Darko Matthers

Anarchie: zivil oder subversiv

Einleitung...

30. November 2013

Im Frühling 2012 publizierte ich ein ein Pamphlet mit dem Titel „August 2011 Revolt: Anarchy in the UK“ über die jüngsten Krawalle.

In diesem Pamphlet schrieb ich über die fundamentale Kluft zwischen jenen, die wussten, dass der Moment unserer war und jenen, die ihn gruselig und schrecklich fanden oder zumindest problematisch. Ich schrieb darüber, dass ich meine nicht-poltischen Freunde aufbegehren und randalieren sah : All unser Hin und Her über „Anarchismus“ schien bedeutungslos, da ich weiß, dass meine Freunde die wirkliche Anarchie viel mehr lieben, als viele der politischen „Anarchisten“, die ich getroffen habe und die nicht den Anschein machen, als ob sie auch nur einen Tropfen des Geistes der Revolte und der Anarchie in sich haben. Für mich zeigte sich hier die gezähmte Belanglosigkeit der Aktivisten und ihres Politzirkusses. Es passierte wirklich, war menschlich und nicht durch Repräsentation und Politik verkrüppelt „

Ich fuhr fort: „Tatsächlich brachte der Augustaufstand zum Vorschein, dass die Mehrheit der britischen „Anarchisten“ und „Revolutionäre“ feige Staatsbürger sind, die, auch wenn sie gerne jammern und sich über die „Übel“ der Welt beklagen, im Grunde als passive Sklaven zufrieden sind. Momentan scheinen die meisten der britischen „Anarchisten“ einfach bitterfroh zu sein, hinter den Staatssozialisten und Liberalen herzulaufen, als das impotente „gute Gewissen“ und/oder als schwarzgekleidete und Kraftausdrücke benutzende Krawallmacher am Rand. Das ist erbärmlich. Sie sprechen die Sprache der Politik, davon, ein vernünftiges und programmatisches anarchistisches Projekt aufzubauen, und das Ergebnis ist ein Anarchismus, der weder Fisch noch Fleisch ist. Sowohl als politische Pragmatiker wie als anarchistische Aufrührer scheiternd, hinkt der zivile Anarchismus traurig hinterher.

Seit damals haben andere Anarcho-Insurrektionalisten im UK den Müll weiter kritisiert, den wir als „zivilen Anarchismus“ benannt haben, der wie gute (Staats-)Bürger spricht und den Weg des Gehorsams gegenüber dem Staat und den reaktionären Sitten der Gesellschaft geht.

Der Liberalismus und die Schwäche der außerparlamentarischen antikapitalistischen/antistaatlichen sozialen Bewegungen und politischen Tendenzen im UK und die der Individuen, die dieses Spektrum ausmachen, kann nicht untersucht werden, ohne sich hier den sozialen/Klassenkontext anzusehen. Während die aufständische Strömung im UK niemals verschwand, ist es klar, dass nach der bewaffneten und verschwörerischen Erhebung der „Ludditen“ im frühen 19ten Jahrhundert gegen die Industrialisierung, der Antagonismus der Ausgebeuteten durch eine Kombination aus staatlichem Terrorismus und rekuperativem Einfluss der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie gebändigt wurde.[1]

Die Legalisierung der Gewerkschaften, parallel zur Ausdehnung des Wahlrechts und der Inklusion der Arbeiterklasse in die Demokratie durch die Labour Party war ein wichtiger Faktor in der Domestizierung des Proletariats, das einst die Reichen und die Mittelklassegesellschaft terrorisiert hatte. Die Tatsache, dass der Umbruch von einem ländlichem Feudalismus und einem primitiveren Merkantilismus zum industriellen Kapitalismus ohne eine blutige Revolution, so wie in Frankreich, eingeführt wurde, bedeutet, dass die herrschende Klasse des UK und das Staatssystem eine Kontinuität und Stabilität haben, wie nur in wenigen anderen Teilen der Welt. Der ekelhafte klassenübergreifende Gesellschaftsvertrag, basierend auf dem Schutt eines imperialistischen Empire, vergiftet die Köpfe und Geister der Menschen im UK. Die widerlichen Herdeninstinkte des Gehorsams gegenüber dem Gesetz, Angst vor den „Antisozialen“ und den Unbeliebten, Hass auf die „Anderen“, institutionelle Mediation und sozialer Dialog zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern sind tief verwurzelt in großen Teilen der Bevölkerung durch das demokratische/sozialdemokratische System und die Allmacht des Gesetzes, seiner Bullen, Gerichte und Gefängnisse. Wir finden uns jetzt in einer trostlosen und desolaten Landschaft des gesetzestreuen Citoyennismus, Geist verarmenden demokratischen Protesten, populistischer Demagogie, die die kleinen Egos der ausverkauften Massen beruhigt und feigem sozialen Kannibalismus.

Soviel zur alten Arbeiterklasse – jedoch sucht ein Alptraum den sozialen Frieden des Kapitals heim: die Unterklasse, ausgeschlossen von der Produktion, respektlos gegenüber dem Gesetz und hungrig nach dem unmöglichen Traum eines modernen konsumistischen Lebensstils. Die ghettoisierten Ausgeschlossenen sind eine große Minorität der Bevölkerung, mehrheitlich ohne Beteiligung an institutioneller Mediation oder einer Stimme in der demokratischen Arena, sind sie „der Feind im Inneren“, den der Staat fürchtet, während er ihn als Sündenbock gebraucht (Immigranten, Arbeitslose, Gesetzesbrecher, Drogenuser, etc.). Wie Alfredo Bonanno prognostizierte (Vom Krawall zum Aufstand, 1988), haben die Ausgeschlossenen die gemeinsame Sprache mit den Teilhabenden,die die Basis des alten Reformismus und des Gesellschaftsvertrags geformt hat, verloren.[2]

Das Fehlen von großer politischer Gewalt und revolutionärem Kampf und sporadischen und unorganisierten Aufständen (in Zeit und im Bewusstsein) bedeutet, dass während das UK eine sehr starke demokratisch soziale klassenübergreifende Tradition hat, es an einer konfliktreichen Tradition wie in anderen europäischen Ländern fehlt. Das ist die politische Landschaft des UK, in der die anarchistische-radikale Linke sicher situiert ist.

Das „zivil anarchistische“ Phänomen ist nicht auf die wokerist[3]-Szene von Internetforen und Pubzusammenkünften beschränkt, sondern inkludiert ebenfalls das schwammige Camp der Ökoaktivisten. Diese zwei Pole der offiziellen Bewegung sind auf der einen Seite um die formelle anarchistische Föderation (AFed-IFA), die Solidarity Federation (SolFed-IWA) und das Netzkollektiv Libcom verortet; auf der anderen Seite um Earth First!, respektive mit lokalen Gruppen und Szenen, die sich zwischen diesen nationalen Tendenzen bewegen.

Die Workerists sind nicht mehr als ein Anhängsel der Linksradikalen, ziemlich unsichtbar für eine weitere Bevölkerung, funktionell dienen sie dazu junge Leute (hauptsächlich von Punkrock und linker Politik), die an einer anti-staatlichen revolutionären Perspektive interessiert sind, in die Sackgasse des theoretischen Dogmatismus und den Lebensstil eines “normalen Arbeiters” (Pub, TV, Bier) zu ziehen, während sie die grobe “Arbeiterklassenorganisierung“ machen; vom Verteilen langweiliger Bulletins mit Information über Gewerkschaftsaktionen des öffentlichen Sektors und ökonomischen Statistiken, vielleicht gemeinsam mit zur Mieterversammlung gehen oder Gewerkschaftsvertreter werden oder ähnliches. Diese letzteren Aktionen mögen wertvolle Aktivitäten für Revolutionäre sein, wären sie Teil einer revolutionären Projektualität, basierend darauf wirklichen autonomen Widerstand zu schaffen, aber die Führung des linken Anarchismus des UK (ja, natürlich gibt es Führung von alten langweiligen Kerlen), die vorsichtig alle gefährlichen Elemente der anarcho-kommunistischen Praxis entfernt haben und es einfach genießen weiterhin in ihrem “Dungeons and Dragons”[4]-Stil Revolutionäre zu spielen. Folglich ihr Hass auf die ausgestorbene Tendenz Class War, welche - trotz ihrer Fehler – tatsächlich in Richtung eines revolutionären Konflikts orientiert war. Folglich die Tatsache, dass die zivil anarchistischen Anführer ihr bestes taten, dass keine der sozial aufständischen Theorien und Praktiken, die sich speziell in Spanien, Griechenland [und Italien A.Ü.] entwickelten, jemals die Ohren ihrer Mitglieder erreichten – die, wie die meisten englischen Leute, einen engen Insel-basierenden Blick haben und nur schlecht oder gar keine (wie ich persönlich) Fremdsprache beherrschen. Fälle wie der libertärkommunistische Genosse, der für die Polizei Crowd-Control erforscht und von den UK Anarcho-Workerists verteidigt wurde[5], bestätigen das Bild. Oder die “anarcho-kommunistische revolutionäre Organisation”, die an der Seite ihrer Schwesterngruppe in Osteuropa mit Nazis gegen einen Antifaschisten stand[6]. Oder die “Denunzierung” von revolutionären Attacken auf die Top Steuereintreiber, Bankiers und hohen Tiere der Nuklear-Industrie.[7]

Die Ökoaktivisten auf der anderen Seite, sind ein anderes Paar Schuhe, hervorgegangen aus der Anti-Roadsbewegung der 1990er und der Squatkultur. Sie sind zahlreicher und genießen größere soziale Unterstützung, spielen eine wichtigere Rolle in der britischen Politik durch meist wiederholende spektakuläre politische Stunts, die die Sprache und Symbolik des zivil-demokratischen Dissens nutzen, füttern sie das Bild der Debatte und der Partizipation. Dahinter [dem Dissens A.Ü.] versteckt der moderne Totalitarismus seine hässliche faschistische Fratze um seine Legitimität zu bewahren.

Tatsächlich ist die Essenz dessen, was ich als “zivilen Anarchismus” verstehe, was wir horizontalen Citoyennismus nennen könnten, der die Sprache der Demokratie spricht (Rechte, Gesetze, soziale Inklusion, Konsens, Protest). Die Zivilgesellschaft sind die NGOs der Demokratie und ein Schlüsselstück des Spektakels der Volkssouveränität. Abseits von der Erhaltung des demokratischen Bildes des Dialogs und erlaubten Dissens, ist die Zivilgesellschaft auch ein rekuperativer Mediator und nimmt mühelos Dienste für den Staat und die Wirtschaft auf, zügelt ein paar ihrer Exzesse, um ein Funktionieren des Systems zu erlauben. Viele anarchistische (oder eher libertäre) Aktivisten arbeiten für NGOs, Gewerkschaften und die parasitären Höhlen der Akademie. Dort gibt es eine direkte Feedbackschleife durch die Akademie, die Aktivisten und die soziale Bürokratie über die bizarren Sprachcodes und die Identitätspolitik der political correctness.

Schön, hier ist also ein bisschen Theorie oder ein paar Beobachtungen. Die Rekuperateure der Anarchie herauszufordern ist ein Vergnügen. Scheiß auf sie und ihr dummes Spiel.

Gefolgt von “Subversive Disassociation”, der unsere Kritik in groben Zügen skizziert, geht diese kleine Sammlung individual-anarchistischer Essays gegen den “zivilen Anarchismus” und für die totale Befreiung weiter mit drei Texten, publiziert 2011 in der 325 #9. Da gibt es eine anarcho-nihilistische Kritik des spektakulären und konformistischen “Anarchismus” und ihrem moralischen Elitismus, der sich durch ihre Reaktion auf die Krawalle, die das Land gerüttelt haben, demonstriert hat, gemeinsam mit mehr in die Tiefe gehenden Notizen über die antikapitalistische Bewegung im UK. Danach kommen ein paar Texte („Scandalous Thoughts“, „Violence“) über die Denunzierungen und den politischen Bullshit, der vom zivilen Anarchismus 2012 dem Knieschuss eines Nuklear-CEO folgte, durch die antizivilisatorische anarchistische Gruppe Olga Nucleus/FAI-IRF. Andere Essays breiten ein paar individualistische rebellische Gefühle, Gedanken, Positionen aus. Manche wurden zuvor publiziert in Dark Nights, 325 #10 („Disreputable Mavericks“, „Illegality“) und Wolfi Landstreichers My Own[8] („Into the Abyss – Chaos“, „Fragment: The She-Wolf“). Andere sind brandneu. Themen, die untersucht werden sind, sich selbst treu bleiben anstatt der Herde zu folgen (sogar Freunden), mit Gewissheiten des Lebens brechen und aufbegehren gegen das System.

Am 30. Oktober, 2013, wurden die anarchistischen Kameraden Alfredo Cospito und Nicola Gai vor das Gericht in Genua gebracht, wo sie Stellungnahmen verlesen haben, in denen sie die politische Verantwortung übernommen haben für die Schüsse auf den Ansaldo Nucleare CEO. Wir inkludieren diese Stellungnahmen im Anhang dieser Broschüre (Seite 57) um die Willensstärke und Courage dieser zwei Kameraden zu zeigen. Ihre Worte stehen als Beispiel anarchistischer Bestimmtheit und Kohärenz im Vergleich mit der befriedeten Scheinheiligkeit der Mehrheitsgesellschaft und seiner zahmen und zivilen Loyalopposition.


Lang lebe die Anarchie!!!


- Darko Matthers, DMP

[1] Siehe “Outside and against the Trade Unions” von Wildcat (Treason Press) und “Die Industrielle Domestizierung” von Leopold Roc.

[2] „Dadurch z.B., dass der Nutzen des schriftlichen Wortes maßgeblich verringert wird, dass Bücher und Zeitungen durch Bilder, Farbe und Musik ersetzt werden, könnten die Machtstrukturen von morgen eine Sprache erschaffen, die ausschließlich für die Ausgeschlossenen existiert.
Sie wiederum können andere, sogar kreative, Mittel der sprachlichen Reproduktion schaffen, aber immer mit dem eigenen Code, der von jeglichem Kontakt mit dem Code der Teilhabenden abgeschnitten ist. Vom Nichtverstehen zur Gleichgültigkeit und geistiger Abkapselung ist es nur ein kleiner Schritt.
Der Reformismus ist zum Tode verdammt. Forderungen zu stellen, wird nicht länger möglich sein, denn niemand wird wissen, was er/sie von einer Welt einfordern soll, die für uns von keinem Belang mehr ist und die uns nichts verständliches mehr vermitteln kann.“ Vom Krawall zum Aufstand. Alfredo Bonanno

[3] A.d.Ü.: Ich verwende hier „Workerist“ wie im Original, aus Mangel einer treffenden Übersetzung.

[4] A.d.Ü.: “Dungeons and Dragons” ist ein Pen-and-Paper Rollenspiel.

[5] Für mehr Infos über den sogenannten „Aufhebengate“ und die Libcops checkt: dialectical-delinquents.com

[6] Siehe das Statement der “Anarchist Solidarity” (anarchistsolidarity.wordpress.com) über die feige Antwort der UK AFed: ihre bulgarische Schwestergruppe, auf-dem-Papier-Organisation “Die Internationale anarchistische Föderationen”, die kumpelhaft mit Neo-Nazis ist und den anarchistischen Gefährten Jock Palfreeman, eingesperrt von diesem Land weil er einen ihrer Kumpel gemessert hat, verachtet. Wenn du einen guten Magen hast, wirf einen Blick auf die Reaktion der hohen Tiere der AFed UK zur “Anarchist Solidarity”-Stellungnahme (libcom.org/forums/anarchist-federation/maybe-af-shouldreply-27062011 [A.d.Ü.: leider scheint der Link defekt]) unehrliche Gesichts wahrende Doppelzüngigkeit gleich jedem bezahlten Politiker.

[7] Siehe AFed-Stellungnahme [libcom.org/library/anarchist-federationstatement- kneecapping-nuclear-executive-informal-anarchistfederation]. Vergleiche dies mit dem FAI-IRF Kommuniqué für die Schüsse auf den Nuklear-CEO – auf Englisch (325.nostate.net/?p=5278) oder die Stellungnahme zur Verantwortung der Gefährten Alfredo Cospito und Nicola Gai nach dem sie nach ihrer Aktion geschnappt wurden [diese Stellungnahme wurde von ihnen erst bei Gerichtsprozess, nachdem sie bereits ein Jahr inhaftiert waren, verlesen, A.Ü.] (siehe Anhang, Seite 57).

[8] A.d.B.: My Own: Ein anarchistisches, individualistisches, egoistisches Blättchen, das es leider nicht online gibt, kann unter littleblackcart.com bezogen werden.


Einleitung zur Textsammlung "Anarchy - civil or subversiv" herausgegben von Dark Matter publications und 325 associates. Deutsche Übersetzung veröffentlich auf linksunten.indymedia.org.