H.W. Gerhard

Unsere Staatsauffassung

1931

Die Staatsauffassung des Anarchismus, die der Anarchosyndikalismus übernommen hat, wurde entwickelt in einer Zeit absolutistischer oder halbabsolutistischer Staaten. Proudhon, der 1809 geboren war, also das Regime der Restauration und des korrupten Bürgerkönigtums kannte, Bakunin und Kropotkin, die Rußland und Deutschland, Napoleon III. und das Österreich Metternichs und Schwarzenbergs vor Augen hatten, Malatesta, der gegen das usurpatorische Regime Victor Emanuels kämpfte, Johann Most, der am eigenen Leibe die Regierungsmethoden des damaligen Deutschland und Österreich kennenlernte, sie alle definierten den Staat als Vampir, als „kaltes Ungeheuer“, wie Nietzsche sagte.

Und tatsächlich läßt sich kein größerer Gegensatz denken als zwischen Staat und Gesellschaft in jener Zeit. Die Handwerker, Kaufleute, Industriellen, Bauern, Intellektuellen, Arbeiter, sie alle wollten nichts vom Polizeistaat wissen, der sie unterdrückte und aussaugte, ihnen verbot, eine Meinung zu äußern – kurz, sie als Leute „mit beschränktem Untertanenverstande“ behandelte, denen es nicht zukomme, die Regierung zu kritisieren.

Bekanntlich ist der Staat durch Eroberung entstanden; wenn er je davon das Kennzeichen trug, so war es damals. Jeder Beamte war ein Halbgott, er stand sozial weit über dem gewöhnlichen Volk und konnte sich erlauben, das Publikum anzuschnauzen, daß die Wände wackelten. Jeder Polizist war ein lokaler König. Seine Tätigkeit richtete sich weniger gegen das Verbrechertum — das war ja in jenen Biedermeierzeiten viel harmloser als heute, die Funktion des Polizisten war es, die Bürger zu überwachen, daß sie auch hübsch fromm, sittsam und staatstreu blieben. War ein Arbeiter zum Beispiel Sozialdemokrat, so hatte der Polizist im Auftrage der Behörden zum Arbeitgeber zu gehen, ihm das zu melden und seine Entlassung zu fordern. Die Polizei hatte auch in politischen oder Gewerkschaftsversammlungen am Vorstandstische zu sitzen und aufzupassen, daß keine Revolution gepredigt wurde. Die Polizei unterhielt in allen Ländern ein ausgedehntes politisches Spitzelwesen. Sie hatte durch Verordnungen, die bis ins kleinste gingen, dafür zu sorgen, daß das Leben am Schnürchen ablief. Von diesen Verordnungen der Monarchie wurden in den letzten Jahren zehntausende auf einen Schlag aufgehoben. Wer Gerhart Hauptmanns „Biberpelz“ gesehen oder Heinrich Manns „Untertan“ gelesen hat, kennt diese Atmosphäre.

Die höheren Beamten waren natürlich alle Adelige. Die Kluft zwischen ihnen und dem Volk war unüberbrückbar. Ebenso war es mit den Offizieren. Sie waren die herrschende Klasse, für sie, gegen das Volk, arbeitete der Staat.

Wir können also feststellen, daß dieser Staat für das allgemeine Wohl nichts leistete, nichts leisten wollte, daß er eine reine Unterdrückungs- und Ausbeutungsmaschine war und daß seine restlose Abschaffung und Vernichtung nicht nur möglich, sondern sogar sehr nützlich gewesen wäre. So ist es ja in Rußland 1917 geschehen. Der bolschewistische Staat entstand erst später aus den Sowjets und war etwas ganz Neues, wenn auch nichts Besseres.

Bei uns in Deutschland ist man einen anderen Weg gegangen. Man hat den Staat beibehalten, ihn jedoch „reformiert“. Das heißt, man hat ihm die schlimmsten Giftzähne ausgebrochen und ihm eine Anzahl von gesellschaftlichen Funktionen zugeschoben, die anderswo dem freien Ermessen der einzelnen oder kulturellen Organisationen oder Aktiengesellschaften überlassen sind.

Natürlich hat diese Entwicklung schon früher eingesetzt, sie ist nur nach der Revolution offener zum Durchbruch gelangt. Schon Jahrzehnte haben wir Staatseisenbahnen, während in England, Frankreich, Amerika private Gesellschaften die Bahnen betreiben. Die Post hat das Radio-Monopol – in Amerika kann jeder einen Sender eröffnen. Die Polizei, die regelt den Verkehr – das ist zwar besser und nützlicher, als wenn sie die Reden der Opposition in Versammlungen regelt, aber trotzdem geschieht auch hier des Guten zuviel. Der Staat versichert den Arbeiter zwangsweise gegen Krankheit, Invalidität, Alter, Unfall, Arbeitslosigkeit und nimmt ihm dafür erheblich höhere Beiträge ab, als eine Privatversicherung auf Gegenseitigkeit tun würde. Der Staat sorgt durch schreckliche Plakate für Unfallverhütung und erläßt Schutzgesetze, aber die Unfallziffer steigt. Der Staat läßt Findelkinder auflesen und erziehen, er unterstützt den Sport, zensiert das Kino, betreibt Fabriken, übernimmt Zinsgarantie für Privatunternehmen, mischt sich mit Zwangsmaßnahmen in den Kampf zwischen Arbeiter und Unternehmer. Er paßt auf, daß die Architekten die Häuser richtig bauen, daß die Elektriker die Leitungen richtig legen, daß die Nahrungsmittel nicht verfälscht werden. Wenn jemand Auto fahren will, muß er zur Polizei, will er einen Hund halten – zur Polizei, will er umziehen – zur Polizei, will er einen Betrieb eröffnen – zur Polizei, will er ins Ausland fahren – zur Polizei. Wenns der Landwirtschaft schlecht geht, hilft Vater Staat, macht eine größere Fabrik pleite, gibt Vater Staat eine Subvention, damit die Arbeiter nicht arbeitslos werden, wenn sich jemand mit einem Unternehmen verspekuliert hat, Vater Staat kauft den Kram auf (siehe Phoenix-Film, Ufa, Transradio usw.), wenn die Roggenpreise zu niedrig sind, Vater Staat bringt sie hoch, wenn andere Preise zu hoch sind, Vater Staat bringt sie runter (manche nur auf dem Papier).

Was heißt das? Der Staat hat sozial notwendige Funktionen übernommen, er ist in die Gesellschaft hineingewachsen. Es fällt mir natürlich keinen Augenblick ein, die Schwerfälligkeit, die Reglementiersucht, den Bürokratismus, das autoritäre Gebaren und die anderen Schäden, mit denen der Staat diese Funktionen versieht, zu bestreiten. Ich leugne auch keineswegs, daß der Staat neben diesen sozialen Funktionen noch seine alte Unterdrückerrolle weiterspielt, daß er dem Kapital willfährig ist. Aber ich will darauf aufmerksam machen, daß der Staat heute weitgehend Funktionen übernommen hat, deren Erfüllung notwendig ist, deren Nichterfüllung Desorganisation, Hunger zur Folge haben würde.

Wenn Saint-Simon die Behauptung aufstellen konnte, daß das Verschwinden der 50 ersten Fürsten, Beamten usw. keine Lücke reißen würde, während der Verlust der 50 ersten Ingenieure usw. unersetzlich wäre, so trifft das heute auf alle Staatsbeamten nicht mehr zu. Stellen wir uns vor, die Krankenkassen würden plötzlich zu arbeiten aufhören. Was wäre die Folge? Viele Arme und Arbeitslose würden keine ärztliche Hilfe mehr haben können. Später würde man vielleicht eine private, freiwillige Krankenversicherung neu organisieren können, aber zunächst wäre eine Lücke da.

Natürlich haben alle diese sozialen Funktionen des Staates nur unter dem Kapitalismus ihren Wert. In einem freien sozialistischen Gemeinwesen gibt es keine betrügerischen Bauunternehmer, keine Arbeitslosen, keine unhygienisch eingerichteten Betriebe mehr.

Ganz recht – aber gilt das auch vom „zweiten Tag der Revolution“? Können wir noch immer für diesen Zeitpunkt die restlose Abschaffung, Zertrümmerung und Vernichtung des Staates verlangen? Werden die Versicherungen sofort überflüssig sein? Wird es keine Streitigkeiten in den Betrieben geben? Müssen Eisenbahn, Post, Radio nicht weiter arbeiten? Natürlich werden diese Institutionen aus den Händen des Staates genommen, die jetzigen reaktionären Beamten werden verschwinden müssen, besonders die oberen. Diese ganzen Apparate werden entstaatlicht, kollegial organisiert werden. Das ist alles richtig. Aber die Funktionen selbst, die Organisationen und Ämter selbst werden zunächst bestehen bleiben müssen.

Die Vernichtung des Staates in Frankreich bei der Französischen Revolution oder in Rußland 1917 war relativ einfach: man schlug die Polizisten tot oder jagte sie fort, damit war schon 99 Prozent der Arbeit getan. Bei uns liegen die Dinge etwas schwieriger. Sicher werden wir auch alle bewaffneten Kräfte des Staates und der Reaktion beseitigen müssen, aber es gibt auch so und so viel Beamtenstellen, die sofort neu besetzt werden müssen, so und so viel Ämter, die irgendwie weiter arbeiten müssen, soll das gesellschaftliche Leben nicht in eine Verwirrung geraten, die sich für das Gelingen der Revolution nur schädlich auswirken kann. Wir brauchen ja nur einmal an das Telephon zu denken, das für die Verständigung der revolutionären Kräfte an verschiedenen Enden einer Stadt notwendig ist, aber nicht den bisherigen konterrevolutionären Beamten überlassen bleiben kann.

Die schlechte Erfassung dieses Problems durch den Anarchosyndikalismus ist meines Erachtens auch einer der Gründe, warum unsere absolut staatsfeindliche Bewegung in industriellen, fortgeschrittenen Ländern wie Frankreich, England, Deutschland so wenig Fortschritte macht. Der Arbeiter, der seine Unterstützung vom Staate bezieht, der Betriebsrat, der seine ungerechtfertigte Entlassung durch das Arbeitsgericht rückgängig macht, der Kranke, der umsonst im Krankenhaus aufgenommen wird, der Radiohörer, der Bezieher einer durch Staatskredite verbilligten Wohnung, der Großstadtpassant, der die mehr oder weniger geschickte Verkehrsregelung für notwendig hält, der Sportler, der ein Stadion gebaut bekommt, sie alle hören verständnislos den Spruch aus dem vorigen Jahrhundert: „Der Staat ist das kalte Ungeheuer“, „Der Staat ist eine reine Unterdrückungsmaschine, Vernichtung des Staates“ usw.

Können wir also dem gutgläubigen sozialdemokratischen Arbeiter gegenüber nicht mehr unseren anarchosyndikalistischen Standpunkt vertreten? Ich denke doch.

Wir können darauf hinweisen, daß sein Geld bei den Versicherungen für die Bezahlung einer großen Beamtenschar, zum Bau von schönen Verwaltungsgebäuden, aber nicht im nötigen Maße zum besten der Versicherten verwandt wird. Weitestgehende Kontrolle der Öffentlichkeit würde da Wandel schaffen können. Wir werden darauf hinweisen können, wie Eisenbahn und Post ungeheure bürokratische Verwaltungsmaschinen sind, wo höchstens die Hälfte der Beamten, und zwar die unteren, wirklich arbeiten, während die oberen nur zur Aufsicht da sind. Das Volk würde die Aufsicht viel besser besorgen – weg mit dem Bürokratenapparat.

Wir können auf den Unsinn der Arbeitslosigkeit hinweisen, wo sowohl Menschen wie Fabriken unbeschäftigt sind und doch Not herrscht. Wer garantiert das Weiterbestehen dieses Unsinns? Der Staat, indem er die Arbeiter nicht an die Maschinen läßt und ihnen ein paar Bettelpfennige als Unterstützung zahlt.

Das Radio ist ja ganz schön – aber was wird mit unseren zwei Mark Monatsbeitrag gemacht? Direktoren bekommen hohe Gehälter, Paläste werden erbaut, das Programm wird fromm, bürgerlich, uninteressant gestaltet. Wer ist schuld? Der Staat mit seiner Klassenherrschaft.

Die Unfallverhütung, die Gewerbeaufsicht, die Baupolizei – alles ganz schön, unter dem Kapitalismus besser als nichts. Aber wie kommt es, daß trotzdem so viele Unfälle vorkommen, daß die Unfallziffer steigt, daß besonders der Bergbau immer wieder Hunderte von Arbeitern tötet, daß die Gewerbeaufsicht einem Kampf gegen Windmühlenflügel gleicht? Wir wissen, das hängt mit dem kapitalistischen Profitinteresse zusammen, das durch denselben Staat beschützt wird.

Wir können weiter auf die zahlreichen üblen Folgen des staatlichen Schlichtungswesens hinweisen, auf die ungerechtfertigten Subventionen für Industrie und Landwirtschaft, auf die Zölle usw., alles Dinge, mit denen irgend jemandem, einer Klasse, einem Beruf geholfen werden soll. Aber natürlich auf Kosten anderer Klassen und unter der teuren, bürokratischen, schädlichen Vermittlung des Staates. Wir sehen es wieder an der Osthilfe: zuerst muß mal ein Amt mit seinen gutbezahlten Regierungsräten, mit seinen Unterabteilungen und Filialen geschaffen werden, nachher kanns losgehen.

Wenn früher der Staat als Unterdrücker bezeichnet wurde, dem man direkt entgegentreten mußte, so kann man ihn heute Betrüger nennen, der seine Ausbeuter- und Unterdrückerexistenz dadurch verschleiern will, daß er gewisse soziale Funktionen übernimmt. Konnte man früher von seiner Abschaffung schlechtweg sprechen, so muß man heute berücksichtigen, daß diese notwendigen Arbeiten auch weiterhin irgendwie erledigt werden müssen. Konnte es früher Anarchisten geben, die die Auflösung der Gesellschaft in kleine unabhängige Gruppen forderten, mit dem unbeschränkten Recht der Sezession, der Abtrennung, so müssen wir heute für die Übergangszeit eine freie, föderalistische Gesellschaftsorganisation ins Auge fassen, wie sie der Rätegedanke vorsieht. Konnte man früher einfach vom Staat sprechen, so müssen wir heute den Polizeistaat (faschistischen Staat) vom „sozialen“ Staat unterscheiden.

Natürlich erklären wir uns nicht für den letzteren, obwohl wir ihm den Vorzug vor dem faschistischen Staat geben, wir müssen ihn anders bekämpfen, das ist der springende Punkt. Unter dem Polizeistaat war die große Mehrheit der Bevölkerung oppositionell, die propagandistische Aufgabe des Revolutionärs war, die Menschen ihre Unzufriedenheit so lebhaft spüren zu lassen, daß sie auch revolutionär wurden. Hier war die Parole angebracht: „Der Staat – er falle“.

Heute ist die Mehrheit der Bevölkerung staatstreu, ja sogar weite Kreise der Arbeiterschaft sind es. Hier gilt es, ihnen zunächst einmal die offenen und versteckten Schäden des Staates zu zeigen. Das kann man aber nicht, indem man ein Bild des Staates malt, das nicht mehr zutrifft, sondern indem man die Dinge so darstellt, wie sie wirklich sind. Den revolutionär-marxistischen Arbeitern muß dabei gezeigt werden, daß ihr Staat sich genauso entwickeln würde, wäre er auch noch viel „sozialer“ gedacht. Das russische Beispiel zeigt es deutlich.

Für den, der diese Dinge objektiv würdigt, ist es klar, daß solche Gedankengänge keine Veränderung unserer prinzipiellen Staatsauffassung darstellen. Sie wollen nur darlegen, daß die Unterdrückungsmerkmale des Staates, die früher dem Durchschnittsmenschen offen zutage lagen, heute versteckter sind. Ich hoffe, daß bei der zu erwartenden Diskussion über diesen Punkt nicht etwa der Vorwurf des Reformismus, Opportunismus oder der Staatsbejahung erhoben wird. Auch möchte ich es den Genossen sparen, auf die Maiereignisse 1929, auf Polizeiwillkür gegen unsere und die kommunistische Bewegung hinzuweisen, um mir zu zeigen, daß der Staat doch ein offen unterdrückendes Instrument der Besitzenden ist. Das weiß ich. Aber er ist es nur gegenüber Oppositionellen, also Kommunisten, Anarchosyndikalisten, Antimilitaristen, auch Nationalsozialisten teilweise. Diejenigen, die gerade wegen der sozialen Einrichtungen den Staat anerkennen, spüren keine Unterdrückung, sie werden auf unsere Vorhaltungen in diesem Punkte antworten: „Gegen gewalttätige Revolutionäre muß sich unser Volksstaat schützen“ usw. Hier hören die Propaganda- und Verständigungsmöglichkeiten des Anarchisten oder Syndikalisten alter Schule einfach auf. Der eine sagt: „Der Staat, das kalte Ungeheuer“, der andere: „Unser freier Volksstaat“. Erst wenn wir die sozialen Funktionen dieses „Volksstaates“ zerpflücken, entlarven, wie ich es oben auseinandergesetzt habe, dann können wir das Verständnis des staatstreuen Arbeiters wieder gewinnen.


Aus: Die Internationale. Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau, Jahrg. IV/Heft 6, Berlin 1931, S. 128–131