglichen Lebens bilden, handelt er aus Gewohnheit, überlässt er sich dem “Sichlebenlassen”, in einer Form, die ihn nicht authentisch als Mensch verwirklicht.

Dem muss hinzugefügt werden, dass die Tatsache, auf verantwortlich gemachte Weise zu leben, an und für sich, keine Gewähr dafür darstellt, in der Wahrheit zu sein, sie stellt lediglich eine Lebensmethodologie dar, die den Menschen hin zu einer freiheitlichen Dimension führt, worin ihm seine Erfahrungen und seine Fehler jene konkrete Konstruktion gewährleisten können, die wir “Freiheit” nennen und die sich der Wahrheit als mehr oder weniger nahe erweisen mag.

Ein Mensch, der seine Verantwortungen übernehmend lebt, ist kein aussergewöhnlicher Mensch, noch kann er an sich als Anarchist definiert werden, er ist bloss ein Mensch, der die moralische Pflicht des Frei-Lebens anerkennt und die fundamentalen Regeln davon akzeptiert.

Auf diese Weise konstruiert er Tag für Tag seine “Autonomie”, sie auf Gesetze stützend, die er durch seine “Erfahrungen” und jene von anderen experimentiert, aber ohne dass diese obligatorische Referenzpunkte, zwingende Annahmen oder Gesetzesnormen bilden. Meistens, folglich, realisiert sich sein verantwortlich gemachtes Handeln darin, zu tun, was die anderen tun, aber dies ist dennoch stets ein Entscheiden, zu tun, was die eigene moralische Verantwortung für richtig hält, da nicht unbedingt ein Qualitätssprung stattfindet, wenn die eigene moralische Verantwortung für etwas anderes entscheidet als das, was alle tun.

Es ist wichtig, klarzustellen, dass ein Mensch, der blindlings die Befehle eines anderen Menschen akzeptiert, und sie ausführt, ohne sie einer verantwortlich machenden Kritik zu unterziehen, nicht autonom ist, aber deswegen nicht aufhört, für die Handlungen, die er infolge des erhaltenen Befehls begeht, verantwortlich zu sein. Dieses Alibi, das von so vielen Kriegsverbrechern verteidigt wird, entbehrt offensichtlich jeglicher Grundlage. Wer einen Befehl ausführt, ohne ihn einer Kritik zu unterziehen, ist ein Mensch, der seine Autonomie verloren hat, da er aufgehört hat, sich selber verantwortlich zu machen, aber er ist trotzdem vollumfänglich für seine Handlungen verantwortlich.

Es ist logisch, dass es viele Handlungen des menschlichen Lebens gibt, die auf eine andere Ebene übertragen werden als die der persönlichen Verantwortlichmachung, und es ist auch sehr vernünftig, dass dem so ist. Wenn wir zum Doktor gehen und seine Verschreibungen befolgen, wenn wir uns einem Architekten anvertrauen für das Projekt einer Brücke oder eines Hauses, und in vielen anderen Situationen delegieren wir unsere Autonomie in die Hände einer ganz anderen Person, weil wir sie technisch für befähigter halten als uns, gewisse Entscheidungen zu treffen: aber diese Delegation muss infolge des Verlaufs der vollbrachten Taten und der von unserem Delegierten ergriffenen Massnahmen jederzeit widerrufbar sein.

Für einen autonomen Menschen gibt es keine Entscheidungen von anderen, die die Form von “Befehlen” annehmen können. Jedenfalls, wenn ein Polizist, der mit einem blossen Handzeichen meinen Wagen auf der Strasse anhält, gedenkt, mir damit einen Befehl zu erteilen, so lässt mich das völlig gleichgültig, denn ich bin es, der entscheidet, ob ich anhalte oder nicht, da ich mir darüber bewusst bin, dass es um vieles vorteilhafter ist für mich, dies zu tun, anstatt aus keinem triftigen Grund die Konsequenzen einer Verfolgungsjagd, einer Verhaftung oder was sonst noch allem einzugehen. Wenn ich aber triftige Gründe habe, um nicht anzuhalten, dann wird es gewiss nicht jene erhobene Hand sein, die mich davon abhält, und ich werde mich all den Risiken stellen. Letztendlich auferlegt mir diese erhobene Hand nichts, was nicht der gründlichen Prüfung meiner selektiven Kritik unterzogen wurde, nichts, was nicht unmittelbar, im einen oder anderen Sinne, von meinem Bewusstsein beschlossen und vor das Gericht meiner Verantwortlichmachung gebracht wurde. In einem gewissen Sinne ist diese erhobene Hand ein Strassensignal wie ein anderes, dem ich mir gewiss nicht erträume, irgendeine “Autorität” beizumessen.

Der Autoritätsbegriff

Autorität ist die Möglichkeit, die jemand hat, anderen ein gewisses aktives oder passives Verhalten zu befehlen. Sie setzt demnach das Vorhandensein von einer Macht voraus, die eine Befehlsgewalt ermöglicht. Dies ist, weshalb es nicht immer einfach ist, zwischen Macht und Autorität zu unterscheiden. Im Prinzip besteht die Macht aus allen Mitteln, die jemand besitzt, um eine Autorität (sprich eine Möglichkeit, aktive oder passive Verhaltensnormen zu diktieren) auszuüben.

Die politischen Philosophen haben eine etwas andere Unterscheidung zwischen Macht und Autorität gemacht, und die Dinge damit unglaublich verworren. Sie sagen: wenn ein Dieb eine Waffe auf mich richtet und mich zum sofortigen Aushändigen des Geldbeutels auffordert, dann gehorche ich, weil ich einen grösseren Schaden fürchte (den Verlust des Lebens), aber ich gestehe dem Dieb keine Autorität über mich zu, ich gestehe ihm lediglich eine Macht zu (begründet, eben, auf der Waffe, die er in der Hand hält). Wenn mich aber der Staat zum Militärdienst aufruft, oder dazu, Steuern zu bezahlen, oder mir die Pflicht eines Reisepasses auferlegt, um ins Ausland zu gehen, so gehorche ich, weil ich ihm das Recht zugestehe, zu tun, was er tut, sprich, weil ich ihm eine Autorität zugestehe.

Die Überlegung ist falsch. Die Unterscheidung zwischen Macht und Autorität ist von methodologischer und nicht von substanzieller Natur. Ich gehorche dem Staat, der mir vorschreibt, Steuern zu bezahlen, zum Militärdienst zu gehen oder mir einen Reisepass zu machen, weil ich einen grösseren Schaden fürchte (geldlich, persönlich, Gefängnis, usw.), richtig ist also, dass ich dem Staat eine ganz gleiche Macht zugestehe wie dem Dieb, der im Dunkel der Nacht eine Pistole in der Hand hält, und eine nicht andere Autorität als jene, die dem Dieb von seiner Pistole zukommt.

Auf diese Weise haben wir zwei Resultate erhalten: zuerst haben wir die Bedeutungen von Autorität und Macht verschmolzen, indem wir den Sinn des ersteren Wortes nutzlos machten, wenn es nicht von der Anwesenheit des zweiteren begleitet wird, dann haben wir die Bedeutung von Macht auf jene eines Instruments reduziert, das der Autorität zur Verfügung steht, damit sie realisieren kann, was, anderenfalls, toter Buchstabe bleiben würde.

Wenn wir unsere einfache Überlegung in den Bereich der Politikwissenschaft übertragen, dann resultiert daraus, dass der Staat nicht eine Organisation ist, welcher innerhalb von einem Territorium eine höchste Autorität “zugestanden” wird von jenen, über die diese Autorität ausgeübt wird, sondern diejenige Organisation, welche die geeigneten Mittel (die entsprechende Macht) besitzt, um in einem bestimmten Territorium die stärkste Autorität über jene auszuüben, die, um ein grösseres Übel zu vermeiden, darin enden, sie anzuerkennen.

Es ist nicht dies der Ort, um zu untersuchen, wie diese “höchste Autorität" zustande kommt und welches die Bedingungen sind, die ihre mannigfachen Umgestaltungen im Verlaufe der Jahrhunderte regulieren, sprich, unter welchen realen Bedingungen die autoritären Institutionen gezwungen waren, sich umzugestalten, um zu überleben und die Autorität auffechtzuerhalten. Wir brauchen bloss zu sagen, dass in all den sogenannten demokratischen politischen Philosophien präexistente Begriffe aus den absolutistischen politischen Philosophien entliehen wurden. Der Begriff der “Volkssouveränität", zum Beispiel, ist klar dem für die Monarchie typischen Begriff der Souveränität entliehen. Man ist, in anderen Worten, willentlich auf der falschen Seite der Barrikade geblieben. Das Volk ist auf die Strassen gegangen, hat unzählige Male die Tyranneien gestürzt, indem es seinen Blutzoll bezahlte, und unzählige Male haben die Diener der Macht, die Jakobiner und Demokraten, dieselbe Suppe wieder neu vermischt und Lösungen geliefert, die nur scheinbar neu waren. Das, was, vor allen Dingen, bewahrt werden musste, war die Ordnung und die Macht, die sich daraus ableitet, anschliessend wurde über Forderungen, über Verbesserungen usw. diskutiert.

Die andere Autorität, diejenige, die nicht an das repressive Instrument der Macht gebunden ist, die wahrhaft demokratische, von den assoziativen Basisorganismen elaborierte, diejenige, die aus den Diskussionen der Versammlungen hervorgeht, ist nicht berücksichtigt worden. Und sie ist es, worauf wir die Aufmerksamkeit legen müssen.

Ich kann nämlich, wenn ich vor einem neuen Problem stehe, von ausserhalb zwei “Mitteilungen” erhalten: eine, von autoritärer Art im traditionellen Sinn, die mir, in möglichst knapper Form, sagt, was ich zu tun habe, es vermeidend, mir zu erklären, weshalb ich etwas tun soll und was die Konsequenzen dessen sind, was ich tun soll, und eine andere, von assoziativer Art im neuen und revolutionären Sinn, die mir lediglich die Gelegenheit liefert, damit ich mit dem mir unbekannten Problem in Kontakt komme, mir gleichzeitig Erläuterungen erteilend über das Wieso und die Konsequenzen dessen, was ich tun soll. Die erstere Mitteilung entspräche dem autoritären Verhalten, die zweitere dem demokratischen. Es muss hinzugefügt werden, um einer leichten Kritik vorzubeugen, dass dieses letztere Verhalten, um wirklich demokratisch zu sein, nicht bloss in der Entscheidung bezüglich einem gewissen Problem, sondern auch was die Wahl des Problems selber betrifft, dasselbe Verfahren anwenden muss.

Interessante Studien in diesem Sinne sind während des letzten Weltkriegs vom Sozialpsychologen Kurt Lewin in den Vereinigten Staaten gemacht worden. Es handelte sich darum, die amerikanischen Hausfrauen davon zu überzeugen, Geflügelinnereien anstatt des Fleisches zu gebrauchen, welches, seinerseits, für die Rationen der Armee verwendet wurde. Es wurden erklärende Konferenzen organisiert und, zur gleichen Zeit, Versammlungen, zu welchen eine gewisse Anzahl von Frauen “demokratisch” eingeladen wurde, um über das besagte Problem zu diskutieren. Es zeigte sich, nach einer bestimmten Zeitspanne, dass die Resultate, die mit den demokratischen Versammlungen erlangt wurden, viel bedeutender waren als jene der “autoritären” Konferenzen, also derjenigen nach klassischer Art (ein Fachmann, der vom Rednerpult herab die Art und Wichtigkeit erklärt, die Geflügelinnereien zu verwenden). Eine interessante Kritik an diesen Studien besteht darin, dass es nicht die “demokratischen” Gruppen selber waren, die über das zur Diskussion stehende Argument entschieden, sondern das Argument von einer präexistenten Autorität vorgegeben wurde, was das demokratische Verfahren der Diskussion nichtig machte, auch abgesehen vom sehr korrekten Einwand von Karl Mannheim, der, diesbezüglich, darauf hinwies, wie einfach es auf diese Weise sei, die Leute davon zu überzeugen, die Produktion von Butter (beispielsweise) durch jene von Kanonen zu ersetzen, und dennoch äusserlich die demokratische Struktur aufrechtzuerhalten.

Mit dem demokratischen Verfahren befinde ich mich, in der Versammlung, mit dem Problem in Kontakt, während so noch immer ein Prozess von autoritärer Natur realisiert wird – mit dem Gefährten, der in diesem Problem bewanderter ist als ich aber von einer Autorität, die wir als “persuasiv” definieren könnten, und die nicht über ein Instrument verfügt, das fähig ist, sich in eine “zwingende” Autorität zu verwandeln, sie ist, demnach, ohne Macht im vorhin betrachteten Sinne.

Die Vertrautheit und die Erziehung zu dieser Art von Autorität werden mich in die Lage versetzen, die anfänglichen persönlichen Defizite zu beheben und auf immer aktivere Weise am Lösungsprozess der Probleme teilzunehmen.

Dieses Schema, das wir Umrissen haben, dient, offensichtlich, als Rahmenüberblick des politischen Verhaltens von einem Individuum, das in Gesellschaft lebt, doch in der Realität sieht sich der Mensch gezwungen, in spezifischen historischen Situationen zu kämpfen, die ihn in einen bestimmten Kontakt mit der Autorität stellen. Denn, auch die despotischste Autorität liefert der Welt Gründe, um ihre Befehle zu befolgen, und Gründe, um sie zu bekämpfen. Darin liegt die Schwierigkeit der Lösung des politischen Problems und des revolutionären Kampfes. Ja, wir können sogar hinzufügen, dass, während allmählich vom autoritären zum possibilistischen sozialdemokratischen Regime übergegangen wird, und die Gründe, um der staatlichen Autorität zu gehorchen, zunehmen, die Gründe, tun sie zu bekämpfen und zu zerstören, immer schwieriger auszumachen werden.

Das so abgeschundene Problem der politischen Philosophie, das darin besteht, was denn die Pflicht der Person begründet, der Autorität zu gehorchen, interessiert uns nicht. Das ist ein absurdes Problem. Wichtig ist, zu untersuchen, inwiefern die Gründe, die ein Mensch haben mag, um der Autorität zu gehorchen, begründet sind oder nicht, und dieses Problem haben wir in Zusammenhang mit demjenigen der Verantwortlichmachung gestellt. Die politischen Philosophen, angefangen bei Kant, haben sich mit dem sympathischen Mechanismus der “Deduktion” herausgezogen, sie sagen: wenn es einen Hund gibt, so kann der Begriff Hund verwendet werden, und aus demselben Grund kann, wenn es jemanden gibt, der einer gesetzlichen Autorität gehorcht, der Begriff der gesetzlichen Autorität verwendet werden. Eine absurde Argumentation, wie jeder sehen kann, gültig, um einen Sachverhalt zu veranschaulichen, aber sicherlich nicht gültig, um die Legitimität von dieser Autorität zu begründen und, was noch viel schlimmer ist, um diesen Begriff von Legitimität aus dem Geschlossenen der Bibliotheken heraustreten zu lassen und ihn auf die Strassen zu tragen, den Tod von Millionen von Menschen verursachend und an der Ausbeutung der anderen mitwirkend.

Autorität und Autonomie im assoziierten Leben

Der Mensch ist berufen, viel komplexere Probleme anzugehen als die spezifischen des individuellen Lebens, Probleme, die im Allgemeinen dem Leben in Gemeinschaft angehören, Probleme von politischem Charakter. Für die meisten Menschen präsentiert sich die “Gemeinschaft” als etwas Äusserliches und Feindliches, als etwas, das sich konkret unter dem Aspekt von Bürokratie und Tradition realisiert. Der Staat, mit all seinen mannigfachen Zwangsaspekten, die Kultur, mit all ihren auf der Tradition begründeten konservativen Aspekten, enden darin, vor dem Einzelnen ein – fast immer unüberwindliches – Hindernis aufzubauen, das ihn von einer Bewusstwerdung und somit von einer Verantwortlichmachung seiner selbst trennt. Auf diese Weise konstruiert sich jeder eine Binsenethik, meist zusammenfassbar in einem Konzept von Gehorsam gegenüber gewissen Vorschriften, gegenüber gewissen Personen, welche die Autorität in unmittelbarerer Form zur Gerinnung bringen, oder gegenüber gewissen Leitsätzen von allgemeiner Natur.

Bezüglich dem politischen Aspekt des Problems der moralischen Autonomie muss gesagt werden, dass er darauf hinausläuft, alle anderen Bereiche, alle anderen Sektoren für sich zu interessieren, weshalb die Möglichkeit eines Menschen, der sich in seinem tagtäglichen Leben verantwortlich macht und dem politischen Engagement völlig fremd bleibt, rein theoretisch wird.

Daraus leitet sich als Erstes ab, dass die politische Autonomie, und somit die politische Verantwortlichmachung des Einzelnen, eine Angelegenheit ist, die an die Bewusstwerdung über gewisse Tatsachen, an die Dokumentierung, an die Entwicklung gewisser kritischer Fähigkeiten und an die Aufrechterhaltung gewisser Umweltkontakte gebunden ist. Es ist, in der Tat, ziemlich deutlich, dass die moderne demokratische Macht, von parlamentarischer Form, auf der Unwissenheit und auf der Apathie der Massen beruht, Charakteristiken, die mit einer ganzen Reihe von Initiativen und Verdrehungen sorgfältig genährt werden. Es handelt sich dabei um die Tätigkeit zur Instandhaltung der tragenden Strukturen des Systems, welche durch sehr verschiedenartige Kanäle ausgeübt wird, die vom Sport bis zur journalistischen Information, von der schulischen Bildung bis zum Fernsehen, usw. reichen. Mit diesem schwerwiegenden Problem, das bisher kaum vertieft wurde, habe ich mich vor einigen Jahren beschäftigt. (Vgl. La distruzione necessaria, erste Ed. Catania 1968, zweite Ed. Triest 2003).

Die gegenwärtige Situation des fortgeschrittenen Kapitalismus erfordert derartige Informationslevels, die es, für den gewöhnlichen Menschen, ohne eine beträchtliche Anstrengung nicht einfach ist zu erlangen. Die bürokratische und technologische Struktur ist derart komplex, dass sie die Möglichkeit zur Autonomie des Einzelnen ernsthaft gefährdet. Schauen wir uns die demokratische Lösung an: die Menschen können nicht gedenken, autonom zu sein, solange sie sich nicht eine Regierung geben, die aus ihnen selbst besteht, eine Regierung, die nicht über dem Volk oder für das Volk steht, sondern eine Regierung, die aus dem Volk besteht. Auf diese Weise wären die Anordnungen von dieser Regierung legitim, denn es wäre das Volk selbst, welches sie gibt. Es würde sich dabei um einen Übergang vom Begriff der Autonomie des Einzelnen zum Begriff der kollektiven Autonomie von mehreren Einzelnen handeln.

Theoretisch müsste die demokratische Lösung von der direkten Demokratie ausgehen, jeder Einzelne äussert sich über jede Massnahme und jedes Gesetz, indem er sein Einverständnis oder sein Nichteinverständnis gibt. Aber in Wirklichkeit, einmal abgesehen von den theoretischen Fragen, die eine Anwendung von diesem Mittel auf breiter Skala unwahrscheinlich machen, bleibt die Tatsache, dass die Entscheidung des Einzelnen über das einzelne Gesetz im Moment abgeschnitten bleibt vom nachfolgenden Moment, demjenigen der zwingenden Anwendung des Gesetzes, welche einem Organismus übertragen wird, der, eigens dafür, mit einer Macht betraut wurde, die ganz anders ist als die Entscheidungsmacht, die zur Annahme der Zweckmässigkeit des Gesetzes führte.

Sicher, es könnte sich auch die Tatsache ereignen, dass sich der Einzelne, vor der Pflicht des Gesetzes stehend, autonom, aus dem schlichten Grund, dafür gestimmt zu haben, gebunden fühlt, auch wenn ihn die zwingenden Folgen des Gesetzes, im nachfolgenden Moment, aufgrund von unvermutet aufgetretenen Veränderungen in seinen persönlichen Interessen, schädigen anstatt begünstigen: aber dabei handelt es sich um eine nebensächliche Anmerkung.

Die wahrscheinlichste Lösung wäre hingegen ein beständiger Konflikt zwischen Pflicht und Interesse, welcher die Gemeinschaft in derartige Bedingungen stürzt, dass der Eingriff der Instrumente, welche zur zwangsmässigen Anwendung des Gesetzes geschaffen wurden, erforderlich wird. Von dem bis zur Ausformung des Gesetzes oberhalb der Autonomie der Einzelnen wäre der Schritt recht klein: die substanzielle Transformation eines Rechtsstaates in einen Gewaltstaat.

So sind wir also bei der Lösung der repräsentativen Demokratie. Mit ihr werden einige Hindernisse überwunden: jenes der Zeit, die es den politischen Angelegenheiten zu widmen gilt (nicht alle haben verfügbare Zeit dafür), jenes der erforderlichen technischen Kenntnis, jenes der ausserordentlich grossen Anzahl Personen, die über jede einzelne Massnahme befragt werden müssten. Es handelt sich dabei um Hindernisse, die in Wirklichkeit nicht existieren und die absichtlich aufgebauscht werden von denjenigen, die persönlich an der Realisierung der Delegation, der Macht interessiert sind. Im Grunde müssten alle die Zeit haben, um sich den politischen Problemen zu widmen, und das Leben von heute lehrt uns, wie – im Moment der Verantwortlichmachung – unsere ganze Existenz von der politischen Dimension gezeichnet ist, dasselbe liesse sich darüber sagen, was die erforderlichen technischen Kenntnisse betrifft, es sei denn man will die Dimension der kapitalistischen Gesellschaft berücksichtigen, welche von der klassischen Unterteilung in manuelle Arbeit und intellektuelle Arbeit gezeichnet ist. Was, letztendlich, das Problem der Zahl der zu befragenden Individuen betrifft, so ist auch dieses inexistent, wenn einmal vom assoziativen, föderativen und dezentralisierten Konzept der ökonomisch-sozialen Struktur der Gesellschaft der Zukunft ausgegangen wird.

Das Problem jedoch, das uns beschäftigt, ist folgendes: kann die repräsentative Demokratie die Autonomie des Einzelnen gewährleisten und, wiederum, kann sich ein verantwortlich gemachter Mensch verpflichtet fühlen, Gesetze zu respektieren, die von anderen verabschiedet wurden, wenn auch von ihm dazu delegiert?

Der Delegationsbegriff

Wenn sich eine Person ausserstande sieht, über ein Argument seines Interesses eine eigene Meinung auszudrücken oder irgendeine Entscheidung zu treffen, dann kann sie jemand anderen dazu delegieren, dies für sie zu tun, indem sie die Grenzen des übertragenen Mandats ausführlich darlegt.

Wir stehen vor dem Repräsentations- oder Delegationsbegriff, der, in seiner ursprünglichen Vorstellung, eben die Wahrung der Autonomie des Einzelnen gestatten sollte.

Aber die Grenzen der Prokura in der klassischen Form sind zu beschränkt, um uns zu erlauben, sie im parlamentarischen Mandat ausmachen zu können. Denn, was leitet meine Wahl eines Kandidaten ins Parlament? Gewiss nicht die präzisen Indikationen und die Details über alle zukünftigen Gesetze, die dieser Kandidat verabschieden wird, die ich nicht kenne und die auch er nicht kennt, einzig sein politisches Programm bildet die Grundlage für meine Entscheidung, eine sehr ungewisse und vage Grundlage, um mit den präzisen und umschriebenen Grenzen des Vertretungsmandats gleichgesetzt werden zu können. Wenn wir uns dann die nebulöse Inkonsistenz von allen politischen Programmen der Parlamentarier bewusst halten, so sehen wir, wie es eben diese Gehaltlosigkeit ist, welche den Mechanismus selbst der Wahlen ermöglicht, die Ideen der Menschen verwirrend, sie gewaltsam in starre Schemen (Parteien) kanalisierend, welche sich an ideologische Entscheide anlehnen, die so generisch sind, dass sie sich zu jeglicher Bekehrung im einen oder anderen Sinn bereit erweisen.

Nun, wenn dieses repräsentative System das war, was in einigen europäischen Ländern vor der französischen Revolution in mehr oder weniger klaren Formen herrschte (zum Beispiel wurden die “Generalstände” von 1789 auf Basis des repräsentativen Systems einberufen), so entwickelte sich mit der verfassungsgebenden Versammlung von 1791 das Prinzip der Volkssouveränität, welches noch heute den modernen demokratischen Staaten zugrunde liegt. Schauen wir uns an, was die direkten Folgen davon sind. Zunächst einmal war dieser Souveränitätsbegriff nicht der, der von Rousseau als Summe der einzelnen Souveränitätsparzellen, die jedem Bürger individuell zustehen, theoretisiert wurde, sondern der der “Souveränität der Nation”, verstanden als etwas Einheitliches und Untrennbares, wenn auch Abstraktes. Tatsächlich liest man in der Erklärung der Menschenrechte von 1789 im Art. 3: «Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation.» Es soll also die Nation sein, die ein oder mehrere repräsentative und gewählte Organe delegiert, welche, auf diesem Weg, zwingende Macht erhalten, um dafür zu sorgen, dass die verabschiedeten Gesetze in allen Fällen und an allen Orten ausgeführt werden. Die traditionelle Konzeption, dass jeder Gewählte eine einzelne soziale Gruppe oder eine einzelne Gemeinschaft vertritt, wurde durch das Konzept ersetzt, dass es die ganze Nation sei, welche den Einzelnen wählt, und dass die Aufteilung in Wahlkreise und Distrikte lediglich eine technische Vorkehrung sei, um den Wahlmechanismus durchzuführen.

Hier liegt der Kern des Problems. Gesetzt die Unmöglichkeit eines ganz präzisen Mandats, gesetzt, dass die Beschlüsse im Parlament im Namen der Nation getroffen werden und somit für den Einzelnen, unabhängig von seiner persönlichen Meinung, zwingend sein werden, Einzelner, der sich dadurch seiner Autonomie und Verantwortung beraubt sehen wird, gesetzt, dass es keinen anderen Weg gibt, um jene moralische Verpflichtung zu gewährleisten, welche, erforderlich für das Leben in Gesellschaft, einzig in der Entscheidung des Einzelnen freiheitlichen Ursprung finden kann, so kann das demokratische Instrument, verstanden in Form von repräsentativ-parlamentarischer Delegation, nicht gebraucht werden, und muss es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln kritisiert, angegriffen und boykottiert werden.

Daraus folgt, als direkte logische Ableitung, dass ich mich, da ich mich von den Parlamentariern, welche die Gesetze machen, nicht repräsentiert fühle, auch nicht moralisch verpflichtet fühle, diese Gesetze zu befolgen, denn sie wurden, in meinem Namen, von jemandem verabschiedet, der nicht in präziser Form delegiert wurde.

Es ist keine unbedeutende Tatsache, nämlich, dass das Parlament, in den modernen konstitutionellen Staaten, eine ihm eigene juristische Konsistenz, eine Persönlichkeit hat, die es ungeachtet seiner Zusammensetzung und der politischen Farbe, die es charakterisiert, als existent als Organ des Staates anerkennt. Ist die Delegation substanziell verschwunden, verabschiedet das Parlament die Gesetze derart, dass in den Gesetzen nicht die Allgemeinheit der Bürger widergespiegelt wird, sondern bloss die Allgemeinheit der Komponenten des Parlaments selbst. Auf diese Weise ist der Bürger verpflichtet, in rechtswidriger Form die Gesetze zu befolgen, ein wahrer Missbrauch, der mit Gewalt vonseiten des Parlaments mittels der Exekutivorganismen realisiert wird, denn das Parlament alleine müsste verpflichtet sein, sie zu befolgen.

Auf diese Weise werden die Bürger zu Untertanen des Parlaments, das, in einem anderen Kleid und auf einem anderen Weg, dahin gelangt, dieselbe Position einzunehmen, wie sie der Monarch innehatte.

Zwischen einem Parlament, das Gesetze verabschiedet, über welche die einzelnen Wähler niemals eine Meinung bekundigt oder eine Wahl getroffen haben, und einer wohlwollenden Diktatur oder einer ebenso wohlwollenden Wahlmonarchie, die ihre Entscheidungen treffen, ohne die Bürger zu befragen, existiert keinerlei Unterschied.

Kritik der politischen Repräsentanz

Die Diener des Systems haben rechtzeitig dafür gesorgt, Theorien auszuarbeiten, um die “besondere" Art von Mandat zu rechtfertigen, welches jenes ist, das für die politische Repräsentanz typisch ist. Es gibt verschiedene Thesen. Sie alle gehen von der Voraussetzung aus, dass es sich um ein ganz anderes Mandat handelt als das “normale” der direkten Delegation. Schauen wir sie uns genauer an.

Eine erste Theorie behauptet, dass das Parlament nicht als ein passives Organ des Willens der Wähler betrachtet werden kann, sondern ein unabhängiges Leben haben muss, wie jenes der anderen Organe des Staates, weshalb es sich nicht als zusammengesetzt aus den Repräsentanten des allgemeinen Durchschnitts und der Kultur des Wählerkörpers erweist, sondern aus Menschen, die ihr bemerkenswert überlegen sind, sprich aus den besten Elementen, welche die Nation in einem bestimmten historischen Moment zu bieten hat. Auf diese Weise hätte man also nicht eine Entscheidung auf der Grundlage eines Mandats, das es zum Abschluss zu bringen gilt, sondern auf der Grundlage der Fähigkeit. Die Absurdität von dieser Theorie ist offenkundig. Zunächst einmal sagt sie uns nicht, weshalb denn jene Handvoll Menschen eine dem Rest der Gemeinschaft übergeordnete Macht haben sollte, gesetzt, dass die blosse These der Fähigkeit vom moralischen und juristischen Standpunkt aus nicht ausreicht. Nichts sagt uns diese Theorie über das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten und über das Los der legitimen Erwartung von letzteren, welche sich offensichtlich, bloss aufgrund der simplen Tatsache (gehen wir ruhig davon aus), die besten Männer ausgelesen zu haben, nicht befriedigt fühlen können. Was schliesslich die Fähigkeit von diesen letzteren betrifft, so lohnt es sich nicht wirklich, darüber zu diskutieren, denn alle wissen sehr wohl, wie die Selektion erfolgt und was für Geschäftemacher und Intriganten die überwiegende Mehrheit von jenen ausmachen, die im Parlament sitzen, aber dabei handelt es sich um eine Kritik von individualistischer Natur, die unwichtig ist.

Eine zweite Theorie sagt uns, dass der Zweck des Parlaments darin besteht, das Volk mit dem Staat in Verbindung zu halten, weshalb das Mandat sui generis und ohne Vertretung sei. Diese Theorie beschränkt sich darauf, zu sagen, was in Wirklichkeit geschieht: das Volk wird auf dem Papier vertreten, die Verbindung zwischen Volk und Staat wird offiziell gewährleistet, aber alle Formen der Repression und der Ausbeutung sickern durch sie hindurch. Auch diese Theorie kümmert sich nicht um die Frage, wieso die Vertretenen von diesem Mandat sui generis verpflichtet sein sollten.

Eine andere Theorie behauptet, dass die Gewählten nicht Inhaber eines Organs “des Volkes”, sondern hingegen eines Organs “des Staates” sind, weshalb ihre Inhaberschaft ihren Ursprung in der Verfassung und nicht im Volkswillen findet. Letzterer stellt ein rein technisches Instrument dar, um die Formation des Organs zu ermöglichen. Der Wählerkörper, indem er seine Vertreter bestimmt, nominiert daher nicht Mandatare mit der Aufgabe, seine Rechte geltend zu machen, sondern übt, im Gegenteil, eine ihm vom Staat gegebene Befugnis aus, die gesetzgebenden Versammlungen zu formen. Diese Theorie, welche die durchgehend Akzeptierte ist, beseitigt mit einem Schlag jegliche Verbindungsmöglichkeit zwischen Wähler und seinem Vertreter, während sie den zwanghaften und despotischen Charakter der sogenannten Volksdemokratie vollumfänglich offenbart.

Die Vertretung des Willens, die alleine die Demokratie auf das wirkliche Recht gründen konnte, wird durch die Vertretung der Meinungen ersetzt, die im magischen Schmelztiegel der Parteien elaboriert werden. Der Einzelne verschwindet, um eingetaucht in die grossen Gezeiten der Ideologien und die von den Berufspolitikanten geschickt manövrierten Überbauten hervorzukommen.

Verteidigungsthesen der Unterstützer der parlamentarischen Demokratie

In den letzten Jahrzehnten wohnte man, infolge des Anwachsens der technologischen und militärischen Strukturen der modernen Staaten, insbesondere derjenigen, die sich mit dem Titel von demokratischen Staaten rühmen, einer Zunahme der “geheimen” Macht von jenen Organismen bei, welche Entscheidungen treffen, worin nicht einmal mehr die Fassade einer Befragung der Basis gewahrt wird. Nicht nur, aber die technische Komplexität selbst der anzugehenden Probleme hat die Schlüsselentscheide in die Hände von wenigen Personen reduziert, Entscheide, die Millionen von Individuen einbeziehen und sie dazu verpflichten, bestimmte Akte zu begehen, wozu ihre Meinung niemals gefragt worden ist.

Die Verteidiger dieses Zustands der Dinge schlagen grosso modo drei Theorien vor: a) es findet eine regelmässige Wahl statt, die vom Volk ausgeübt wird, b) es ist nicht denkbar, dass die Regierenden Zwecke verfolgen, die in Kontrast zum Wohl der Kollektivität stehen, c) es besteht jederzeit die Möglichkeit, das Mandat in der nächsten Legislaturperiode zu widerrufen.

Wie man sieht, der Diskurs beginnt, sich im Kreis zu drehen. Nichts wird gesagt bezüglich der effektiven Möglichkeiten des Einzelnen, in die parlamentarischen Entscheide im Laufe der Lebenszeit des Parlamentes einzugreifen, er kann sich bloss, am Schluss, einen anderen Kandidaten und eine andere politische Linie suchen, aber diese Möglichkeit muss er wirklich haben, ansonsten wird alles wieder wie vorher, es ändern sich die Personen, aber das System bleibt dasselbe.

Betrachten wir nun, inwiefern es unmöglich ist, einen Kandidaten zu finden, der die Ideen des Einzelnen über eine gewisse Anzahl Probleme, die grösser ist als zwei, und seien es auch noch so kleine, vollumfänglich zum Ausdruck bringt. Das, was nämlich in den Wahlkampagnen zählt, ist die politische Linie, die von der Partei des Kandidaten festgelegt wurde, seine Versprechen zur Lösung von gewissen Problemen sehen nur in Abhängigkeit von jener Parteilinie Licht. So hat man also, dass sich, wer abstimmt, weniger dafür interessiert, die einzelnen Probleme auszumachen, wie sie von dem einzelnen Kandidaten vorgenommen werden, sondern sich viel mehr dafür interessiert, wie diese Probleme in der Strategie der Partei Platz finden. Wenn wir im Wähler ad absurdum, was schliesslich keineswegs der Wahrheit entspricht, eine klare Vorstellung des Parteiprogramms annehmen, so resultiert daraus, dass dieser letztere in seinen Entscheidungen eine Wahl getroffen hat, dass er seine Urteilsautonomie, und somit seine Verantwortlichmachung, an die von der Partei festgelegte Linie abgegeben hat. Zu einem Parteimensch geworden, hört er auf, autonom zu sein. Auf diese Weise stellt er sich in Abhängigkeit der Partei und, durch diese letztere, aufgrund der Entscheidungen, die an jenem Ort in Mehrheitsform getroffen werden, wird er sich in Abhängigkeit des Parlaments stellen.

Wir haben also eine doppelte Abhängigkeit. Die erste, von der Partei, aufgrund der Unmöglichkeit, die Meinung der einzelnen Kandidaten über alle Probleme, die den Einzelnen betreffen, zu evaluieren, die zweite, vom Parlament, aufgrund der Tatsache, dass es die Abgeordneten sein werden, welche die definitiven Entscheide über die verschiedenen Probleme treffen, während sie den Einzelnen nicht mehr befragen.

Sicher, viele Militante der sogenannten revolutionären Parteien, oder Pseudo-Solchen, mögen diesen Diskurs merkwürdig finden, mögen zum Beispiel eine unpräzise Trennung zwischen Parteien des Volkes und reaktionären Parteien finden, mögen den rechten Flügel und den linken Flügel des parlamentarischen Lagers zusammengelegt finden, mit all den theoretischen und praktischen Konsequenzen, die das mit sich bringt. Es ist hier nicht unsere Absicht, das Problem der Ideologien und davon, was geschieht, wenn diese letzteren einmal in den parlamentarischen Possibilismus eingetaucht werden, zu vertiefen. Wir müssen, dennoch, über das Problem, das aufgeworfen wurde, Rechenschaft ablegen.

Die proletarische revolutionäre Ideologie, diejenige, die von der Erwägung ausgeht, dass die ausgebeutete Masse, auf autonome Weise, über ihre Ausbeutung Bewusstsein erlangen und sich emanzipieren muss, ist ein gültiges Instrument zum Zusammenhalt der Massen und führt das revolutionäre Proletariat zu den letzten Entscheidungen seines emanzipatorischen Schicksals, aber sie hat, als intrinsische Komponente, nicht das offizielle Kleid einer Partei, und umso weniger das offizielle Kleid einer Partei, die sich am Wahlwettkampf beteiligt. Die emanzipatorische revolutionäre Ideologie, als Element zum Zusammenhalt und zur Ausrichtung hin zur Bewusstwerdung der Massen, bleibt, falls sie von einer Bande von Schwindlern (oder von Illusionisten) als Leitfaden einer Partei übernommen wird, die an die bürgerliche Reaktion verkauft wurde, nur auf dem Papier, in der leeren Bedeutung der Worte eine solche, in der Substanz verliert sie jene präzise Aufgabe, während sie sich im grenzenlosen Meer des Possibilismus und des Opportunismus verflüssigt.

Der Basismilitante der revolutionären Partei mag noch immer in gutem Glauben sein, doch die bürokratischen Kader seiner Partei sind es mit Sicherheit nicht. Es ist diese Machtelite, welche, das ideologische Schild voranstellend, die Unterstützungen der Basis einsammelt, um die revolutionären Kräfte ins Meer der Vergessenheit zu geleiten.

Die Reaktion, insbesondere in den demokratischen Staaten, ist nicht bloss die scheele Figur des Faschisten, sondern auch die sympathische Figur des Reformisten, der, sich in die Worte des üblichen revolutionären Vokabulars hüllend, im Grunde die Ausbeutung auf sehr viel effizientere Weise unterstützt als es der Faschist in der Stumpfsinnigkeit seiner Position tut.

Was nach einer eitlen Polemik schien, geführt im Namen von einer Autonomie und einer Freiheit des Einzelnen, welche als individualistische und folglich gegenüber den Erfordernissen der Massen zu verurteilende Tatsachen betrachtet werden, tritt hier, in der Klassenüberlegung, in makroskopischer Form zutage. Die Aberkennung der Bewusstwerdung, der Autonomie, und der Verantwortlichmachung des Einzelnen, gekoppelt mit der Praxis der Delegation der Macht und der Entscheidungen, mit der Verweigerung von jeglicher Anstrengung, die politische Realität zu verstehen, führen gemeinsam zur Unmöglichkeit der Emanzipation, zum Scheitern aller revolutionären Versuche, und zur Wiederbekräftigung der reaktionären Grundlage des Reformismus.

Sich zu weigern, beim Menschen zu beginnen, bedeutet, den Begriff selbst von Klasse verschwinden zu sehen, während man mit einem – wenn man so will für gewisse Zwecke effizienten – Instrument zurückbleibt, welches jenes der einsamen Avantgarde ist, die früher oder später darin endet, im eigenen ausschliesslichen Interesse und auf dem Rücken der Ausgebeuteten zu arbeiten.

Über die Möglichkeiten einer modernen direkten Demokratie

Die Verfechter der repräsentativen Demokratie gestehen oft ein, dass diese politische Form viele Beschränkungen hat, aber dass es keine andere Möglichkeiten gibt, eine demokratische Organisation zu konstituieren. Die Hypothese der direkten Demokratie müsse schlichtweg verworfen werden, weil sie unmöglich zu realisieren ist.

In dieser Behauptung gibt es zwei Aspekte, ein erster Aspekt hält sich die Situation als das vor Augen, wie sie heute ist, eine Situation, worin grosse bürokratische Konstruktionen, die man Staaten nennt, die untätige Komplizenschaft der Massen brauchen, um die Herrschaft der wenigen über viele fortzusetzen, und diese Komplizenschaft, die finden sie eben im Wahlsystem. In der Tat ist ein moderner Staat, von reformistisch-sozialdemokratischer Natur, der auf der direkten Demokratie beruht, undenkbar, gesetzt den Fall, dass letztere unter diesen Bedingungen technisch möglich wäre. Man hätte ein absolutes Chaos. Heute würde ein Gesetz mit einer gewissen Ausrichtung verabschiedet, und nächste Woche würde ein anderes mit einer diametral entgegengesetzten Ausrichtung verabschiedet. Heute wäre man glühende Militaristen, und morgen überzeugte Antimilitaristen, heute würde man einem breiten Programm für den Bau von Spitälern zustimmen, und morgen müsste das Programm gestoppt werden, weil diese Gelder zur Fabrikation von militärischen Geräten storniert werden.

Doch es gibt einen anderen Aspekt, derjenige der künftigen Gesellschaften, einer Gesellschaft, worin die Entscheide von allen getroffen werden, mit der Methode von eben der direkten Demokratie. In dieser Perspektive gibt es, laut den Verfechtern der repräsentativen Demokratie, einzig das technische Hindernis. Doch, auch dies ist nichts anderes als ein falsches Problem. Die Produzentenverbände, föderiert in breiteren Organisationen, werden über alle Probleme ihre Ansichten ausdrücken können, was, in den Einzelnen, eine genaue Evaluierung der diversen günstigen und ungünstigen Möglichkeiten erlaubt. Es stimmt durchaus nicht, dass die meisten sich nicht für Politik interessieren. So ist es heute, weil die Politik für die meisten etwas Konfuses und Fremdes ist, weil sie von Spezialisten gemacht wird, die das, was sie tun, undurchsichtig halten wollen, um ihre Herrschaft besser fortzuführen. Wenn alles durchsichtig wird, würde jeder nicht nur sein Interesse an der Politik finden, sondern sich als das entdecken, was er tatsächlich ist: das Mitglieder einer Kollektivität der Probleme, für die er sich unmöglich nicht interessieren kann. Der Platz, welcher heute von den verschiedenartigen Zeitvertreiben und Sportveranstaltungen von passiver Art besetzt wird (siehe zum Beispiel der Fussball), würde, in einer anderen Gesellschaft, von der Diskussion und der Vertiefung der politischen Thematiken besetzt.

Auch der technische Aspekt, davon, simultan eine grosse Anzahl von Antworten über verschiedene Argumente zu haben, um es den föderalen Organisationen zu erlauben, die Entscheidungen der einzelnen Assoziierten zu kennen, ist heute, beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Elektronik [1974], kein Problem.

Nur dass die föderalen Entscheide auf diese Weise nicht zwingenden Charakter haben werden, weil von der zentralisierten Organisation erlassen, sondern verpflichtenden Charakter von moralischer Natur haben werden, weil den Entscheidungen entsprechend, die von den Einzelnen getroffen wurden, mit einem Einwand, den wir sogleich betrachten werden.

Das Problem der Mehrheit und der Minderheit

Dieses Problem ist sehr tiefgreifend, und wenn es nicht sorgfältig untersucht wird, läuft es Gefahr, die ganze theoretische und praktische Konstruktion des Anarchismus zu verunmöglichen.

Die Anarchisten verneinen den politischen Nutzen der Abstimmung, wenn sie ein Mittel ist, um jemanden dazu zu delegieren, zu handeln, um eine Macht über dem Volk zu bilden, sich auf das Alibi stützend, dass es das Volk selbst war, welches sie, mittels der Abstimmung, legitimiert hat. Aber sie halten die Abstimmung für unabdingbar, wenn sie nicht dazu dient, Bosse zu ernennen, sondern die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.

Sicher, wie Malatesta darauf hinweist, es gibt Anarchisten, die «die Form mit der Substanz verwechseln», sie sind gegen die Abstimmung im Generellen und somit auch gegen diese zweitere Art, die Abstimmung zu verstehen. Aber dadurch blockiert man jegliche Initiative der Basis, ausser im Grenzfall der Einstimmigkeit. Eine kleine Gruppe von Individuen, auch ein einzelner Mensch, kann alles blockieren, und Jahre der Anstrengung und Aufopferung zerstören.

Malatesta schreibt: «Ich behaupte, dass kein soziales Leben möglich wäre, wenn tatsächlich nie etwas zusammen getan werden dürfte, ausser wenn alle einstimmig einverstanden sind. Dass die Ideen und Ansichten sich in ständiger Evolution befinden und sich durch unmerkbare Variationen unterscheiden, während die praktischen Realisierungen sich in ruckartigen Sprüngen verändern, und dass, wenn ein Tag kommen sollte, an dem sich alle vollkommen einig wären über die Vorteile von einer gewissen Sache, dies bedeuten würde, dass jeder mögliche Fortschritt in dieser bestimmten Sache erschöpft ist [...]. Bei all jenen Dingen, die nicht mehrere gleichzeitige Lösungen zulassen, oder in welchen die Meinungsunterschiede nicht von solcher Wichtigkeit sind, dass es die Mühe wert ist, sich zu spalten und jede Fraktion auf ihre Weise zu handeln, oder in denen die Pflicht der Solidarität die Einigung aufdrängt, ist es also vernünftig, richtig, notwendig, dass die Minderheit gegenüber der Mehrheit nachgibt. Aber dieses Nachgeben der Minderheit muss Auswirkung des freien Willens sein, ausgelöst vom Bewusstsein über die Notwendigkeit, es darf nicht ein Prinzip, ein Gesetz sein, das folglich in allen Fällen angewandt wird, auch wenn die Notwendigkeit real nicht besteht.»

Es ist wichtig, einige Dinge über diese Bekräftigungen von Malatesta zu klären, welche die einzige logische Lösung des Problems darstellen. Die zugrundeliegende Situation, die vor Augen gehalten wird, ist nicht diejenige, worin ein ökonomischer Kampf, ein Klassenkampf im Gange ist, ist nicht diejenige, worin es einen politischen Gegenpart gibt, der fähig ist, all die niederträchtigsten Formen der Ausbeutung einzusetzen, es ist im Gegenteil eine Situation, die Divergenzen berücksichtigt über die beste Art und Weise, das Gemeinwohl zu erreichen. Also eine Situation, die sich heute in den Organisationen von Gefährten ereignet und die sich morgen, in der Gesellschaft der Zukunft, wenn der Klassenkampf beendet ist, in der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit realisieren wird. Wir haben vor uns nicht das Modell der Konflikte zwischen diskordanten Interessen, sondern einzig Divergenzen über die unterschiedlichen Möglichkeiten, das Gemeinwohl zu realisieren. Wo dem nicht so wäre, hätte man keine moralische Sorge über das Schicksal der Minderheit, im Gegenteil würde man diese letztere (die schliesslich simpler der Klassenfeind wäre) leicht in der fundamentalen Abweichung von ihren Konfliktinteressen ausmachen.

Diese Präzisierung lässt all die Probleme, die von den Theoretikern der Demokratie vorgebrachten werden über das Recht der Mehrheit, die Minderheit zu regieren, hinfällig werden. In einer freiheitlichen Gesellschaft gibt es diese deformierte Vorstellung des Zusammenlebens nicht, demnach können all die Sorgen über das Schicksal, welches der Minderheit Vorbehalten wird, nicht gültig sein.

Man könnte einwenden, dass so die Minderheit ihre Autonomie verloren hat und dass die der Minderheit angehörenden Einzelnen sich moralisch verpflichtet fühlen werden, eine Entscheidung zu befolgen, die nicht die ihre gewesen ist, sondern im Gegenteil diejenige war, die von der Mehrheit getroffen wurde. Ein korrekter Einwand, aber nur formal. Wenn wir die Untersuchung in substanzieller Form vertiefen, wird ersichtlich, wo das Missverständnis liegt. Zunächst einmal können die fundamentalen Entscheide, diejenigen, welche die essenziellen Zwecke der Gesellschaft betreffen, nicht auf diese Art von Überlegung zurückgeführt werden, das heisst, sie können nicht mit Mehrheit getroffen werden. Nicht, dass es sich dabei um eine Vorkehrung oder um einen Kunstgriff handeln würde, das ist etwas Natürliches und Fundamentales, etwas, das strikt zum revolutionären Kampf gehört und das, von selbst aus, die fundamentalen Ziele der neuen Gesellschaft klärt. Es ist logisch, dass jemand, der für die soziale Revolution kämpft, sich nachher nicht zu einem Befürworter des Privateigentums, oder der kapitalistischen Organisation der Arbeit, oder des traditionellen bürokratischen Systems, oder aller anderen fundamentalen Ziele machen kann, die ihre Logik aus einem System der Dinge ableiten, gegen welches man gekämpft und gesiegt hat. Die Klärung der revolutionären Ziele wird in einem die Ausmachung der Ziele der künftigen Gesellschaft bestimmen, die aus der Zerstörung der vorangehenden Gesellschaft hervorgeht. Über dieses Argument ist es nicht legitim, von Mehrheit oder Minderheit zu sprechen.

Ist ausgemacht, was wir als “Gemeinwohl” definiert haben, bleibt ein zweiter Aspekt, der ebenso wichtig ist, der strukturelle, methodologische, organisatorische Aspekt, der, wie der erstere, nicht einem Mehrheitsentscheid unterstellt werden darf. Wir stehen nämlich vor einem Problem, das primär den Zielen dienlich ist, welche von der Revolution festgelegt wurden. Hier verortet sich der Konflikt mit den Autoritären, ein Konflikt, der eben von methodologischer und substanzieller Natur zugleich ist. Auch wenn die Autoritären dieselben Ziele wollen würden, die wir wollen, so wollen wir sie in anderen Formen, denn wir sind der Ansicht, dass die organisatorische Struktur, mit welcher diese Ziele verfolgt werden, die Möglichkeit, sie zu erreichen, in grossem Masse beeinflussen wird. Dabei handelt es sich um einen formellen Aspekt (Struktur, die es der post-revolutionären Phase zu geben gilt), der sich unverzüglich in einen substanziellen Aspekt verwandelt, der keinesfalls auf die Bank der Mehrheit und der Minderheit geführt werden darf.

Bleiben schliesslich die verschiedenen Arten und Weisen, um, innerhalb der organisatorischen Struktur selbst, gemeinsame Ziele zu erreichen. Hier wird die Anwendung der mehrheitlichen Demokratie möglich sein. Es ist logisch, dass der Einzelne, der einer Minderheit angehört, die eine andere Art und Weise verfechtet, das Ziel zu erreichen, aber noch immer Teil von einer Organisation ist, die eine libertäre Methodologie als Vehikel zur Annäherung an das Ziel gewählt hat, sich weniger gegenüber der von der Mehrheit gewählten Art und Weise, sondern gegenüber dem Ziel und der Organisation, der er angehört, verpflichtet fühlen muss. Auf diese Weise ist seine substanzielle Autonomie unbeschadet, ist seine Verantwortlichmachung als freier Mensch unbeschadet, da beide an die Substanz (Ziel und Methode) und nicht an die Form gebunden sind, die man gewählt hat.

Manche haben behauptet, dass das Prinzip der Rechte der Minderheit bewahrt werden muss, in dem Sinne, dass letztere in Stand gesetzt werden muss, ihre Dissensposition im Konkreten experimentieren zu können, denn auch im Dissens, und oft gerade in ihm, liegt jene Kraft, welche zu den besten Errungenschaften des Menschen führt.

Tatsächlich scheint uns diese Prinzipienbekräftigung durch unsere Formulierung selbst an und für sich gelöst. Als Erstes müssen wir hinzufügen, dass die blosse These, dass der Minderheit die Möglichkeit gegeben werden muss, zu experimentieren, was von ihr bekräftigt wird, wenigstens schwammig ist und keine präzisen praktischen Indikationen gibt. Es darf nämlich nicht vergessen werden, dass, unter Ausschluss, wie wir es getan haben, der fundamentalen Fälle des “Gemeinwohls" (der Gegenpart wäre also konterrevolutionär) und der unterschiedlichen Methodologie (der Gegenpart bestände aus Autoritären, mit welchen ein Einverständnis unmöglich ist), unter Ausschluss dieser Fälle, noch präzise Tatsachen, bestimmte, unwiederholbare historische Ereignisse übrig bleiben, gegenüber denen eine Entscheidung getroffen werden muss. Nun, alle historischen Ereignisse sind, wie einleuchtet, unwiederholbar, einzigartig, weshalb die abstrakte Formulierung „der Minderheit muss die Möglichkeit gegeben werden, ihre These zu experimentieren“ absurd wird. Nehmen wir an, wenn man über den Bau von einer Brücke, über die Produktmenge, die für einen gewissen Zeitraum in Voranschlag gestellt werden muss, über die Form eines Manifests, über die Zusammensetzung eines Quartierkomitees oder über die Kampfkomponenten einer Konfrontation entscheiden muss, so müssen die Diskussionen zwangsläufig auf die Ebene der Mehrheit und der Minderheit zurückgeführt werden. Es nützt nichts, zu wiederholen, dass diese letztere geschützt werden muss, keine Gewalt wird gegen sie verübt, kein Gesetz – auch nicht das eigene der Mehrheit – wird ihr auferlegt, die Minderheit wird lediglich, basierend auf dem Grad an Bewusstsein und Verantwortlichmachung, den ihre Komponenten erreicht haben, auf autonome Weise entscheiden, die Mehrheitslösung, als technischen Notbehelf, zu akzeptieren, im Bewusstsein über die Absurdität von jeglicher anderen Erwägung. Neben dieser Akzeptierung wird die Minderheit dafür sorgen, die Anwendung des von der Mehrheit angenommenen und unterstützten Kriteriums zu befolgen, während sie nach und nach etwaige mögliche Modifikationen vorschlägt, sich der konstruktiven Kritik nicht enthaltend, ohne deswegen zur Absurdität zu gelangen, zwei Brücken zu bauen, zwei Komitees zu machen, zwei Konfrontationen zu organisieren, zwei unterschiedliche Mengen von derselben Ware zu produzieren, bloss weil der Minderheit das Recht zusteht, ihre These zu “experimentieren”. Da der Akt der Anfertigung der Brücke, der Konfrontation, des Manifests, usw., an sich, unwiederholbar ist, weil sich danach, zu einem nachfolgenden Zeitpunkt, die allgemeinen Bedingungen verändern, welche den Akt mit diesen Charakteristiken denkbar und realisierbar machten, wird die Minderheit in Praxis nie die Möglichkeit haben, ihre These über einen präzisen und eingegrenzten Akt zu “experimentieren”, sie wird die zugrundeliegende Idee experimentieren können, welche die Dissensposition stützte, freilich innerhalb der Grenzen des “Gemeinwohls” und der antiautoritären methodologischen Eigenheiten.

Wie wir gleich anschliessend demonstrieren werden, ist das Mehrheitssystem intrinsisch absurd, weshalb es nur beschränkt auf Entscheidungen angewendet werden kann, die das Gemeinwohl und die Struktur, um es zu erlangen, nicht involvieren, über seine intrinsische Absurdität hinwegsehend und gebrauchend, was es an Gutem liefern kann: die Überwindung der Dichotomien, das heisst der Situationen, die zwei gegensätzliche Lösungen vorweisen.

Absurdität des Mehrheitssystems

Eine Person trifft eine Wahl, weil sie sich autonom im einen oder im anderen Sinne entscheidet. In unserer ganzen Problematik unterlassen wir es absichtlich, über die – für uns heute normale – Situation zu sprechen, in der die Wahlen infolge von Anregungen und Konditionierungen getroffen werden, die von oben gewollt sind, sondern beziehen wir uns im Gegenteil auf eine Situation, in welcher die Notwendigkeit aufkommt, die Minderheit zu schützen, und somit auf eine Situation, in der die Gesamtheit, fern davon, Konditionierungen zu erhalten, unter die besten Bedingungen gestellt wird, um einen möglichst breiten Einblick in die Probleme zu haben, welche die Gemeinschaft bedrücken.

Eine Person, haben wir gesagt, trifft eine Wahl, weil sie in dieser ihre Autonomie realisiert. Es ist logisch, dass diese kritische Tatsache, für diese Person, nicht eine isolierte Tatsache sein kann, sondern ein Moment von einer Reihe von Wahlen ist, die alle durch eine gemeinsame Charakteristik verbunden sein müssen: die Kohärenz. Dies ist, weshalb die direkte Demokratie die mit Abstand beste Lösung ist, denn sie überträgt die Kohärenz der Einzelnen auf Gemeinschaftsebene, und lässt die Aktion der Gemeinschaft selbst, im Kundtun ihrer Wahlen, kohärent werden.

Im Falle der mehrheitlichen Demokratie hingegen ist es leicht, zu demonstrieren, wie, auch wenn die Wahlen der Einzelnen kohärent bleiben, die Aufeinanderfolge der Wahlen der Gemeinschaft inkohärent werden kann, eine Aufeinanderfolge, die aus der arithmetischen Berechnung der Stimmen resultiert.

Dieses Paradox, das von den Mathematikern viel studiert wurde, ist vom englischen Mathematiker Charles Dodgson (welcher unter dem Namen Lewis Carroll Alice im Wunderland schrieb) ausgiebig ausgeführt worden. Stellen wir uns vor, dass drei Personen über ein Problem entscheiden müssen, und dass dieses drei Lösungen vorweist. Ein jeder wird unverzüglich eine Wertskala in Hinblick auf die drei Alternativen festlegen. Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, die Art und Weise oder die Motivationen festzulegen, welche aufgewendet werden, um diese Wertskala festzulegen, was zählt, ist, dass diese Skala zwangsläufig vorhanden sein muss, da die drei Alternativen nicht völlig identisch sind. Die drei Personen werden also eingeladen, gemäss ihren Präferenzen für die möglichen Alternativen zu stimmen, in Zweierpaaren. Von diesen gibt es, wie klar ist, drei. Wenn wir die drei Alternativen A, B und C nennen, können die Abstimmungen folgende sein: A gegen B, dann A gegen C und schliesslich B gegen C.

Unter den verschiedenen Kombinationsgruppen gibt es einige, die den Übergang von der Kohärenz der Wahl der Einzelnen zu derjenigen der Gemeinschaft gewährleisten, und andere, die ihn nicht gewährleisten.

Beispiel Nr. l

Individuum 1 Individuum 2 Individuum 3
A A B
C B C
B C A

In diesem Beispiel haben wir, dass die Individuen l und 2 den Vorrang A gegenüber B geben und somit das Individuum 3 in Minderheit stellen. Dasselbe geschieht ausserdem für die Individuen 2 und 3, die das Individuum 1 in Minderheit stellen, indem sie B vor C wählen. Nun, wenn die Gemeinschaft A vor B und B vor C wählt, dann muss daraus folgen, um eine Kohärenz auf Gemeinschaftsebene zu haben, dass A gegenüber C bevorzugt wird. Diese Kohärenz ist, im obengenannten Beispiel, in der Tat vorhanden, da die Individuen 1 und 2 A vor C wählen und das Individuum 3 in Minderheit stellen.

Beispiel Nr. 2

Individuum 1 Individuum 2 Individuum 3
A B C
B C A
C A B

Auch hier hat man eine Mehrheit von A gegenüber B infolge der von den Individuen 1 und 3 gemachten Abstimmungen, und dasselbe bezüglich B gegenüber C aufgrund der Abstimmungen der Individuen l und 2. Hingegen, jedoch, und hier zeigt sich die Inkohärenz der Gemeinschaft im Vergleich zur Kohärenz der Einzelnen, besteht keine Mehrheit von A gegenüber C, da die Individuen 2 und 3 für C anstatt für A stimmen.

Es gab auch Kritiken, an dieser Argumentation, aber sie ist, wie Kenneth Arrow belegt hat, mathematisch exakt und negiert der sogenannten demokratischen Mehrheitsmethode jegliche Gültigkeit.

Wenn wir unseren Diskurs vertiefen wollen, so kann man sehen, wie sich die Inkohärenz von dieser Methode auch ergeben würde, wenn die Abstimmungsmethode geändert wird.

Nehmen wir an, dass die Personen, die dazu aufgerufen werden, zu entscheiden – noch immer in der Zahl von drei, um die Rechnungen zu vereinfachen –, sich über die Alternativen aussprechen sollen, eine auf einmal, solange, bis eine, natürlich mit Mehrheit, als die für die Gemeinschaft gültige angenommen wird. Auf diese Weise ist es leicht, zu demonstrieren, dass die siegreiche Alternative ausschliesslich von der Reihenfolge abhängig ist, wie die unterschiedlichen Alternativen den Wählern unterbreitet werden (eine offensichtlich absurde Lösung). Wenn wir noch immer von A, B und C ausgehen, so liefern diese nämlich sechs Reihenfolgen von Alternativen, worüber die Gesamtheit der Abstimmenden sich aussprechen soll: ABC, ACB, BAC, BCA, CAB, CBA. Nun, ein jeder Abstimmender stimmt gegen einen Vorschlag, wenn es in der Skala seiner Präferenzen noch Alternativen gibt, wobei ein Vorschlag, einmal nicht angenommen, aus der Perspektive ausgeschieden und somit der Gesamtheit der Wähler unbekannt ist. Unter Berücksichtigung der Präferenzen, die wir beim Beispiel 2 hatten, ergeben sich folgende 6 Fälle:

  • I) A wird den Wählern unterbreitet und wird nicht angenommen, da zwei Personen entweder B oder C bevorzugen. Dann ist B an der Reihe, der angenommen wird, weil zwei Personen ihn gegenüber der verbleibenden Alternative C bevorzugen. Es gewinnt also B.

  • II) A wird den Wählern unterbreitet und verliert, ebenso C, demnach bleibt noch B. Es gewinnt B.

  • III) B wird den Wählern unterbreitet und verliert, auch A verliert, es bleibt noch C, der gewinnt.

  • IV) B wird den Wählern unterbreitet und verliert, C gewinnt.

  • V) Dasselbe für C, der verliert, A gewinnt.

  • VI) A gewinnt.

Schliesslich haben wir das an Irrationalem, dass die Kollektivität jedes Mal andere Alternativen wählt, wenn sie sich in einer anderen Reihenfolge mit ihnen befasst: die Kohärenz der Basis überträgt sich nicht in die mehrheitliche Wahl der Gemeinschaft. (Vgl. über dieses Argument: R. P. Wolff, Eine Verteidigung des Anarchismus, dt. Üb., Wetzlar 1979, S. 66-67).

Abgesehen von Grenzfällen werden diese Absurditäten des mathematischen Gesetzes, in unseren Parlamenten, durch die Existenz von einer “unimodalen” Linie, die von der Partei ausgeht, auf eine Kohärenz reduziert, die künstlich und nicht real, weil nicht den Meinungen der einzelnen Abgeordneten entsprechend ist. In anderen Worten, ein Abgeordneter stimmt in Abhängigkeit von seiner Position innerhalb von der Partei. Zum Beispiel, wenn die seine eine Partei des Zentrums ist, so werden seine Wahlen mit denjenigen seiner Parteikollegen umso weniger diskordant sein, je näher die Alternativen einer politischen Position des Zentrums kommen. Entfernen sie sich nach links oder rechts, wächst die Möglichkeit der Inkohärenz, sofort begradigt von der Treue zur Partei und ihrer Linie. Dies erklärt, unter anderem, die Existenz der sogenannten "Freischärler" bezüglich Problemen, die subtile Nuancierungen oder parallele Allianzen involvieren.

Ein weiteres Mal bleibt bewiesen, dass es nicht die arithmetische Summe der Stimmen ist, und die mathematische Mehrheit, die sich daraus ableitet, was den parlamentarischen Initiativen und Entscheiden das Charisma der Legitimität verleiht, sondern, im Gegenteil, die Machtentscheide der einzelnen Parteien. Wo dem nicht so wäre, würde das schlichte Gesetz der Mehrheit das Parlament in Inkohärenz stürzen. Daraus folgt, dass die Kohärenz, die es im Laufe der verschiedenartigen Gesetze, die es verabschiedet, manifestiert, ein weiteres Mal, eine Kohärenz der Macht ist und keinerlei Zusammenhang hat mit den Delegationen, die von der Basis erteilt wurden, denn sie hat keinen mit den Entscheidungen der einzelnen Abgeordneten.

Parlamentarismus und Autoritarismus

Es ist möglich, einen präzisen Zusammenhang zwischen parlamentaristischer Lehre und Autoritarismus auszumachen. Diese Behauptung ist belegt durch den logischen Faden, welcher die verschiedenen Positionen der Autoritären in Bezug auf die Beteiligung am Wahlkampf vereint.

Im Juli 1920, am Kongress von Moskau, wohnte man einer Konfrontation zwischen Abstentionisten und Parlamentaristen bei: die ersteren vertreten von Bordiga, die zweiteren gebunden an die Thesen von Lenin.

Versuchen wir, den bordigistischen Abstentionismus genauer zu verstehen, denn er unterscheidet sich sehr stark vom anarchistischen Abstentionismus. So schrieb Bordiga: «Für die bessere Entwicklung der kommunistischen Propaganda und der revolutionären Vorbereitung in den westlichen demokratischen Ländern sollten sich die Kommunisten, in der gegenwärtigen Periode von revolutionärer universeller Krise, nicht an den Wahlen beteiligen.» (“Elezioni”, in “L’Ordine Nuovo” vom 14. April 1921). Wir haben vor uns eine umstandsbedingte These, die sich morgen, unter veränderten Bedingungen, in eine These zur Beteiligung am Wahlkampf verwandeln könnte.

Die Konklusion des Artikels von Bordiga ist dennoch für die Beteiligung, denn so wurde in Moskau entschieden und die italienischen Kommunisten konnten nicht anders handeln, als es die sowjetischen Direktiven verordneten. Auf derselben Position wie die Italiener (das heisst mit abstentionistischer Mehrheit innerhalb der Partei) befanden sich auch die Deutschen und die Holländer, doch alle beteiligten sich an den Wahlen.

Es ist der zugrundeliegende Autoritarismus, der Bordiga hier eine logische Konsequenz verhindert. Der Abstentionismus kann nur gültig sein unter der Bedingung, mit sich selber kohärent zu sein, er kann nicht eine opportunistische Praxis sein: entweder er geht davon aus, dass das Parlament eine Gültigkeit hat, und sei es auch nur als Instrument, oder er geht absolut nicht davon aus, andersherum wäre es unlogisch, dass ihm diese Gültigkeit auf einmal angesichts des Wandels der Bedingungen zukommt. Denn, wenn das Parlament eine spezifische Produktion des demokratischen Bürgertums (oder Pseudo-Solchen) ist, dann ist es eine historische Kreation, die zu jedem Zeitpunkt (es ist hier nicht zuträglich, zu bewerten, ob von innen oder von aussen) bekämpft werden muss, aber mit präzisen Zielen und mit einer einheitlichen Taktik, da der Despotismus, der die Existenz selbst des Parlaments als bürgerliche Institution stützt und ermöglicht, sich selbst immer treu ist.

Für die italienischen, deutschen und holländischen Kommunisten galten die Direktiven des internationalen Zentrums mehr als die Prinzipien- und Kohärenzfragen. Noch 1924 schrieb Bordiga: «Es gehört sich nicht für Kommunisten, glauben zu machen, dass unter einem Regime von Demokratie und Freiheit die Wahlen den effektiven Willen der Massen übersetzen. Unsere ganze Lehre erhebt sich gegen jene kolossale bürgerliche Lüge, unser ganzer Kampf richtet sich gegen ihre Anhänger, Verleugner der revolutionären Methode der proletarischen Aktion. Der liberale Wahlmechanismus ist nur dafür gemacht, eine notwendige und konstante Antwort zu geben: “bürgerliches Regime”, “bürgerliches Regime”...». (“L’unità”, Mailand, 27. Februar 1924). Und doch, weit über das fundamentale Prinzip hinaus, galt für den kommunistischen Revolutionär die autoritäre Regel des Gehorsams gegenüber den von oben kommenden Direktiven.

Versuchen wir, nun, die Position von den Parlamentaristen zu untersuchen, also von jener Linie, welche sich beim erwähnten Kongress von Moskau an Lenin anlehnte. Es ist nicht so, dass man hier den Fehler begehen darf – der heute gewissen Kommunisten von unserem Hause so lieb ist –, die leninistische These mit derjenigen zu verwechseln, welche lediglich dem Reformisten Kautsky zuzuschreiben ist. Auf diese Weise wird das Parlament – klassische Kautsky-These – zu etwas Metahistorischem, das es schon immer gegeben hat und das es immer wird geben müssen, etwas, das sich merkwürdigerweise als weit jenseits vom Klassenkampf erweist. Mit dieser These, und mit derjenigen von ihren Imitatoren von heute, wird die klassische These und Analyse von Marx von Grund auf zerstört.

Tatsächlich befindet sich die Kommunistische Partei heute [1974], sagen wir in Italien, auf der reformistischen Linie der Sozialdemokratie, da sie sich an die Direktiven angepasst hat, welche ihr den Aufbau von einer grossen parlamentarischen Partei auferlegten, die These Lenins von der kleinen revolutionären Avantgardepartei zum Schweigen bringend. Abgesehen vom Diskurs über die autoritären Mängel der leninistischen These, bleibt, dass die opportunistische Anpassung an die Nachkriegssituation die Partei in der Praxis auf bürgerliche Positionen gebracht hat.

Mit Lenin von Staat und Revolution entwickelt sich diese typisch marxistische Kritik – am Klassencharakter des Parlaments und an seiner wesentlichen Antidemokratizität, und über die Möglichkeit, eine auf den Sowjets begründete Demokratie aufzubauen.

Dies ist, was Lenin schreibt: «Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in der Aufhebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu suchen, sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatzbuden in “arbeitende” Körperschaften.» (Lenin Werke, dt. Üb., Berlin 1974, S. 436).

Und dies sind die Hauptthesen des Kongresses von Moskau von 1920. «Der Parlamentarismus als Staatssystem ist eine “demokratische” Herrschaftsform der Bourgeoisie geworden, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Fiktion einer Volksvertretung bedarf, die äusserlich als eine Organisation eines ausserhalb der Klassen stehenden “Volkswillens” erscheint, in Wirklichkeit aber eine Maschine zur Unterdrückung und Unterjochung in den Händen des herrschenden Kapitals ist.»

«Die bürgerlichen Parlamente, einer der wichtigsten Apparate der bürgerlichen Staatsmaschine, können als solche nicht auf die Dauer erobert werden, wie das Proletariat überhaupt nicht den bürgerlichen Staat erobern kann. Die Aufgabe des Proletariats besteht darin, die Staatsmaschine der Bourgeoisie zu sprengen, sie zu zerstören, und zugleich mit ihr die Parlamentsinstitutionen, mögen es republikanische oder konstitutionell-monarchistische sein.» (Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale, dt. Üb., Hamburg 1921, S. 469,470).

Aber trotz all dieser Kritik, wird der taktische Moment der Beteiligung akzeptiert. Das Instrument “Parlament” wird als Klasseninstrument und als Instrument der Bosse erkannt, man ist jedoch der Ansicht, dass die Beteiligung am Wahlkampf gewisse Resultate erlauben kann. In der Tat, man versucht, den Regierungsapparat von innen her zu zerstören, die parlamentarische Tribüne für die revolutionären Zwecke zu benutzen, mit der Wahlkampagne nicht so sehr das Maximum an Mandaten, sondern das Maximum an Mobilisierung der Massen über die Losung der proletarischen Revolution zu erreichen. In einem Wort – und von daher unsere Analyse, die darauf ausgerichtet ist, das autoritäre Fundament dieser These zu erfassen –, man versucht, einen möglichst breiten Raum für die agierende Minderheit, für die Parteiführung zu finden, ungeachtet der Methodologie, die im Kampf von den Massen angewandt wird. Es sind nicht letztere, die in einem revolutionären und direkten Kampf Bewusstsein erlangen sollen, sondern sie können auch eingetaucht in die Benutzung des Wahlinstruments bleiben, es gibt ja stets Führungskader der Partei, die die Angeln des Parlaments von innen her zu sprengen wissen werden, wenn man das Vertretungsmandat in direkte Aktion verwandeln können wird.

Nun, wenn die reformistische These – die wir auf Kautsky zurückgehen sahen – auf einer Analyse basiert, die von einem Klassenstandpunkt aus falsch ist, auf einer Analyse, die wahrhaftig interklassistisch ist, so basiert die autoritäre “revolutionäre” These, die für die Bolschewisten typisch ist, auf einer Analyse, die von einem propädeutischen Standpunkt aus korrekt ist (Bildung und Zusammensetzung des Parlaments), aber von einem programmatischen Standpunkt aus falsch (Möglichkeit, aus dem Innern zu agieren), während sie zur merkwürdigen Schlussfolgerung gelangt, dass die Demokratie der Zukunft (eine Demokratie der Sowjets und somit eine Demokratie der Basis) aufgebaut werden kann, indem die Massen dazu erzogen werden, für die Demokratie der Bosse zu stimmen. Die Resultate sind heute [1974] in Italien sehr offenkundig, wo eine (zahlenmässig) starke kommunistische Partei dem reformistischen Weg von Kautsky folgt, während sie zu verstehen gibt, dass sie auf diese Weise an der marxistischen Lehre und am Aufbau von einer zukünftigen Volksdemokratie festhalten will.

Der blinde Autoritarismus der kommunistischen Partei bewirkt die Möglichkeit, dass offenkundige Inkongruenzen, wie die eben untersuchte, die sich den Augen, sagen wir, von Bordiga klar zeigten, zum Schweigen gebracht werden, während in den Massen eine pragmatische Ausrichtung bewirkt wird, die sich im negativen Fall (Scheitern der Machtziele, wie es im Westen geschehen ist) in einem qualunquistischen Reformismus konkretisiert, und sich im positiven Falle (Erfolg in der Eroberung der Macht, wie es im Osten geschehen ist) in einem Absolutismus Stalinscher Art konkretisiert, mit möglichen sozial-imperialistischen Modifikationen nach kapitalistischer Imitation.

Von einer Verwendung des Parlaments in revolutionärer Form auszugehen, während die reformistische These aus offensichtlichen Gründen ausgeschlossen wird, ist nur möglich, wenn man als revolutionäres Projekt die Eroberung der Macht durch eine Minderheit hat, die sich, eben, im Falle der kommunistischen Partei nach leninistischem Ansatz, generisch auf die Prinzipien des Marxismus berufen mag. Im gegenteiligen Fall, was schliesslich die anarchistische These wäre, ist die Verwendung nicht mehr möglich. Die zum demokratisch-bürgerlichen Wahlkampf erzogene Basis, nämlich, wird sich niemals stehenden Fusses jene Strukturen von direkter oder Basisdemokratie aneignen können, welche die Form der freiheitlichen (assoziationistischen und föderalistischen) Gesellschaft charakterisieren. Die bürgerliche Degeneration wird auch nach dem revolutionären Ereignis fortbestehen, die neuen Meister des Dampfes dazu zwingend, einen Rückzieher zu machen und die Herrschaft von einer Partei über das Proletariat durchzusetzen: die folgerichtige Metamorphose der “Diktatur des Proletariats”. Deshalb beharren die Anarchisten auf dem Abstentionismus. Lasst uns, im Detail, die Endthese betrachten.

Der anarchistische Abstentionismus

Es gibt zwei Arten und Weisen, das Problem des Abstentionismus innerhalb des anarchistischen Lagers zu betrachten. Die erste, die wir als “subjektivistisch” definieren könnten, welcher es nicht gelingt, die organische und komplette Betrachtungsweise der Institution “Parlament” zu erfassen, die zweite, die wir als “klassistisch” definieren könnten, welche hingegen zu einer ganz anderen Analyse von dieser Institution gelangt und deren Konfliktkomponenten aufzeigt.

Trotz der Schärfe der Analyse des zweiteren Typs, die hauptsächlich Malatesta zu verdanken ist, bedarf es unserer Meinung nach einer Ergänzung in Bezug auf die Beziehung zwischen Einzelnem und Institution Parlament und in Bezug auf den Einzelnen zu sich selber, das heisst auf Ebene der Autonomie und der Verantwortlichmachung. Da wir den ersten Teil von unserem Diskurs diesem letzteren Problem gewidmet haben, bleibt uns jetzt nur noch, in kurzen Worten, über die Analyse von subjektivistischer Art und von klassistischer Art Rechenschaft abzugeben, um das Argument auszuschöpfen.

Zum Beispiel sind die antielektoralen Schriften von Molinari, von Galleani, von Faure, und bis zu einem gewissen Punkt von Merlino selbst aus der abstentionistischen Periode, an eine Polemik gebunden, die, wenn man so will, nützlich und interessant ist, aber die völlig einer konkreten Analyse der Institution entbehrt und letztlich der revolutionären Aktion keine konkrete Ausrichtung liefert.

Nehmen wir als Modell die Kritik von Faure (S. Faure, La putredine parlamentare, it. Üb., Ragusa 1968). Er beginnt damit, dass er das ganze Problem des Parlamentarismus in vier Worten zusammenfasst: Absurdität, Ohnmacht, Korruption, Schädlichkeit. Die Absurdität wird aus der Tatsache abgeleitet, dass wir in einer Gesellschaft leben, worin sich alle Interessen in Konflikt befinden (Boss gegen Arbeiter), daher werden derart gegensätzliche Interessen nie von einer einzigen Institution vertreten werden können, welche nie wird unparteiisch allen Befriedigung verschaffen können. Andere Elemente, die zugunsten der Absurdität angeführt werden, sind: die Unmöglichkeit einer Dokumentierung über so viel Materie und die Tatsache, dass die Masse (angeschuldigt, unwissend zu sein und eine Führung zu brauchen) nicht plötzlich fähig werden kann, sich die Führung zu wählen, die sie braucht. Das sind Widersprüche, die das Parlament absurd machen. Was die Ohnmacht betrifft, so greift Faure mit vollen Händen zur Kritik, die wir als subjektivistisch definiert haben: er erzählt uns von den Personen, die – in der Regel – die Parlamente zusammenstellen (Ärzte ohne Patienten, Anwälte ohne Fälle, usw.). Die Korruption ist nicht der Rede wert, da offensichtlich ist, dass das Parlament alle korrumpiert, die gewählt werden. Bleibt noch die Schädlichkeit. Das Parlament ist schädlich für die Arbeiterklasse und vorteilhaft für die kapitalistische Klasse. Ein Büigerlicher lebt im Parlament wie ein Fisch im Wasser, ein Arbeiter wird dort korrumpiert.

Die Analyse von Faure ist komplett, aber ermangelt einer klar definierten Konfliktvorstellung.

Schauen wir uns die These von Malatesta an. Die Anarchisten sind und bleiben Gegner des Parlamentarismus, da sie glauben, dass sich der Sozialismus durch freie Föderationen von Produktions- und Konsumverbänden realisieren muss, während jegliche Art von Regierung, auch die parlamentarische, keinerlei Absicht hat, etwas Konkretes bezüglich der sozialen Frage zu unternehmen.

Das Volk daran zu gewöhnen, die Eroberung und Verteidigung seiner Rechte an andere zu delegieren, ist eine sichere Methode, um es in der Gewalt der Regierung zu lassen.

Die Anarchisten streben nicht nach der Macht, und somit gibt es keinen Grund, weshalb sie denjenigen helfen sollten, die nach ihr streben. Ausserdem, wenn sie heute beginnen würden, die Notwendigkeit zu verfechten, für jemanden zu stimmen, so würden sie morgen raten, für sich selber zu stimmen, während sie gänzlich in die Logik der Macht eintauchen.

Auch die Protestkandidaturen[1] können nicht verteidigt werden, denn, wenn sie uns einen Gefährten zurückgeben, so nehmen sie uns jene Kampfeinheit, welche das Kennzeichen der Anarchisten gegenüber der Wahlfarce bildet.

Der Wahl- und Parlamentswettkampf erzieht zum Parlamentarismus und verwandelt letztlich diejenigen, die ihn praktizieren, in Parlamentaristen. Aufgabe der Anarchisten besteht darin, die Massen dazu zu erziehen, durch Zusammenschlüsse jeglicher Art zu kämpfen, um auf diese Weise die eigenen Angelegenheiten regeln zu können, und nicht darin, sie dazu anzutreiben, ihre Verantwortungen an andere zu delegieren.

Das Wesen des Parlamentarismus ist es, dass die Parlamente die Gesetze machen und auferlegen, die anarchistischen Kongresse hingegen beschränken sich darauf, Resolutionen zu diskutieren und vorzuschlagen, welche keine exekutive Geltung haben ausser nach der Zustimmung der Mandanten. Dies bedeutet nicht, dass eine Minderheit, eine Handvoll dissidenter Personen, oder ein einziger Mensch, jede anarchistische Initiative blockieren kann, denn manchmal ist es erforderlich, dass die Minderheit gegenüber der Mehrheit nachgibt, aber nicht als Ergebnis eines Gesetzes, das jederzeit unabhängig von den objektiven Bedingungen von Notwendigkeit angewandt wird, sondern als Entscheidung, die sich aus dem freien Willen ableitet.

Die These von Malatesta, die wir in kurzen Worten zusammengefasst haben, ist sehr deutlich und abschliessend. Ihr Bezugspunkt ist die Klassenaktion, der Kampf der Basis gegen die Ausbeuter und die Organisation dieses Kampfs auf eine Weise, dass ab heute schon das Lebensmodell der Zukunft vorbereitet wird. Eine autoritäre Organisation hingegen, welche die Leute zu den Urnen treibt, wird niemals jene Gesellschaft der Zukunft vorbereiten können, nach der jede revolutionäre Handlung strebt, sondern wird darin enden, diese letztere in das Vorzimmer einer neuen Reaktion zu verwandeln. In der Erziehung zum Abstentionismus sehen wir eine Bewusstwerdung des Einzelnen und der Massen, einen Fortschritt in Richtung jener Verantwortlichmachung der Basis, welche die einzige Bedingung für das Gelingen der Revolution von morgen ist.

Für einen subversiven Abstentionismus

Wahlmechanismus und Repression

Der Wahlmechanismus ist keine blosse Anpassung der Regierungsstrategie. Er ist, im Gegenteil, einer der bedeutendsten Momente der repressiven Strategie in ihrer Gesamtheit.

In der Praxis hat die immer grössere Intervention des Staates in die Angelegenheiten des Kapitals, mit dem Ziel, Ordnung in die Widersprüche von diesem letzteren zu bringen, als Effekt eine Rationalisierung der Herrschaft, aber, auf lange Sicht, auch die Konsequenz, eine andere Reihe von Widersprüchen sowohl im Staat selbst wie auch im Kapital zu eröffnen. Beispielsweise, etwas, das uns hier besonders interessiert, die Reduzierung der Mächte des Parlaments und das enorme Anwachsen der Mächte der Exekutive. Das ist mehr denn logisch, da der Staat, an erster Stelle, ein Exekutivinstrument ist, und dann, auf Massenebene, als Verschlussmoment der Macht, ist er auch ein Instrument zur Konsensbeschaffung. Der Staat kann sich nämlich nicht aufrecht halten ohne Konsens, aber auch nicht ohne Exekutive. Das verleitet ihn, oft, dazu, diesen zweiteren Aspekt zu privilegieren, und dies generiert einige Widersprüche, darunter jene, welche beanspruchen, die Regierung weiter am Funktionieren zu erhalten, wenn es zwischen den verschiedenen Delegationsprozessen (parteilichen, gewerkschaftlichen, wirtschaftlichen, ideologischen, etc.) kein Einverständnis mehr gibt.

Der Verlust des Kontakts zwischen Basis und Instrumenten, welche die Entscheidungen der Exekutive filtern (an erster Stelle das Parlament), ist scheinbar verfehlten politischen Übereinkünften, einem nicht ausreichenden Gleichgewicht der Parteikräfte zu verschulden, während er, in den Tatsachen, der Verschlechterung der Grundbedingungen zu verschulden ist (Preisniveau, Arbeitslosigkeit, Verringerung der Investitionen, Unmöglichkeit, die Nachfrage zu stützen, Unausgeglichenheit zwischen ungleichen Entwicklungszonen, unkontrollierbare soziale Spannungen, übermässige Repression, Wiederaufkommen von autoritären Methoden, Unzulänglichkeit der assemblearen Kontrollsysteme, usw.). Diese Bedingungen von Unbehagen übertragen sich auf die Exekutive mittels der Repräsentationsstrukturen, die somit den Charakter von Umlenkrollen der Ineffizienz oder von Kontrollinstrumenten der Unzulänglichkeit der Programme annehmen, eben in dem Moment, in dem sie, als Instrumente, ihre ursprüngliche Bedeutung von Verwaltung des Konsens verlieren. Es tritt auf diese Weise der paradoxe – und widersprüchliche – Fall ein, dass die Präsenz selbst des Filtermechanismus (Parteien und Gewerkschaften, an erster Stelle) eine Art Induktionseffekt verursacht, der letztlich die Anwandlungen von Flucht nach Vorne der Exekutive blockiert.

Im Grunde laufen die Dinge schlecht und dies trägt dazu bei, einen Kontrollmechanismus zu blockieren, der, wenn er seiner rationalen Logik überlassen würde, sie für wenige auf Kosten von vielen besser laufen lassen könnte, indem diese Vielen einer engmaschigen Kontrolle und einer weitreichenden Repression unterstellt werden. Dies ist nicht möglich, eben weil nicht ein Aspekt der Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten (der repressive Aspekt) optimiert werden kann, ohne auch den anderen Aspekt (die Grundbedingungen, die ein gewisses Wohlbefinden gewährleisten müssen, ohne welches der Konsens ausfallt) zu kurieren. Die elektorale Wahl wird somit zu einem Element der unmittelbaren Repression, da sie es erlaubt, einen Kurs der Exekutive zu perfektionieren, der ohne eine Überprüfung des Konsenses Gefahr läuft, nirgendwohin zu führen. Der Krieg der Dekrete hat eine gewisse Glaubwürdigkeit, solange die Umlenkrollen der Gewerkschaften und der Parteien funktionieren, und solange Abtragungsräume für den allesfressenden kapitalistischen Mechanismus zugrunde liegen. Wenn diese Räume schwinden, drehen die Umlenkrollen durch und die Exekutive schlittert auf die schlicht und einfache Repression zu, ein Schlittern, das tragisch enden kann, mit einem Ausbrechen von Kämpfen, die nicht mehr zu kontrollieren sind. Um dies zu verhindern, greift man zu den Wahlen. Die Repression perfektioniert sich, die realen Kampfantriebe werden auf künstliche Ziele umgeleitet, und der Auslass der Meinung setzt sich an Stelle des realen Bedürfnisses nach Verweigerung und Negierung. Dem Ausgebeuteten wird der Bürger aufgesetzt.

Aufbau der abstentionistischen Strukturen

Sich der Beteiligung an der repressiven Instandsetzung zu enthalten, ist sicherlich ein Moment der Bewusstwerdung, aber es ist bloss ein Ausgangsmoment. Die soziale Subversion involviert den Abstentionismus von seiner defensiven Phase bis zu seiner aktiven, konstruktiven Phase von Beschleunigung der Widersprüche des Kapitals und des Staates. Die Konsensverweigerung ist also nicht bloss eine Enthaltung von der Abstimmung, sondern ist eine aktive Überwindung des Einbeziehungsmechanismus auf diversen Ebenen. Eine Negierung des politischen Moments und eine Negierung der Ausbeutungsverhältnisse, die sich ausgehend vom politischen Moment entwickeln. Der Staat kann eine gewisse Ordnung in die Widersprüchlichkeit des Kapitals bringen, unter der Voraussetzung, ein allumfassend kontrolliertes Regime zu errichten, ein Regime, worin die unabhängigen Variablen der Produktionsgleichung (die nie vollständig eliminiert werden können) auf ein Minimum reduziert werden, und worin folglich auch der Konsens mit Rationalität programmiert und verfolgt wird. Jede Störung in der Realisierung von diesem letzteren Teil des repressiven Projektes überträgt sich, stark vergrössert, in das gesamtheitliche Projekt, und verschärft die Widersprüche der Herrschaft.

Aber die Konsensverweigerung kann nicht schlicht als der fehlende Teil des Gesamtkonsenses betrachtet werden. Wenn die Gesamtheit der Personen ihre Meinung bezüglich der Abstimmung ausdrückt, sich demokratisch in einem Bogen von Wahlen orientierend, die sich von links bis rechts erstrecken, so vereinheitlicht sich jener gewisse Prozentsatz, der diese Wahl nicht äussert, nicht bloss aufgrund von einer solchen ausgebliebenen Äusserung, sondern braucht es etwas mehr. Das heisst, wer abstimmt, verteilt sich gemäss einem ganz präzisen Raster und liefert folglich Konsens (es hat letztlich geringe Wichtigkeit, für welche Partei er stimmt), wer nicht abstimmt, von dem kann nicht gesagt werden, dass er sich, einzig aufgrund der Tatsache, nicht abzustimmen, einheitlich auf der Seite von jenen verortet, die nicht einverstanden sind, und zwar, weil es viele Arten und Weisen gibt, “nicht abzustimmen”, die sich oft in einer Gleichgültigkeit und sicherlich nicht in einer Bewusstwerdung zusammenfassen lassen. Dies alles erlaubt es, zum Schluss zu gelangen, dass die Tatsache, abzustimmen, ein Beitrag zur Instandsetzung und zur Perfektionierung der Repression ist, die Tatsache, nicht abzustimmen, ist nicht ein Angriff gegen die Repression, zumindest solange sie nicht organisatorisch um etwas zur Gerinnung kommt, was es gestattet, die Negierung des Konsenses, in den Tatsachen, vor Augen zu führen.

Wir sind hier nicht dabei, von der möglichen Konstituierung einer sogenannten “abstentionistischen Bewegung” zu sprechen, die sich durchaus auf beträchtlicher Ebene entwickeln könnte, aber die, früher oder später, als Instrument in den Händen von politischen Machenschaften enden würde, die eigens von den Zentrumsparteien gelenkt werden, welche Interesse daran haben, den sogenannten Linken Stimmen zu rauben. Wir beziehen uns hingegen auf die Möglichkeit, minimale und an die verschiedenen lokalen Realitäten angepasste, abstentionistische Organisationsstrukturen aufzubauen, fähig, die verschiedenartigen abstentionistischen Phänomene zu koordinieren, die sich gegenüber jeder Art von Versammlungsmoment der Verwaltung der Macht entwickeln. Vergessen wir nämlich nicht, dass die regulative Tendenz des Staates noch immer die sozialdemokratische ist, und dass diese Tendenz die intermediären autoritären Entscheide allmählich durch Versammlungsentscheide ersetzen will, vorausgesetzt, dass die Entscheidungsmacht der diversen Führungsspitzen unangetastet bleibt. Die abstentionistischen Strukturen, von denen wir am sprechen sind, könnten die Verweigerung des Wahlmechanismus, sowie die Verweigerung der Versammlungsmechanismen auf Ebene der Fabrik, der Schule, des Quartiers, der Gesundheitseinrichtung usw. koordinieren.

Eine abstentionistische Propaganda, die bestrebt ist, bloss den Moment der Verweigerung der Delegation zu betonen, um dann auf einen hypothetischen, aber praktisch nicht spezifizierbaren positiven Moment der Verweigerung selbst zu verweisen, scheint uns also nicht ausreichend. Es würde sich dabei um eine Neuverortung der Verweigerung in der beschränkten Optik des Defensivismus handeln, den es nunmehr Zeit ist, endgültig zu verlassen. Die Verweigerung ist nur eine solche, wenn sie zu einem ersten Moment einer Angriffsstrategie wird, und nicht, wenn sie als stellvertretende Äusserung von irrationalen Gefühlen entsteht und endet, die vom Subjekt selbst, das sie empfindet, schlecht wahrgenommen werden. Aus dieser Verwirrung gelangt man einzig zu einer Befriedigung des eigenen falschen Bewusstseins, zur Illusion, das man getan hat, was es möglich war, zu tun, und zum ewigen Aufschub dessen, was man vage die Notwendigkeit verspürt, zu tun.

Der Aufbau von einer zonalen abstentionistischen Struktur erscheint uns also möglich, während sich ab jetzt schon die potenzielle Kapazität, die eine solche Organisation besitzt, was die Verschärfung der Widersprüche des Feindes betrifft, deutlich zeigt, auch ausgehend von der Tatsache, dass die Formen der Enthaltung auf diese Weise einen unmittelbaren aggregativen Referenzpunkt für eine Reihe von Aktionen finden würden, die begrenzt und provisorisch sein mögen, aber fähig, die Zerstreuung in der Beliebigkeit und in der Inkonsistenz einer schlichten Weigerung davon, abstimmen zu gehen, zu vermeiden.

Die Möglichkeit einer abstentionistischen Organisationsstruktur

Die positive Funktion einer solchen Struktur besteht darin, als Referenzpunkt zu dienen für die “abstentionistischen Absichten”, als persönliche oder kollektive Entscheide, nicht abzustimmen, sich nicht an den nationalen, administrativen, regionalen, schulischen, Quartiers-, Fabrik-, und jeder anderen Art von Abstimmungen zu beteiligen.

Mittels dieser Struktur könnte man die Möglichkeit von einer Aktion nach aussen haben, die fähig ist, den schlichten Moment der abstentionistischen Absicht zu überwinden, ein Moment, der auch dann nicht als überwunden bezeichnet werden kann, wenn sich praktisch die Tatsache realisiert, nicht abzustimmen.

Diese Struktur präsentiert sich als eine Massenorganisation, die zum Ziel hat, die Leute in Hinblick darauf zusammenzubringen, einen Druck auf die Versammlungsaktivität der Organe des Staates auszuüben für eine Anwendung, die näher an dem ist, was die realen Bedürfnisse der Leute selbst sind. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das sofort geklärt werden muss, denn es droht, die Grenzen und die Möglichkeiten der Struktur, wovon wir sprechen, nicht verständlich zu machen.

In der Praxis besteht das Ziel des anarchistischen Revolutionärs darin, dazu anzutreiben, dass sich eine Umwandlung des Abstentionismus von einer schlichten Manifestiening des Dissens in eine konkrete Revolte realisiert. Dies hat keine Möglichkeit, realisiert zu werden, wenn nicht durch ein organisatorisches Instrument, das, seinerseits, sich nicht eine schlicht und einfache Organisation der Revolte vornehmen kann, was etwas ist, das einem unmittelbaren und greifbaren Verständnis vonseiten der Ausgebeuteten entgeht. Das Instrument, wovon wir sprechen, präsentiert sich unabänderlich als Mittel, um die Macht zu einer angemesseneren Anwendung der assemblearen öffentlichen Aktion zu zwingen, im Sinne von einer grösseren Annäherung von ihr an die realen Interessen der Ausgebeuteten selbst. Das Projekt der Revolte wird im Verlaufe des Kampfes zutage treten, in der Wahl der Mittel, die eingesetzt werden, und in den Arten und Weisen, wie man, über das anfängliche Ziel eines Druckes auf die Organismen der Macht hinaus, voranschreitet.

Der Referenzpunkt (die zonale Struktur) wirkt als Ansporn zur Aggregation. In seinem Innern können Analysen und Klärungen angeregt werden sowohl über die repressive Funktion des sogenannten demokratischen oder assemblearen Mechanismus, wie auch über die Perspektiven, welche die Macht hat, eine Ausbeutung auch auf pseudo-selbstverwalterischen Grundlagen zu realisieren.

Im Laufe der Arbeit reift die Struktur, sie gibt sich die ersten Kampftermine: Demonstrationen, Diskussionen, Vorträge, Kundgebungen, Flugblattverteilungen, Plakate, Wanderausstellungen, das alles mit dem Ziel, den abstentionistischen Standpunkt und die Art und Weise, wie sich dieser letztere – als Verweigerung – unterscheidet von den Versprechen der Parteien, der Gewerkschaften, der Fabrik-, Instituts-, Quartier-, Gesundheitseinrichtungsräte, usw.f bekannt zu machen. Diese Unterschiede einmal denunziert, kann man zu einer spezifischen Prüfung all dessen übergehen, was von den Übertragungsrollen des Konsenses versprochen und nicht gehalten wurde, und dies zu dem Zweck, jenes klientelare und Delegationsfundament anzutasten, worauf sich die Stärke der Parteien und der Gewerkschaften stützt. An diesem Punkt wird eine ganze Reihe von anderen Aktionen hypothetisierbar: von der Besetzung des Rathauses bis zu jener der Schule, von der Blockierung der Fabrik bis zu jener der Quartierräte, von der Besetzung des Sitzes einer Partei oder einer Gewerkschaft bis zur Demonstration gegen das Parlament oder gegen die Regionalversammlungen. Ein immenses Arbeitsfeld eröffnet sich vor dem subversiven Abstentionismus.

Eben in diese vielfältige Aktivität fügt sich die Arbeit des anarchistischen Revolutionärs ein, der bestrebt sein muss, die einzelnen Kampfmomente der zonalen abstentionistischen Struktur, von Mal zu Mal, in Richtung von Zielen von aufständischem Charakter zu verschieben: Besetzung des Rathauses und Vorschlag von Entscheidungen, die jene des Rates ersetzen, Besetzung der Schule und Vorschläge von anderen Lehrplänen, von anderen Lehrbüchern, usw., Besetzung der Fabrik und Vorschlag von anderen Lösungen als denjenigen, die von den Gewerkschaften vorgeschlagen und in der Versammlung durchgebracht werden. Dasselbe für die Besetzungen der Sitze der Parteien oder der Gewerkschaften. Auch die Demonstrationen gegen das Parlament oder die Regionalversammlungen können Träger von anderen Weisungen sein als jene, die von der nationalen oder regionalen Politik widergespiegelt werden.

Einzeln betrachtet haben diese Kämpfe alle eine symbolische Bedeutung (Ersetzung einer Prozedur, die als ineffizient oder von Klientelismus verseucht betrachtet wird) und eine Bedeutung als Kritik an einem unkorrekten Ansatz der Tätigkeit des Staates und seiner Organe. Aber wenn man genau darüber nachdenkt, so haben diese Kämpfe auch ein beträchtliches Potenzial, welches, von Mal zu Mal, in einem aufständischen Sinne ausgerichtet werden kann. Jede einzelne Besetzung, jede Demonstration, kann ständig weiter vorangetrieben werden, sowohl, weil es sich um Kämpfe handelt, die von einer Struktur (oder von einer Reihe von Strukturen) organisiert werden, worin die anarchistische Minderheit ab dem ersten Moment aktiv präsent ist (ansonsten stünden wir vor den frommen Absichten eines realitätsfremden Entrismus), wie auch, weil im Verlaufe selbst der Kämpfe ein immer deutlicheres soziales Bewusstsein über jene anfänglichen Formen von Dissens heranreift, welche die Leute zu einer unbestimmten Zustimmung zum Abstentionismus angetrieben haben mögen.

Ein Kapitel für sich würde die Betrachtung der politischen Widersprüche verdienen, die eine organisatorische und Kampfaktion wie die oben umrissene innerhalb der Strukturen des Staates auslösen kann, mit besonderer Bezugnahme auf die Parteien der sogenannten Linken. Das, was mit dem Einsatz der aufständischen Methode angegriffen wird, ist eben der Mechanismus zur Konsensbeschaffung, ein Mechanismus, der es erlaubt, die Herrschaft zu verschnüren und zu versiegeln. Ein verfehltes oder mangelhaftes Funktionieren von diesem Mechanismus, egal wie eingegrenzt und beschränkt, ist stets ein grosser Angriff auf den Staat und auf das Kapital und ein grosses Hindernis, das sich vor ihren repressiven Absichten erhebt.

Organisationsdokument der zonalen abstentionistischen Strukturen

In einer modernen Demokratie ist das partizipative Wahlsystem die Grundlage der Konsensbeschaffung.

Dieses System besteht nicht bloss aus den periodischen Aufrufen an die “Meinungen” der Leute, ersucht auf Basis der nebulösen politischen Programme der Parteien, Aufrufe, die die grosse Masse der Untertanen dazu verleiten, sich an den politischen und administrativen Wahlen zu beteiligen, sondern weitet sich engmaschig über das ganze Leben des demokratischen Staates aus.

In den Fabriken, in den Schulen, in den Quartieren, in den Gesundheitsstrukturen, usw., gibt es Versammlungsmechanismen, die durch Wahlmethoden Konsens beschaffen.

Dem Staat gelingt es auf diesem Weg, die Situation unter Kontrolle zu haben, während er zu kleinen periodischen Anpassungen, Kontrollen und Sanierungen greift, die jedoch nichts anderes tun, als die Ausbeutung und die Unterwerfungsbedingungen aller Ausgebeuteten fortdauem zu lassen.

Der Wahlvorschlag – auf egal welcher Ebene – ist eine Art Gesuch um Komplizenschaft, damit eine beschränkte Machtclique, die an politische Parteiinteressen gebunden ist, mit Billigung der Abstimmungen, weiterhin tun kann, was sie vorher tat, während sie lediglich bescheidene Änderungen vornimmt, welche Reformen genannt werden.

In den letzten Jahren ist immer konsistenter eine Schicht von Personen aufgetaucht, die sich weigern, sich an den Abstimmungen zu beteiligen. Von einem Minimum von achtzehn Prozent in den politischen und administrativen Wahlen [1983] gelangt man zu einem Maximum von ungefähr siebzig Prozent bei den peripheren Wahlen (schulische, insbesondere).

Dieser Abstentionismus weist auf eine immer tiefer verwurzelte Teilnahmslosigkeit gegenüber einer Praxis hin, die nunmehr deutlich vor Augen führt, was die Absichten von denjenigen sind, die sie in Gang setzen.

Aber als solche, das heisst als schlichte Verweigerung, abstimmen zu gehen, ist sie nicht ausreichend.

Es muss mehr getan werden.

Es müssen zonale abstentionistische Strukturen organisiert werden.

A) Charakteristiken.

  • Die zonale abstentionistische Struktur ist eine autonome Kampforganisation, die all diejenigen versammelt, die effektiv die Absicht haben, über eine schlichte Enthaltung von der Abstimmung auf allen Ebenen hinaus zu gehen.

  • Sie ist keine bürokratische Organisation. Sie hat keine Statuten, Vereinsregeln, Gründungsdokumente, etc. (Auch dieses Dokument muss als eine schlichte Grundsatzschilderung betrachtet werden). Sie kann auch keinen permanenten Sitz haben.

  • Die einzelnen, auf dem Gebiet verstreuten zonalen abstentionistischen Strukturen entstehen spontan, auf Basis einer Übereinkunft zwischen wenigen Personen, und haben als einzigen gemeinsamen Punkt die allgemeinen Prinzipien, die gleich anschliessend genauer ausgeführt werden.

  • Die zonale abstentionistische Struktur ist ein Kampforganismus, der die Delegation ablehnt, nicht nur nach aussen, indem eben all diejenigen versammelt werden, die sich nicht an den Abstimmungen auf jeglicher Ebene beteiligen, sondern auch nach innen. Sie lehnt es also ab, ihren Vertretern permanente Delegationen zu erteilen, und aberkennt damit dieser Vertretung jegliche Professionalität.

  • Die zonale abstentionistische Struktur setzt sich konstant im Kampf gegen die Wahlen ein, auf allen Ebenen.

  • Jedes Mitglied der Struktur betrachtet sich als im Kampf gegen die Wahlmethode auf allen Ebenen und gegen die politischen Kräfte, die beabsichtigen, sie durchzusetzen, um Konsens zu erlangen, es erkennt daher, dass diese Methode einzig die Interessen der Ausbeuter und ihrer Diener unterstützt.

  • Die zonale abstentionistische Struktur ist keine Verteidigungsorganisation der Interessen von dieser oder jener Arbeiterkategorie. Sie ist also keine gewerkschaftliche oder para-gewerkschaftliche Organisation.

  • Die Propaganda- und Kampfaktivität von jeder einzelnen zonalen abstentionistischen Struktur wird bevorzugt mit jener der anderen zonalen Strukturen koordiniert, während die Möglichkeit von auch unabhängigen Initiativen, welche lokale Charakteristiken haben, stets bestehen bleibt, aber immer mit dem Ziel, die Verweigern der Wahlen auszuweiten und den Staat und seine Organe, auf allen Ebenen, zu einer Respektierung der Interessen der Verwalteten zu zwingen. Dies geschieht selbstverständlich, als Tätigkeit der einzelnen Strukturen, in der Perspektive der gemeinsamen Prinzipien.

  • Die Beteiligung an der zonalen abstentionistischen Struktur ist der logische Schluss von denjenigen, welche die Methode der Komplizenschaft nicht akzeptieren, die der Staat, auf allen Ebenen, durch die Wahlen jeder Art realisieren will.

B) Allgemeine Prinzipien.

Permanente Konfliktualität:
  • Der abstentionistische Kampf kann nur unter der Bedingung positive Ergebnisse zeigen, dass er konstant und nicht bloss auf den Vorabend der Wahlen beschränkt ist. Denn der Einsatz der elektoralen Methode, vonseiten des Staates und seiner Organe, ist konstant, und somit muss auch der Kampf, der beabsichtigt, sich dieser Methode entgegenzustellen, konstant sein.

Selbstverwaltung:
  • Die zonalen abstentionistischen Strukturen sind selbstverwaltet, das heisst, sie sind unabhängig von jeglichen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften, Klientelen, usw. Sie erhalten keine Gelder ausser jene, die von den freiwilligen Beiträgen der Mitglieder selbst kommen. Auf dieser Autonomie beruht ihre Stärke.

Angriff:
  • Die zonalen abstentionistischen Strukturen verfechten die Notwendigkeit, die schlichte Nicht-Beteiligung an der Abstimmung mit einem Angriff gegen die Aspekte, worin diese Abstimmung sich realisiert, zu konkretisieren, mit dem Ziel, die abstentionistischen autonomen Entscheidungen an die Stelle der delegierten zu setzen, die auf dem Konsens beruhen, welcher durch den elektoralen und demokratischen Betrug beschafft wurde.

C) Methoden.

  • Die elektorale Aktivität ist konstant. Sie strebt danach, eine Verbindung zwischen Staat und Untertanen zu optimieren, um die Herrschaft so effizient wie möglich zu machen. Sie ist daher ein Element von unmittelbarer Repression. Sich der Abstimmung zu enthalten, ist sicherlich ein Anfang von Bewusstwerdung, und dieses Element ist die Grundlage, worauf man sich an der zonalen abstentionistischen Struktur beteiligt. Aber anschliessend muss weiter gegangen werden. Auf konstante elektorale Aktivität antworten die Strukturen mit konstantem Abstentionismus.

  • Alle Kategorien der Arbeit haben ein Interesse am abstentionistischen Kampf und an der Ersetzung der Entscheidungen von oben, gestützt auf die elektorale Delegation, durch die Entscheidung von unten, gestützt auf die direkte Aktion. Dies bringt eine notwendige Erweiterung der Kampffront mit sich.

  • Ein abstentionistischer Kampf muss aus dem schlichten Moment der Verweigerung, der nur defensive Charakteristiken hat, heraustreten, um zum Angriff überzugehen. Aber um dies zu tun, muss er die realen Bedingungen der Klassenkonfrontation kennen, die konkreten Aktivitäten, die von den verschiedenen staatlichen Organismen, die auf dem Wahlmechanismus basieren, entwickelt werden. Die Struktur wird also ein Aggregationselement. In ihrem Innern werden Analysen und Klärungen über die repressive Funktion der demokratischen und assemblearen Institutionen entwickelt, während die faustdicken Nebel, welche die Ideologie über die wirkliche Realität des demokratischen Staates herabsinken lässt, vertrieben werden. Dieser Teil des Kampfes erfordert einen sehr breitgefächerten gegeninformativen Aufwand.

  • Es müssen schliesslich jene Schichten erreicht werden, die über das Problem in Unkenntnis bleiben, obwohl es substanziell abstentionistische Schichten sind: die proletarischen Frauen, die Hausfrauen, die Kinder, die Alten. Sie alle haben das Recht, Bescheid darüber zu wissen, was der Staat mit ihrer unfreiwilligen Komplizenschaft und mit ihrem Schweigen realisiert.

  • Die Intümer des schlichten Abstentionismus, desjenigen, der von leeren Stimmzetteln spricht, zu akzeptieren, ist eine weitere Billigung des repressiven Verhaltens des Staates. Es sind nämlich nicht die nichtigen Stimmen, die die operative Fähigkeit des Staates stoppen, sondern die von unten organisierten Kämpfe, welche in jedem Moment des öffentlichen Lebens intervenieren, während sie versuchen, sich mit Basisvorschlägen an Stelle der Führungsentscheide zu setzen.

  • Eine jede Entscheidung, von jenen, die im Parlament getroffen werden, bis zu jenen der Gemeinderäte, von den Entscheidungen der Fabrikräte bis zu jenen der Instituts- und Universitätsräte, etc., wird getroffen, weil wir den Mund halten und nicht handeln, weil wir es zulassen, weil wir an andere delegieren, was wir selber kontrollieren, entscheiden und direkt tun müssten.

  • Die Methode, welche die zonalen abstentionistischen Strukturen verfechten, und welche sie für die einzige halten, die fähig ist, die schlichte Verweigerung in eine wirksame Kraft zu verwandeln, ist die ersetzende Methode. Wir müssen unsere überlegte Verweigerung an Stelle der Führungsentscheide setzen, die als Wahl- oder Versammlungsentscheide getarnt werden.

  • Jede einzelne abstentionistische Struktur kann sich mit all ihren Mitgliedern, in einer Massendemonstration, an jedem einzelnen Gemeinderat, an jeder Versammlung der Fabrikräte, der Instituts-, der Quartierräte, etc., beteiligen. Die meisten von diesen Versammlungstreffen erlauben eine Teilnahme von Elementen, die dem Organ selbst aussenstehend sind. Wenn die Teilnahmen nicht erlaubt werden, kann mit Demonstrationen, Umzügen, Kundgebungen, fliegenden Reden, Plakaten, Flugblättern und allen anderen erlaubten Mitteln ein externer Druck ausgeübt werden.

  • Die ersetzenden Vorschläge, welche die zonale abstentionistische Struktur vorbringen wird, müssen von einer perfekten Kenntnis der Tatsachen ausgehen, von einer Denunziation der klientelaren und Parteiinteressen, die sich oft an Stelle der Interessen der grossen Masse der Ausgebeuteten setzen, und müssen wirksam abgeschlossen werden, während Forderungen vorgebracht – wenn auch beschränkte – und Realisierungsfristen festgelegt werden, die nicht sehr lange und auch nicht unmittelbar sein können.

  • Im Falle von einer mehrmaligen Weigerung vonseiten des verantwortlichen Organs, die ersetzenden Vorschläge zu akzeptieren, kann man auch bis zur Besetzung von den Gebäuden gehen, worin die Funktion ausgeübt wird, solange, bis man erhält, was gefordert wird.

  • Mehrere zonale abstentionistische Strukturen können eine Demonstration initiieren, die, indem sie auf dieselbe oben beschriebene Vorgehensweise zurückgreift, auf regionaler und nationaler Ebene in die Versammlungen und ins Parlament intervenieren kann.

  • Jede einzelne Struktur versammelt sich wann und wie es ihr beliebt, mit der Regelmässigkeit, die sie für angemessen hält, und an dem Ort, der sich für die operativen Zwecke, die man erreichen will, am besten eignet. Die ergriffenen Initiativen werden – falls die Struktur es für zweckdienlich hält – den anderen zonalen abstentionistischen Strukturen bekannt gemacht.

  • Es können periodisch Treffen einberufen werden, um mit allen gemeinsam über die Kampfperspektiven und über die analytischen Vertiefungen zu diskutieren.

  • Die erste Aufgabe jeder zonalen abstentionistischen Struktur besteht in der Intervention nach aussen, um das grösstmögliche quantitative Wachstum zu realisieren.

  • Die zonale abstentionistische Struktur ist eine Massenorganisation, sie kann also, als solche, entweder die Form einer sektoriellen Struktur (Struktur von Arbeitern, Studenten, Lastwagenfahrem, Professoren, Krämer, usw.), oder die Form einer intersektoriellen Struktur annehmen (Struktur einer Stadt, eines Dorfes, eines Ortsteils, eines Quartiers, zonenübergreifende Struktur, usw.)

  • Die Wahl des Kampfes, den es zu führen gilt, wird von den einzelnen zonalen abstentionistischen Strukturen in den Versammlungstreffen entschieden. Jede Struktur kann Vertreter ernennen, die an den periodischen Treffen teilnehmen können, um die Massenorientierungen zu vertiefen.

D) - Perspektiven.

  • Die zonalen abstentionistischen Strukturen sind keine korporativen Organismen. Sie verteidigen nicht die Interessen von einer Kategorie, von einer Ortschaft oder von einer Personengruppe. Auch wenn es sektorielle oder intersektorielle Strukturen sind, beziehen sie sich auf eine gemeinsame Strategie und haben sie die Perspektive, Interessen zu schützen, die allen Ausgebeuteten gemeinsam sind.

  • Sie sind Massenstrukturen, die das Ziel haben, die Basisentscheide an Stelle der Führungsentscheide zu setzen, während sie den Betrug der Wahlen und der Versammlungen, in den Tatsachen, demaskieren.

  • Jeder externe oder interne Versuch, die zonalen abstentionistischen Strukturen in Richtung von Klientel-, Gewerkschafts-, Macht- oder schlicht passiven Widerstandszielen zu kanalisieren, muss verhindert werden.

  • Nur auf Massenebene können die zonalen abstentionistischen Strukturen ihr Gewicht spüren lassen, und auf diese Weise andere Entscheide als die Machtorganismen bewirken, Entscheide, die den Interessen der Ausgebeuteten näher sind.

  • Jedes andere Ziel bleibt ausserhalb der Reichweite der zonalen abstentionistischen Strukturen.

E) - die Koordination.

  • Im Verlaufe der ersten Treffen muss das Problem angegangen werden, eine nationale Koordination ins Leben zu rufen.

  • Die Koordination ist ein technisches Büro, das für alle zonalen abstentionistischen Strukturen, sowohl für jene, die bereits gegründet sind, wie auch für jene, die im Entstehen begriffen sind, als Referenzpunkt dient.

  • Die Koordination ist imstande, Angaben über die Gesamtsituation des Kampfes zu machen, über die Interessen, die sich um ihn herum entwickeln, über die Ziele der Bosse, über die erlangten Resultate.

  • Die Koordination muss imstande sein, auch minimale Propagandaindikationen und -instrumente zu liefern, aber sie darf, auf keinste Weise, in die Entscheidungen und in die Aktionen der einzelnen zonalen abstentionistischen Strukturen eingreifen.

  • Die Koordination sollte ein regelmässiges Bulletin verfassen, das die verschiedenen Kämpfe, die Analysen und die Vorschläge der einzelnen Strukturen, sowie auch Angaben über ihr Entstehe und ihre Entwicklung enthält.

  • Die Koordination muss sich darum kümmern, regelmässige Treffen zu organisieren.

  • Die Koordination wird abwechselnd von den Mitgliedern der verschiedenen zonalen abstentionistischen Strukturen realisiert und ist somit ein Organismus, der von den Strukturen selbst gebildet wird, welche sich um die Spesen zu kümmern haben, die an ihr Funktionieren gebunden sind.

Schlussfolgerung.

Die zonale abstentionistische Struktur ist ein Kampforganismus, der beabsichtigt, die Führungsentscheide durch die Basisentschiede zu ersetzen, indem die Massenkräfte organisiert werden, welche generisch gegen die Beteiligung an den Wahlen sind, auf jeglicher Ebene, parlamentarisch, administrativ und konsiliarisch (Fabrik, Schule, Quartier, etc.).

Sie beruht auf dem Prinzip der Autonomie des Kampfes und auf der permanenten Konfliktualität. Die Methode, die sie wählt, ist jene des Angriffs gegen die Versammlungsorgane, welche in der Praxis den demokratischen Betrug organisieren, um den Konsens zu gewinnen, während dieser letztere als Alibi benutzt wird für ihre Vormachtstellung zu Schaden der Ausgebeuteten.

[1] Solche wurden in Italien vorgeschlagen, um Gefährten in Haft, Hausarrest oder Verbannung, mittels ihrer Wahl zu Abgeordneten, durch deren politische Immunität, von den Sanktionen zu befreien. (Anm. d. Ü.)