#title Weiße Kragen und schwielige Hände #author Max Nomad #SORTauthors Nomad, Max; #SORTtopics Über Machajski, Jan Waclaw; Russische Revolution; Maximalismus; #date 1932 #source Aus: *Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit*; Bd. 18, S.161-172. Germinal Verlag 2008 #lang de #pubdate 2016-02-12T00:23:57 #notes Max Nomad, White Collars and Homy Hands, in: The Modem Quarterly, 3/Fall 1932 (Vol. VI), S. 68-76. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Pia Schmitt [1]Tagtäglich werden in den Köpfen von politisch Unzufriedenen und „Spinnern“ neue revolutionäre Theorien ausgebrütet. In Zeiten, die sich für ihre Verbreitung als günstig erweisen, finden diese neuen Evangelien, wenn sie von einer faszinierenden Persönlichkeit unterstützt werden, gelegentlich größere oder kleinere Gruppen von gläubigen Gewährsleuten. Dies ist besonders dann der Fall, wenn alte, ehrwürdige und angepaßte Parteien oder Protestbewegungen keine weiteren Anzeichen mehr zeigen, ihre Versprechen zu erfüllen. Aber noch öfter finden solche wenig bekannten Theorien ein ruhiges Grab in ungelesenen Büchern und Pamphleten. Als historische Kuriositäten werden ihre Ursachen in wissenschaftlichen Gesprächen erwähnt, aber nicht länger ernsthaft diskutiert. Aber auch das Ausbleiben der Anerkennung einer Idee während der Lebzeiten ihres Urhebers ist nicht immer ein Beweis dafür, daß sie keinen eigenständigen Wert hat. Denn sie kann das Schicksal mancher rein wissenschaftlichen Theorien teilen, die, nachdem sie hoffnungslos unter ungelesenen „Veröffentlichungen“ begraben lagen, manchmal nach mehreren Jahrzehnten entdeckt und begrüßt werden. Die russische revolutionäre Bewegung der letzten beiden Generationen hatte eben solche Nonkonformisten und Häretiker. Sie gingen ihren eigenen Weg jenseits der ausgetretenen Pfade der bekannten und „anerkannten“ Strömungen des einheimischen „Populismus“ (in seinen verschiedenen erfolgreichen Formen), der von den Bauern schwärmenden Intelligentsia und des westlichen Marxismus der gebildeten Unzufriedenen, die in den Industriearbeitern den Hebel zum Sturz des Zarismus und zur Europäisierung Rußlands sahen. Unter diesen „anerkannten“ Strömungen kann auch der orthodoxe, „offizielle“ kommunistische Anarchismus von Peter Kropotkin erwähnt werden, der die zukünftige russische Revolution als nichts anderes ansah als eine Wiederholung der großen Französischen Revolution. Die angesprochenen Häresien entsprangen verschiedenen Quellen. Einige waren Ausläufer des erloschenen Anarchismus von Bakunin; andere entwickelten sich aus dem Populismus der Sozialrevolutionäre und wurden als „Maximalismus“ bekannt; und wieder andere hatten ihre Wurzeln in den Theorien von Karl Marx. Allen diesen Häresien war, auch wenn sie theoretisch völlig unterschiedliche Wege gingen, eines gemeinsam: Sie lehnten die offizielle Annahme hinsichtlich des Charakters des zukünftigen russischen Aufstandes ab. In Bezug auf dieses bevorstehende Ereignis hatten sowohl die marxistischen Sozialdemokraten als auch die populistischen Sozialrevolutionäre ausschließlich die bürgerlich-demokratische Revolution im Sinn. Wenn die Sozialdemokraten manchmal von der „Revolution des Proletariats“ oder der „proletarischen Revolution“ sprachen, hieß das in einer gewissen Mischung aus Naivität und Ignoranz: die Kämpfer der Revolution sollten „Proletarier“ sein, aber das Ziel bestand darin, demokratisch zu werden, ein Begriff, der besser klang als „bürgerlich“. Die ursprünglichen „Populisten“ erkannten ebenfalls die Wichtigkeit der Handarbeiter im bevorstehenden Aufstand an, auch wenn sie sich hauptsächlich für die Bauern interessierten. In einer Diskussion zwischen Plechanow, dem Vater des russischen Marxismus, und Tikhomirov, damals noch der wichtigste Wortführer der terroristischen Gruppe „Volkswille“, fielen die bemerkenswerten Sätze, die, wie in einer Nußschale, den Standpunkt offenbaren, der von den naiven Populisten und ihren subtileren marxistischen Rivalen eingenommen wurde. Tikhomirov sagte: „Ich erkenne an, daß das Proletariat sehr wichtig für die Revolution ist.“ Plechanow antwortete darauf: „Nein, die Revolution ist sehr wichtig für das Proletariat.“ Dies war sehr scharfsinnig. Aber grundsätzlich stimmten die beiden Widersacher überein. Allerdings war der spätere Überläufer von den Populisten ins Lager des Zaren zynischer in seiner Bereitschaft, die Arbeiter offen als Werkzeug für seine, die bürgerliche Revolution zu benutzen; während der spätere marxistische Abtrünnige von den am Ende scheiternden Russen etwas vorsichtiger sagen wollte, daß die bürgerliche Revolution von überragender Bedeutung für die Arbeiter selbst sei. Die Arbeiter sollten ihre Wahl treffen… Die Dissidenten bewegten sich jenseits der Idee einer nur bürgerlichen Revolution. Die unorthodoxen Anarchisten bestanden auf einem gnadenlosen terroristischen Kampf sowohl gegen die Bourgeoisie als auch gegen die Regierung, wobei das erhabene Ideal der „Anarchie“ ihr unmittelbares Ziel war, so unglaublich dies auch klingen mag. Sie waren die Romantiker der Revolution. Die nicht weniger heroischen, aber vernünftigeren „Maximalisten“ - die illegitimen Abkömmlinge der großen Partei der Sozialrevolutionäre - forderten die Nationalisierung der Industrien unmittelbar nach Eroberung der Macht. Dies forderte auch Trotzki, der frühere menschewistische Marxist, der während der ersten Revolution von 1905 viel weiter ging als die Bolschewiki. Aber früher als all diese Häresien, die um die Zeit der ersten russischen Revolution (1905) entstanden, war in dem Milieu ein anderer Meister der Abweichung aufgetaucht, der - ursprünglich von Marx her kommend - schon bald einer ganz neuen revolutionären Theorie seinen Namen aufprägen sollte. Sein Name war Waclaw Machajski - heute eine fast legendäre Person. In den Zirkeln der russischen Intelligentsia war er hauptsächlich als der böse „Makhayev“ bekannt, der versucht hatte, die Handarbeiter gegen ihre gebildeten Befreier aufzustacheln und einzunehmen. Bis zum heutigen Tag, mehr als zwei Jahrzehnte nachdem die mit seinem Namen verbundene Bewegung als organisatorisches Unternehmen verschwunden ist, wird der Begriff „Makhayevstchina“ (die Ideologie Machajskis) in einem abwertenden Sinn gebraucht, um alle jene Tendenzen oder selbst Stimmungen innerhalb der sozialistischen Bewegung und der Arbeiterbewegung zu kennzeichnen, die auf die eine oder andere Weise auf einen gewissen Antagonismus zwischen Handarbeitern und Intellektuellen hinweisen. Waclaw Machajski, im russischen Teil Polens geboren, hatte seine revolutionäre Karriere als polnischer nationalistischer Student mit leicht sozialistischem Anstrich begonnen. Aber er sollte diese Ansichten im Laufe von fünf Jahren Haft in Warschau und Moskau sowie sechs Jahren Exil in einer der subarktischen Gegenden des nordöstlichsten Sibirien schon bald aufgeben. Einige Jahre vor seiner Haft hatte er die letzten Spuren seines jugendlichen Nationalismus abgeschüttelt und war revolutionärer Marxist geworden. 1892 veröffentlichte eine Gruppe von polnischen und russischen revolutionären Studenten in der Schweiz, beeindruckt von einem gewalttätigen Aufstand unter den Arbeitern von Lodz, dem polnischen Manchester, ein Manifest an die aufständischen Arbeiter. Machajski wollte die Schriften über die Grenze schmuggeln. Er wurde jedoch sogleich verhaftet und entwickelte während seiner Rückzugsjahre in der Subarktik, wohin von einem seiner Mitleidenden durch einen unglaublichen Glücksfall eine umfangreiche soziologische Bibliothek geschmuggelt worden war, seine eigenen Ansichten. Der Ausgangspunkt seiner persönlichen Entwicklung war eine befremdliche Beobachtung. Alle sozialistischen Parteien in der Welt hatten lange vor dem Auftauchen der „revisionistischen“ Abweichung von Bernstein angefangen, sich in respektable gesetzeshörige fortschrittliche Parteien zu verwandeln, die praktisch nichts anderes darstellten als der extreme linke Flügel der liberalen Bourgeoisie. Während sie mit revolutionären Tönen und proletarischen Parolen protzten und den Umsturz des kapitalistischen Systems versprachen, strebten sie tatsächlich kaum mehr an als die weitest mögliche Ausdehnung demokratischer Institutionen. Radikale oder revolutionäre Methoden erkannten sie immer dann an, wenn sie es für angebracht hielten, politische Rechte zu erringen. Aber diese Methoden wurden dann, wenn die Arbeiter auf ihren eigenen Lebensunterhalt zielende Forderungen aufstellten, als nicht geeignet angesehen. In den neunziger Jahren betrachteten die österreichischen Sozialisten den Generalstreik ernsthaft als Mittel zur Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts. Aber genauso ernsthaft lehnten sie die Idee ab, den gleichen Generalstreik zwecks Forderung des Achtstundentages einzusetzen. 1896, einige Jahre vor seinem Tod, sah der alte Wilhelm Liebknecht, Gründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Freund und orthodoxer Anhänger von Marx, kein Problem darin zu sagen, daß „der Staat, der tatsächlich das allgemeine Wahlrecht eingeführt hat, somit gegen die Revolution geschützt ist“ und daß „wir die einzige Partei der Ordnung in Deutschland“ sind.[2] Dies war ein Jahr nach dem Tod des großen Lehrers Engels, der 1895 selbst zustimmend von den „pralle(n) Muskeln und rote(n) Backen“ geschrieben hatte,[3] die die Sozialdemokratie aufgrund ihrer gesetzestreuen Taktik bekommen würde. Ähnliche Belege für linke bürgerlich-demokratische Tendenzen entdeckte Machajski auch in der Entwicklung des polnischen und russischen Sozialismus, dessen Repräsentanten jegliche Untergrundaktivitäten und alle revolutionären Energien der Arbeiter dazu benutzten, den Kampf ausschließlich auf das Erreichen des allgemeinen Ziels aller Schichten der fortschrittlichen Mittelklassen zu richten: den Sturz des Absolutismus und die Errichtung eines friedlichen kapitalistischen Systems nach westlichem Maßstab, unter dem die sozialistischen Parteien sich unweigerlich auf die gleiche Weise entwickeln würden wie ihre opportunistischen Ebenbilder im Rest Europas. All diese Beobachtungen faßte Machajski in dem Text „Die Entwicklung der Sozialdemokratie“ zusammen, der zum ersten Teil seines Buches „Der geistige Arbeiter“ wurde. In diesen Jahren wurde mit Hilfe eines einfachen Hektographen eine kleine Anzahl von Kopien der „Entwicklung“, die 1898/99 abgeschlossen wurde, hergestellt - wobei der Autor selbst zum ersten Opfer ihrer Verteilung wurde. 1900, als die Zeit seiner Verbannung abgelaufen war, machte er sich auf den Weg in das europäische Rußland, wurde aber unterwegs verhaftet. Da seine eigene illegale Schrift in seinem Besitz gefunden wurde, wurde er zu einer Verlängerung seines sibirischen Exils für weitere fünf Jahre verurteilt. 1903 gelang es seinen Freunden und Anhängern, seine Flucht nach Westeuropa zu organisieren. Während der Zeit, in der Machajski seinen Standpunkt ausarbeitete, verwies seine Antwort auf den Opportunismus der sozialistischen Parteien, sowohl in ihrer offen zynischen „revisionistischen“ als auch ihrer pseudorevolutionären „orthodoxen“ Form, auf „eine Weltorganisation der Arbeiterklasse, ihre internationale Verschwörung und ihr gemeinsames Vorgehen“ als den „einzigen Weg zu ihrer Herrschaft, ihrer revolutionären Diktatur und der Organisation der Eroberung der politischen Macht“ (Die Entwicklung der Sozialdemokratie, S. 30). Indem er diesen Standpunkt einnahm, machte er einen kühnen Versuch, nicht nur den Opportunismus der sozialistischen Parteien der verschiedenen Länder zu überwinden, sondern auch die „Elemente von Opportunismus“, die er bei den Lehrern selbst aufspürte. Seiner Meinung nach zeigten Marx und Engels „ein mangelhaftes Verständnis des Klassenwiderspruchs in der modernen Gesellschaft“. Ein Widerspruch, dessen Dimension während des Pariser Aufstandes vom Juni 1848 vollständig offenbar geworden war, als die Arbeiter sich nicht nur „der monarchistischen Plutokratie, der oppositionellen ,fortschrittlichen' Industriebourgeoisie, den ,revolutionären' unteren Mittelschichten“ gegenübersahen, „sondern auch der ganzen Masse der privilegierten Angestellten des kapitalistischen Staates, den Anwälten, Journalisten, Gelehrten - sogar denen, die ihnen nicht lange zuvor von der ,Organisation der Arbeit' und von ,Arbeiterassoziationen' vorgeschwärmt hatten“. Die Dimension dieses Widerspruchs wurde von Marx und Engels ignoriert, die es in ihrem „Kommunistischen Manifest“ für möglich hielten, daß Kommunisten „überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder (arbeiten)“ und „Demokratie“ mit „Herrschaft des Proletariats“ verwechselten, indem sie behaupteten, „daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist“, und die während der deutschen Revolution von 1848 (nach der Veröffentlichung des „Manifests“) sich selbst tatsächlich in einem Ausmaß mit der Sache der liberalen Bourgeoisie identifizierten, das von ihren späteren Anhängern und Epigonen kaum übertroffen wurde.[4] Dieser Standpunkt Machajskis, der eine Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Schichten der Mittelklassen ablehnte und eine internationale geheime Organisation und ein gemeinsames Vorgehen zur „Eroberung der politischen Macht“ forderte, war nur eine Übergangsphase in seiner Entwicklung. Im weiteren Verlauf seiner Analyse stellte er fest, daß das, was er nur für einen „Fehler“ von Marx, nur für eine Unterschätzung der Dimension der Klassenwidersprüche durch den Lehrer und seine Anhänger gehalten hatte, etwas ganz anderes war. Tatsächlich handelte es sich um den bewußten oder unbewußten Ausdruck „einer sozialen Kraft, die sich sorgfältig im Kontext der sozialistischen Bewegung versteckt, für welche die Aussöhnung des Sozialismus mit der bestehenden Ordnung kein Fehler, sondern ein natürliches Interesse, ein unvermeidlicher Zwang ist“. Diese soziale Kraft war „das wachsende Heer der geistigen Arbeiter, die neue Mittelklasse, die mit dem Fortschritt der Zivilisation die mittleren Schichten der Gesellschaft in sich vereinigt“, und „das Konzept des Sozialismus des letzten Jahrhunderts wurde in Übereinstimmung mit den Klasseninteressen und den Plänen dieser Klasse ausgearbeitet“. Mit anderen Worten heißt dies, daß die geistigen Arbeiter, eine zunehmende und privilegierte bürgerliche Schicht, deren Einkommen sich der den Handarbeitern abgezogenen „nationalen Überschußproduktion“ verdankt, die Kämpfe der letzteren dazu benutzen um ihre eigenen bürgerlichen Klasseninteressen auszubauen. Ihre Aufnahme in das „Proletariat“, gemeinsam mit den Handarbeitern, war ein irreführendes Konzept, so wie der Begriff „Volk“ oder „Dritter Stand“ von der aufstrebenden kapitalistischen Klasse benutzt wurde, um den Widerspruch zwischen ihr und den ausgebeuteten Schichten der Bevölkerung zu überdecken. Die Unterstützung, die den Arbeitern von dem unzufriedenen Teil der Intelligentsia in den frühen Kämpfen gegen die Kapitalisten gegeben wurde, erscheint somit nicht als ein Akt der Klassensolidarität und der selbstlosen Aufopferung, sondern als Mittel, um das Vertrauen und die Dankbarkeit der körperlich arbeitenden Verlierer sowie ihre Unterstützung für das Streben der Intellektuellen nach Herrschaft zu gewinnen. Der Kampf für mehr Demokratie im Rahmen des privatkapitalistischen Systems, ergänzt durch die Zunahme der Arbeitsplätze und anderer Möglichkeiten für die mittellosen Intellektuellen der unteren Mittelschicht, ist der erste Schritt in diesem Kampf. Als nächstes folgen die Bemühungen um einen schrittweisen[5] Übergang zum Staatskapitalismus (oder Staatssozialismus, was das selbe ist) - die zukünftige Form der Ausbeutung, in deren Rahmen die Privatkapitalisten den Weg für eine Bürokratie frei gemacht haben, in der sich die früheren Kapitalisten, die Intellektuellen und die autodidaktisch gebildeten und aufgestiegenen früheren Arbeiter zusammenfinden. Ein „Sozialismus“, in dem, kurz zusammengefaßt, Klassen nicht verschwunden sind und in dem Techniker, Sachbearbeiter, Verwaltungsbeamte, Erzieher, Journalisten usw., d.h. die Intellektuellen, die große Aktiengesellschaft bilden, die kollektiv - vermittelt durch den Staat - alle Reichtümer des Landes besitzt, und in der die „Besitzenden“ sich so weit entfaltet haben, daß sie alle „Wissenden“ in sich aufgenommen haben, während die „Unwissenden“ die sich selbst reproduzierenden und niedrig bezahlten Roboter ihrer gebildeten Herren sind. Nachdem Machajski einmal zu diesem Punkt vorgedrungen war, verlor die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse jegliche Bedeutung. Denn eine solche Sache wie eine „Arbeiterregierung“ konnte es einfach nicht geben. Die neuen politischen Machthaber würden, auch wenn man unterstellt, daß sie ursprünglich die uneigennützigsten Gefühle im Hinblick auf die körperlich arbeitenden Verlierer hegten, wenn sie einmal im Besitz der Macht sind, unweigerlich und unerbittlich ihre eigenen Klasseninteressen der gebildeten Verwalter des sozialistischen Staates durchsetzen, oder, in anderen Worten: Sie würden ihrem natürlichen Trieb folgen, sich als herrschende Klasse zu etablieren und sich an den dazu gehörenden Vorteilen erfreuen, die sich in einem höheren Einkommen und der Möglichkeit, diese Vorteile und die Möglichkeiten einer höheren Erziehung nur an ihre eigene Nachkommenschaft weiterzugeben, ausdrücken. Und unter dem neuen System würden die Handarbeiter, wie unter dem alten, ihren Kampf für höhere Löhne fortsetzen müssen, bis eine ökonomische Gleichheit erreicht wird. Indem er auf den Kampf um die Macht verzichtete, begab sich Machajski automatisch in eine sehr schlechte Gesellschaft. Er wurde nun als „Anarchist“ oder „Anarchosyndikalist“ angesehen und zog mit diesem Etikett all jene Zuschreibungen von Utopismus, unpraktischem Idealismus und Sonstigem, was mit diesem Begriff verbunden wird, auf sich. Tatsächlich jedoch war seine Konzeption mit keinem dieser Attribute eines „anarchistischen Protestantismus“ behaftet, wie er den instinktiven Protest der unduldsameren Elemente der Arbeiterklasse nannte, der seinen Ausdruck unglücklicherweise nur in extrem naiven Formulierungen fand. Machajski predigte kein hochtrabendes Ideal, wie es die Anarchisten und ihre syndikalistischen Verwandten tun, die von einer langen - oder, wahrscheinlicher, nie endenden - Phase einer vorbereitenden „Erziehung“ ausgehen, ehe das Ideal erreicht werden kann. Er forderte nicht die „Abschaffung des Staates am Tag nach der Revolution“, wie es in den alten utopischen Phrasen der Anarchisten impliziert ist. Noch frönte er ihrem unschuldigen Zeitvertreib einer „Leugnung“ oder „Verweigerung der Anerkennung“ des Staates, der ihnen zufolge „ignoriert“ werden sollte. Seine Sprache war grundverschieden von solchen, an Ghandi erinnernden Redeweisen. Indem er die Position des Handarbeiters einnahm, der an einem höheren Gewinnanteil in der Gegenwart und nicht an leeren Versprechungen für eine entfernte Zukunft interessiert ist, sprach er ausschließlich in Begriffen von Lohn oder unverzüglicher Barzahlung. Indem er sich in seiner Argumentation auf das Beispiel zahlloser spontaner Aufstände der hungernden Massen bezog, zeigte er auf, daß die Arbeiter bereit waren, jegliches Risiko für eine sofortige Verbesserung ihres Schicksals auf sich zu nehmen, wenn es sich um konkrete Dinge handelte - Löhne, Lebensmittel, Arbeit. Und er bestand darauf, daß das, was die Sozialisten der verschiedenen Richtungen taten, entweder darauf hinauslief, solche Aufstände im Sande verlaufen zu lassen oder sie in einen politischen Kampf für mehr bürgerliche Demokratie umzubiegen, einen politischen Kampf, der in einer von der Wirtschaft beherrschten Welt nichts anderes als ein ökonomischer Kampf für alle Arten von einträglicher Arbeit für ihre gebildeten Führer mit ihren „sauberen Händen“ war… Von einigen als „Anarchist“ angesehen, weil er den politischen Kampf um die Macht ablehnte, wurde Machajski von den Anarchisten manchmal als ein bloß revolutionärer Gewerkschafter angesehen, weil er alles Reden von einem „Ideal“ ablehnte. Dem gleichen Argument folgte der Autor des Eintrages über Machajski (oder besser A. Volski, sein Pseudonym als Autor) in der Großen Sowjet-Enzyklopädie. Dort heißt es, daß Machajskis Aktivitäten „im wesentlichen gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung, gegen ihren Kampf für den Sturz des Kapitalismus und die Diktatur des Proletariats gerichtet war. Statt für die Revolution sprach er sich für den Kampf um untergeordnete Teilforderungen aus.“ Bei allem fälligen Respekt für die Sowjet-Enzyklopädie scheint es fast, als ob der strenge Autor dieses Artikels zu starke Einwände erhebt. In jenen frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gab es keinen „Kampf für den Sturz des Kapitalismus und die Diktatur des Proletariats“ in Rußland. Worauf die radikale Intelligentsia abzielte, war hauptsächlich ein Kampf für westliche Demokratie, für jene liberalen Freiheiten, die in der heutigen kommunistischen Konzeption nicht der Gipfel der proletarischen Bestrebungen zu sein scheinen. Auf der anderen Seite hatte die „revolutionäre Arbeiterbewegung“ ihren eigenen Ausdruck in einem hohen Maße in dem spontanen wirtschaftlichen Generalstreik in Südrußland (1903) gefunden - eine Massenbewegung für „untergeordnete Teilforderungen“ -, der von der radikalen Intelligentsia vollständig ignoriert worden war und der - wenn er Unterstützung von einer revolutionären Organisation erhalten hätte - sich zu einer unwiderstehlichen Revolte gegen das ganze bürgerliche System und nicht nur gegen das Zarenregime entwickelt hätte. Tatsächlich waren diese verachteten „untergeordneten Teilforderungen“ für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten in Machajskis Konzeption der archimedische Punkt der Unterstützung, von dem aus er den Umsturz des bürgerlichen Systems ins Auge faßte. Im Grunde genommen, so seine Theorie, ist jeder wirtschaftliche Streik für höhere Löhne eine rudimentäre Revolte gegen den Parasitismus der privilegierten Klassen, der aber wegen dieses rudimentären Charakters meistens wirkungslos bleibt. Wenn sich der wirtschaftliche Streik für bessere Löhne, zusammen mit dem Kampf der Arbeitslosen für Arbeit, zu einem ausgedehnten und weit verbreiteten Generalstreik weiter entwickelt, stellt dies eine Herausforderung für die eigentlichen Grundlagen des bürgerlichen Systems dar, das auf der ökonomischen Ungleichheit und nicht nur auf dem Privatbesitz an den Produktionsmitteln basiert. Unfähig, den weit reichenden Lohnforderungen entgegenzutreten, die ihnen im Verlauf eines allgemeinen wirtschaftlichen Kampfes präsentiert werden, der zwangsläufig die Gestalt eines Massenaufstandes aller Enterbten annehmen kann, werden die Privatkapitalisten insgesamt gezwungen ihre Betriebe zu schließen. In der Folge wird der Staat dazu genötigt, deren Leitung zu übernehmen und somit zum einzigen Arbeitgeber - dem großen Supertrust, der ein System verkörpert, das entweder „Staatskapitalismus“ oder „Staatssozialismus“ genannt wird.[6] Unter einem System des Staatsbesitzes würden die Arbeiter Machajskis Meinung zufolge ihren revolutionären Kampf immer noch fortsetzen. Nicht um den „Staat abzuschaffen“, was kindisch wäre, denn der Staat als Instrument der Klassenherrschaft wird solange existieren, wie es eine eigenständige Klasse von gebildeten Verwaltern und Organisatoren aller Bereiche des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens gibt, die der Masse der ungebildeten Handarbeiter gegenüberstehen. Auch würde der Kampf nicht zum Ziel haben, die Regierung auszuwechseln, was ein nutzloser Zeitvertreib wäre, und nur zur Einsetzung einer neuen Gruppe von Intellektuellen oder autodidaktisch gebildeten früheren Arbeitern an Stelle der alten führen würde. Das einzige Ziel der Arbeiterkämpfe würde darin bestehen, den Staat dazu zu zwingen, die Löhne so lange zu erhöhen, bis die Handarbeiter ihren Lebensstandard dem ihrer gebildeten Herren angeglichen haben. Ein gleiches Einkommen würde sowohl für die Nachkommen der Techniker als auch derjenigen, die niedrige Arbeit leisten, eine Gleichheit in den Bildungsmöglichkeiten nach sich ziehen, und auf diese Weise eine klassenlose und konsequenterweise staatenlose Gesellschaft einleiten. So viel zu Machajskis „Anarchismus“. Er selbst nannte seine Theorie weder Anarchismus noch Sozialismus. Einer seiner Anhänger schlug den Begriff „Egalitarismus“ vor. Seine Bewegung und seine Theorie blieben jedoch unter dem von seinem Namen hergeleiteten Begriff „Makhayevstchina“ bekannt, obwohl der offizielle Name seiner Organisation „Arbeiterverschwörung“ („Rabochi Zagovor“) lautete. Dies war vielleicht ein spätes Echo auf Babeufs „Verschwörung der Gleichen“; aber abgesehen von der Betonung der Einkommensgleichheit, die von den späteren sozialistischen Schulen abgelehnt wurde, gibt es wenig Ähnlichkeiten zwischen „Babouvismus“ und „Makhayevstchina“. Nach seiner Flucht nach Westeuropa im Jahre 1903 hielt sich Machajski vorwiegend in der Schweiz auf, wo er die Druckversion der drei Teile seines Buches „Der geistige Arbeiter“, die Broschüre „Der Bankrott des Sozialismus des 19. Jahrhunderts“ und das eher populäre Propagandapamphlet „Die bürgerliche Revolution und die Sache der Arbeiter” vorbereitete. Alle diese Schriften erschienen in russischer Sprache und die meisten von ihnen fertigte er selbst. Kaum hatte das letzte Blatt die Druckerpresse verlassen, als er Genf verließ und nach Rußland zurückkehrte, wo sich die Revolution von 1905 bereits im Stadium des Niedergangs befand. Mit einigen seiner Freunde aus dem sibirischen Exil begann er seine Untergrundaktivitäten unter den Arbeitern und Arbeitslosen in St. Petersburg. Seine Anhänger („Makhayevtzi” genannt) bekämpften die Absicht der revolutionären Intelligentsia, die Unzufriedenheit der Arbeiter in Richtung eines Kampfes für die bürgerliche Demokratie zu lenken. Trotz eines außerordentlich gewalttätigen Widerstandes seitens der sozialistischen Agitatoren aller Richtungen gelang es den „Makhayevtzi“ auf den Versammlungen der Arbeitslosen ihre Resolutionen durchzubringen, in denen sie eine sofortige Unterstützung für die Arbeitslosen und eine umfassende Organisation öffentlicher Arbeiten forderten. Sie glaubten, daß eine Verbindung dieser Kampagne mit einem allgemeinen wirtschaftlichen Streik für höhere Löhne eine unwiderstehliche revolutionäre Front gegen die Bourgeoisie begründen und den Beginn einer weltweiten Arbeiterrevolution bilden würde. Die Gruppe der Kämpfer wurde jedoch schon bald durch Verhaftungen zerschlagen und Ende 1907 mußte Machajski wieder flüchten. Er blieb bis zur Revolution von 1917 im Ausland, ehe er nach Rußland zurückkehrte. Der Name seiner Gruppe „Arbeiterverschwörung“ und der identische Titel der Schrift, die er 1908 veröffentlichte, brachten die Methode der von ihm befürworteten Organisation bestens zum Ausdruck. Noch bevor Lenin seine bekannte Entscheidung zugunsten einer strikt konspirativen Organisation aktiver Kämpfer und „Berufsrevolutionäre“[7] getroffen hatte - die einzig sichere Methode im zaristischen Rußland -, war Machaj ski mit der Idee einer weltweiten konspirativen Organisation hervorgetreten, unabhängig davon, ob die Länder sich einer politischen Demokratie erfreuten oder nicht. Er glaubte, daß die legale Form der Organisation der verschiedenen radikalen Parteien und Bewegungen ein Beweis für ihre gesetzestreuen und friedlichen Absichten hinsichtlich des existierenden status quo war oder zumindest der erste Schritt, eine solche Haltung anzunehmen. Ihr Sozialismus, so erklärte er, war nichts anderes als eine „Religion für die Sklaven der Handarbeit“, ein müßiges Versprechen eines irdischen Himmels in einer entfernten Zukunft, weit jenseits der lebenden Generation, während die Prediger dieser Religion versuchten, möglichst komfortable Plätze in der gegenwärtigen kapitalistischen Hölle zu finden. Für Machajski war die Revolution der Arbeiterklasse eine allgegenwärtige Möglichkeit, die zu ihrer Verwirklichung einer gut durchdachten weltweiten geheimen Organisation bedurfte, die auschließlich damit befaßt ist, den Umfang der verstreuten spontanen Aufstände auszudehnen. Diese sollten zugunsten der Masse der Handarbeiter, insbesondere der angelernten und ungelernten, gegen die Bourgeoisie und ihren Staat gerichtet sein, wobei höhere Löhne und Arbeit für die Arbeitslosen entsprechend den von den streikenden Arbeitern aufgestellten Forderungen verlangt werden sollten. Dieser in Form von Generalstreiks und Aufständen einschließlich Fabrikbesetzungen und Beschlagnahme von Waren durch die Arbeiter vorangetriebene Kampf sollte so lange fortgesetzt werden, bis die höheren Einkommen aller privilegierten Klassen verschwunden und ökonomische Gleichheit durchgesetzt sein würde. Machajski und seine Anhänger hatten bei ihren Versuchen, in St. Petersburg, Odessa, Warschau und anderen Orten eine von diesen Ideen inspirierte Bewegung zu schaffen, keinen Erfolg damit, eine größere Anzahl von führenden Kämpfern anzuziehen. Dies war im zaristischen Rußland in der Tat eine schwierige Aufgabe, wo all die Anhänger der verschiedenen Strömungen revolutionärer Ideen hauptsächlich daran interessiert waren, den Absolutismus zu stürzen und die Freuden der politischen Freiheit zu spüren, an denen man in Westeuropa Gefallen fand. In einer solchen Atmosphäre wurde das Argument, daß zivile Freiheiten und politische Demokratie für die große Masse und insbesondere für die ungelernten und arbeitslosen Arbeiter, die unabhängig von der Form der Regierung hungerten, nichts bedeuten, daß die Arbeiter ausschließlich an Massenkämpfen für höhere Löhne und Arbeit für die Arbeitslosen interessiert und daß die einzigen Nutznießer des Kampfes für Demokratie die arbeitshungrigen Intellektuellen sind, von dem oppositionellen Lager als Apologie des herrschenden absolutistischen Systems interpretiert. Da sie auf den zaristischen Unterdrücker und den kapitalistischen Parasiten fixiert waren, konnten nur wenige der revolutionären Kämpfer einen solchen Abstand davon gewinnen, daß sie den versteckten bürgerlichen und gegen die Arbeiterklasse gerichteten Charakter der kämpfenden sozialistischen Intelligentsia erkannten. In der gleichen Weise wäre es unter dem ancien régime in Frankreich ähnlich schwierig gewesen, eine große Anzahl von Kämpfern gegen die bürgerlichen kapitalistischen Privilegien zu einer Zeit anzuheuern, als die stärker werdende Bourgeoisie, der potentielle Herr der folgenden Zeitperiode, noch gegen den Adel und den Klerus kämpfte. Dies erklärt in gewisser Weise die Sinnlosigkeit der revolutionären Bemühungen der ersten Anhänger Machajskis. Entmutigt gelangten einige seiner Anhänger zu dem Glauben, daß der moderne Sozialismus in seinen verschiedenen Formen vielleicht erst nach einer langen Folge von Verrätereien, Betrügereien und Enttäuschungen allgemein als Ideologie der unzufriedenen geistigen Arbeiter und ihres Kampfes zwecks Übernahme des Erbes der parasitären Privatkapitalisten verstanden werden würde. Erst dann werden ihrer Meinung nach die Massen, indem sie sich weigern, den alten Parolen zu folgen und stattdessen für ihre eigenen Forderungen nach einem Lebensunterhalt revoltieren, Teile der alten Führer dazu zwingen, einen neuen Kurs einzuschlagen und einige der kühneren und romantischeren Intellektuellen und autodidaktisch gebildeten Arbeiter für sich gewinnen, die sie dann vorwärts zu einem siegreichen Kampf für ökonomische Gleichheit führen. Machajski wurde oft mit dem offensichtlichen Widerspruch konfrontiert, daß der Klassenkampf der Handarbeiter von Männern ausgefochten wurde, die nicht ihrer eigenen Klasse angehörten oder solchen, die ihr zwar angehörten, allerdings die Möglichkeit zu einem Aufstieg hatten. Er beantwortete dies mit dem Hinweis, daß es einen manifesten und fundamentalen Unterschied zwischen den rein materiellen Angelegenheiten des Klassenkampfes einer aufstrebenden sozialen Gruppe - seien es die Handarbeiter in ihrem Kampf für ökonomische Gleichheit oder die Intelligentsia in ihrem Kampf für Macht und Privilegien - und den rein persönlichen Motiven gibt, die das gänzlich selbstlose Eintreten derjenigen antreiben, die dabei eine heroischen Rolle spielen. Diese Persönlichkeiten werden, auch wenn sie in der Regel von den Ungerechtigkeiten oder Bestrebungen ihrer eigenen Gruppe motiviert sind, nicht von dem prosaischen Wunsch nach Annehmlichkeiten oder den eher gewöhnlichen Aussichten auf Macht angetrieben. Ihr Wille zur Macht nimmt oft Züge von persönlicher Selbstverleugnung und Aufopferung zum Zwecke des Ruhms oder der Unsterblichkeit an. Und einige von ihnen mögen gelegentlich aus einer Vielfalt von Motiven - wenn einmal die eher primitive Form von Egoismus überwunden ist - die Führung von sozialen Gruppen übernehmen, die in sozialer Hinsicht unter ihnen stehen. In der Novemberrevolution von 1917 sah Machajski die „große Revolte gegen die alte Welt der Ausbeutung und der grausamen Kriege“. Er zögerte jedoch nicht, auch während der ersten Monate des Jahres 1918 die Schwäche zu attackieren, die seiner Meinung nach die Bolschewiki in der Führung des großen Aufstandes zu zeigen begannen. Er sah sie zu sehr schwanken und zögern, um die letzten und entscheidendsten Schritte gegen die konterrevolutionäre Bourgeoisie zu unternehmen, die nicht sofort enteignet und im Besitz ihrer Fabriken und privilegierten Einkommen gelassen worden war. In einer Monatsschrift mit dem Titel „Die Arbeiterrevolution“ („Rabochaya Revolutsia“), die er im Juli 1918 veröffentlichte, legte er seinen Standpunkt dar. „Die Arbeiter“, so schrieb er, „werden ihre .Arbeiterregierung' auch dann nicht haben, nachdem die Kapitalisten verschwunden sind. So lange die Arbeiterklasse zur Unwissenheit verdammt ist, wird die Intelligentsia mit Hilfe der Arbeitervertreter regieren. Die Intelligentsia verteidigt ihre eigenen Interessen, nicht die der Arbeiter.Nach der Enteignung der Kapitalisten werden die Arbeiter ihre Einkommen dem der Intellektuellen anzugleichen haben, ansonsten sind sie zu Handarbeit, Unwissenheit und der Unfähigkeit, das Leben das Landes zu verwalten, verurteilt. Folglich werden die Arbeiter auch nach dem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems nicht im Besitz der Macht sein und sie werden keinen ihnen dienlichen Regierungsapparat in ihren Händen haben. Wenn die Arbeiterklasse nach ihrer eigenen Herrschaft strebt, heißt dies, daß sie nach der revolutionären Herrschaft über die Regierung strebt. Durch ihren revolutionären Druck, durch den Ausdruck des Willens von sich plagenden Millionen sollte die Arbeiterklasse das Gesetz der Regierung diktieren. Die Arbeiter sind so verwirrt und später so enttäuscht worden, daß jeder Konterrevolutionär, jeder Menschewik sie leicht zurückstoßen und sich trauen kann, ihnen vorzuschreiben, den Ausbeutern ihre früheren Rechte wiederzugeben. Die Aufgabe der arbeitenden Massen besteht nicht darin, die Sowjetregierung zur Freude aller Versöhnler und Konterrevolutionäre zu stürzen, sondern sie ausgehend von ihren ökonomischen, die Arbeiterklasse betreffenden Forderungen voranzutreiben, die nach der Machtergreifung durch die Sowjets nicht eingestellt, sondern im Gegenteil bis zum Punkt der Forderung nach Enteignung der Bourgeoisie im Interesse der Arbeiterklasse weiter erhoben werden sollen.“ Das meint die vollständige Ausschaltung der Privatkapitalisten und die Reduzierung der höheren Einkommen der Intellektuellen. Von dieser Monatsschrift erschien nur eine Ausgabe. Während des Bürgerkrieges und der Zeit der Interventionen, als sich für eine lange Zeit alle militanten revolutionären Kräfte des Landes in einem Kampf auf Leben und Tod zwecks Verhinderung der Rückkehr der Großgrundbesitzer und Kapitalisten engagierten, und während der folgenden Jahre arbeitete Machajski, jetzt ein alter Mann, als technischer Herausgeber eines Wirtschaftsmagazins beim Obersten Wirtschaftsrat. In der weiteren Entwicklung der Sowjetrepublik mit ihren vielen politischen Kurswechseln in Richtung Staatskapitalismus sah er eine Bestätigung seiner frühen Vorhersagen. Machajski starb im Alter von sechzig Jahren 1926 in Moskau. Als kompromißlose und unbeugsame Persönlichkeit, geleitet von einer Vision, die denen seiner Zeitgenossen weit voraus war, lebt er in der Erinnerung seiner Freunde, Schüler und Bewunderer als einer der großen Pioniere des revolutionären Denkens. Seine Anhänger sind überzeugt, daß sein Name zu gegebener Zeit seinen verdienten Platz als einer der prophetischen Vorkämpfer der Emanzipation der Arbeiterklasse erhalten wird. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Pia Schmitt [1] Max Nomad, White Collars and Homy Hands, in: The Modem Quarterly, 3/Fall 1932 (Vol. VI), S. 68-76. Max Nomad (Max Nacht, 1881-1973), der zeitweise zu den Anhängern Machajskis gehörte, schildert seine diesbezüglichen Aktivitäten und Erfahrungen in seiner autobiographischen Schrift „Dreamers Dynamiters and Demagogues. Reminiscences“ (New York 1964), insbesondere in dem Kapitel „Underground and After“ (S. 103-150). Auch in anderen Büchern und Artikeln verweist Nomad immer wieder auf Machajski: Rebels and Renegades, New York 1932 (Neuauflage: Whitefish 2007), insbesondere S. 206-208; Apostles of Revolution, New York 1939 (revidierte Neuausgabe New York 1961); Aspects of Revolt, New York 1959 (Neuauflage: Whitefish 2007), insbesondere das Kapitel „The Saga of Waclaw Machajski“ (S. 96-117); Political Heretics. From Plato to Mao Tse-Tung, Ann Arbor 1963, insbesondere das Kapitel „The ,Workers' Conspiracy“' (S. 238-241); The Vicious Circle of a Champion of the „Know-Nots“, in: The Anarchist Tradition and Other Essays, Typoskript 1967, S. 24-32; Machajski, Waclaw, in: Edwin R.A. Seligman/Alvin Johnson (eds.), Encyclopedia of the Social Sciences, Volume Nine, New York 1933, S. 654-655. Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf den Nachlaß Max Nomads im „Intemationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis“ (IISG) in Amsterdam („Max Nacht Papers 1892-1973“), der Materialien von und zu Machajski enthält, sowie in der Tamiment Library in New York („Max Nomad Papers 1902-1967“). Zur Biographie Max Nomads s. die vor kurzem erschienene Arbeit von Werner Portmann: Die wilden Schafe. Max und Siegfried Nacht. Zwei radikale, jüdische Existenzen. Mit einem Vorwort von Siegbert Wolf, Münster 2008. [2] Das Zitat von Wilhelm Liebknecht konnte nicht nachgewiesen werden und wurde aus dem Amerikanischen rückübersetzt. [3] Friedrich Engels, Einleitung [zu Karl Marx' „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ (1895)], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Band 22, Berlin 1972, S. 509-527, hier S. 525 (AdÜ). [4] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies., Werke Band 4, Berlin 1972, S. 459-493, hier S. 493 und 481 (AdÜ). [5] „Maximalistische“ Tendenzen, die auf eine unmittelbare Revolution abzielen, existierten praktisch nicht mehr, seitdem die Schaffung demokratischer Institutionen in Westeuropa die große Masse von verzweifelten, deklassierten Intellektuellen einer früheren Zeit, die bereit waren, das existierende System mit Gewalt zu ändern, weitgehend eingebunden hatte. Eine erneute, von der späteren Entwicklung des Kapitalismus verursachte Überproduktion geistiger Arbeiter, verstärkt seit dem Großen Krieg, hat revolutionären Tendenzen zum Aufschwung verholfen, die auf die sofortige Einführung des Staatskapitalismus abzielen, basierend auf der Diktatur eines Teils der Intelligentsia. [6] Die beiden Begriffe sind praktisch austauschbar, wobei der einzige Unterschied darin besteht, daß der Staatssozialismus ein „Sozialismus“ ist, der das kapitalistische Charakteristikum der Ungleichheit der Einkommen beibehält, während Staatskapitalismus ein Kapitalismus ist, der das „sozialistische“ Charakteristikum des Staatsbesitzes übernommen hat. Beides sind in der sozialistischen Terminologie abschätzige Begriffe, und werden nur dann benutzt, wenn von althergebrachten Politikern oder Konkurrenten aus dem radikalen Lager Versuche einer Sozialisierung unternommen werden. Denn dies würde zur Folge haben, daß die Verwaltungstätigkeiten der Regierungsmaschinerie in den Händen der jeweils anderen Genossen bleiben oder in diese übergehen würden, seien es normale Bürger oder ein irrender Bruder von der rot angehauchten oder roten Gruppe. Sozialisten - gleich ob extrem moderat oder radikal - sind sehr menschlich und jedes Projekt einer Reorganisierung, in dem ihre besondere Gruppe keine führende Rolle spielt, wird von ihnen als schlecht oder als Staatskapitalismus verdammt. Folglich ist das Sowjetsystem des Staatsbesitzes und der ökonomischen Ungleichheit, das von seinen Verteidigern unter Verwendung eines alten, von Karl Marx verwendeten Begriffs als „erstes Stadium des Kommunismus“ bezeichnet wird, von seinen marxistischen Widersachern von rechts und von links wiederholt als Staatskapitalismus tituliert worden. [7] Dieser Begriff wird nicht in dem abschätzigen Sinn verwendet, den er aus verschiedenen Gründen in der Gegenwart angenommen hat.